Andreas Okopenko: Grüner November

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Andreas Okopenko: Grüner November

Okopenko-Grüner November

AVANTGARDE

Carl Friedemann entfesselt eine literarische
aaaaaRevolution
von ganz ungeahntem Ausmaß.
Er schreibt:
Die Nymphen werden vom grünen Schilf geküßt.
– Bisher hingegen war es üblich, die Nymphen
vom silbernen Mondschein küssen zu lassen.
Also entfesselt Carl Friedemann eine literarische Revolution
von ganz ungeahntem Ausmaß.

Carl Friedemann gibt Abende in geschlossenem Kreis.
Der geschlossene Kreis ist meist ein Mädchen,
ein ovales.
Der geschlossene Kreis läßt sich
Gedichte vorlesen, dichtet selbst und verbringt die Abende
im übrigen literarisch.

Es besteht kein Zweifel,
Daß Carl Friedemann eine Revolution entfesselt hat,
ein ungeahnte.
Die Bürger freilich
werden das noch längere Zeit nicht wahrhaben wollen.
Aber so ist es schließlich allem Neuen gegangen,
das heute die Erde beherrscht
bis an die
niedlichen Sterne.

 

 

 

demokrat der sensibilität

– andreas okopenko: grüner november – gelesen 2004. –

Als leidenschaftlichen Verfechter der psychodiffizilen Gleichwertigkeit aller Menschen – Demokrat der Sensibilität – schreckte mich die Zumutung, daß vielleicht gar manche Menschen das Fluidum nicht kennen.

latrinengesänge, akazienfresser; lexikon-roman waren ende der 60er, anfang der 70er jahre meine ersten begegnungen mit okopenkos literatur. sie etablierten sich in mir sogleich als eine fortdauernde oszillation: zwischen begeisterung und irritation, unmittelbarer zustimmung in der sprachlust und einer dichten ahnung, dass ich in meiner rezeptionsbewegung nicht-zu-verstehendes, mir uneinfühlbar bleibendes erfahre. ich konnte eine rhythmisierung meiner rezeption beobachten, beobachte sie in meiner erinnerung, dass ich verstand, wenn ich mich vom text verstanden fühlte, und aus der lektüre geworfen, wenn ich immer wieder vom text nicht verstanden wurde, den text nicht verstand – und nicht verstehen wollte oder konnte, was mich so intensiv nicht verstand, dass mein nicht-verstehen die qualität einer evokation annahm. eingesogen und rausgeschubst und wieder eingesogen ad inf. las ich mich durch, liess ich durch, was mir einging.
spätestens im lexikon-roman tauchte auf, was okopenko f-erlebnisse, f-phänomene nennt, beschreibungen, erläuterungen, umkreisungen jenes fluidums, dessen mitteilung und in gewissem sinn die unmöglichkeit seiner mitteilung wohl der motor seines poetischen und diskursiven schreibens seit den 40er jahren des zwanzigsten jahrhunderts ist.

… das Fluidum ist eines meiner wichtigsten Anliegen in der Dichtung und einer meiner Akkumulatoren im Leben.

etwa 1974/75 kam ich mit okopenko-gedichten aus den 50er jahren in kontakt. elfriede gerstl erzählte mir, wie stark diese frühen gedichte auf sie gewirkt hatten und wie gut sie die erste buchveröffentlichung Grüner November fand. dazu auch, dass darin viel vom denken und fühlen junger menschen zu finden war, deren pubertät sowie künstlerisches und intellektuelles erwachen in der unmittelbaren nachkriegszeit nach der alliierten befreiung vom terror der nationalsozialisten und ihrer mitläufer sich vollzogen hatte. was mich an seiner späteren prosa faszinierte, konnte ich auch in vielen dieser gedichte wiederfinden: begeisterung, momente einer völligen seinsergriffenheit, genaue beobachtung von tages- und nachtstimmungen, die essenz der jahreszeiten, ihre geräusche und gerüche, dazu ein ganz und gar nicht machohaftes erotisches verlangen nach verschmelzung auf allen körperlichen und geistigen ebenen mit ebenso realen wie idealen, idealisierten gefährtinnen, verbunden mit einem wachen politischen bewusstsein, das mit den mitteln von satire und ironie sumperei, mitläufertum und unbelehrbarkeit, die sich im offiziellen und offiziösen geistesleben der neuen, der zweiten republik wieder alles versteinernd durchzusetzen begannen, scharf anklagte. nicht fand ich in diesen frühen gedichten die bizarren, surrealen angst-momente späterer parodien und satiren, die diminuierenden ver-schreibungen und verschiebungen traumatisierender erfahrungen, die phobien bannenden kalauer auf höchstem scherz- und schmerzniveau. da mir um 1971 herum die heftig bürgerschreckenden horror- und terror-zeichnungen beispielsweise eines roland topor höchstes entlastungsvergnügen bereiteten, waren mir auch die satiren okopenkos auf menschliche kriegs-, schmerz- und unterdrückungslust, aus denen die niederschmetternde lächerlichkeit der folter- und selbstfolterknechte hervorging, gut verständlich.
dass die erste sammlung seiner lyrik okopenko nicht sofort und sprachraumweit berühmt machte, ihm denselben platz im bücherfundus seiner generation einräumte wie es mit den dichtungen ingeborg bachmanns oder ilse aichingers geschehen war, verwunderte freunde und fachleute – auch gerstl – noch in den 70er jahren.
erst in den 80er jahren las ich in einem zug Grüner November, 1957 erschienen. der band findet sich später in Gesammelte Lyrik, den der Jugend und Volk-Verlag gleich wieder zu verramschen drohte, hätte nicht heimrad bäcker die restlauflage aufgekauft und in seiner edition neue texte verfügbar gehalten. mittlerweile ist die edition neue texte bestandteil der backlist des literaturverlags droschl – und dort noch immer erhältlich. „Ich hab mir diese Zeit nicht ausgesucht“ beginnt das letzte gedicht des bandes mit dem titel „Kassandra“, aus der abteilung „Erinnerung an drei Frauen“ und endet:

Und ich, die Endlose, muß mich an endlose politische Verzweiflung
vergeuden

selbst ein kurzer blick in die weltnachrichten 2004 zeigt die aktualität dieser klage: kriege, die kaum zu beenden sind, terroranschläge, armut, hoffnungslosigkeit, sich ausbreitender fundamentalismus politischer und religöser art, alles eingebettet in die ebenso neoliberalen wie neokonservativen globalisierungswellen, gefangen in den vitiosen zirkeln der akkumulation, wenn eigentum zwar verpflichtet, aber ausschliesslich zur vermehrung des eigentums, also zum ausschluss der sogenannten habenichtse von der teilhabe an den ressourcen der welt.

Glaubt ihr, ich würde nicht gern mit den anderen spielen,
mit den Gefährtinnen laufen,
nach Gefährten unsicher auswittern
und mir einen für frohe Tage und für endlose Nächte
nach Hause nehmen?
Glaubt ihr nicht an die endlosen Nächte, ihr Endlichen?

was hier negativ formuliert sich findet, die weigerung das ersehnte glück zu suchen aus einsicht in die notwendigkeit politischer, zeitkritischer haltung, ist verschmolzen mit der allgemeinen erfahrung einer „zeitgefangenschaft“ in der endlosen gegenwart eines warnend politischen bewusstseins, das zur wahrnehmung seiner wirkungslosigkeit verdammt ist.
in der parenthese der zeilen eins und acht/neun steht ein hauptmotiv okopenkos formuliert: die suche nach idealen gefährten, diesmal in der weiblichen rollenrede Kassandras ein männlicher gefährte, nach dem in gemeinschaft mit freundinnen ausschau gehalten wird. in den gedichten okopenkos ist es im allgemeinen umgekehrt. erwartungen nach der realen begegnung mit der idealen gefährtin, das glück des findens sowie die wahrnehmung von differenzen zum vollkommenen durchziehen sie als wunschformeln. die gemeinschaft mit freunden und freundinnen, die in intensiven momenten zur produktiv anfeuernden diskussions-gruppe wird, findet sich darin ebenso, wie das aufscheint, worüber genaue mitteilung sich und vor allem den freundinnen und freunden, den leserinnen und lesern zu machen, okopenko seit anfang der 50er jahre bemüht ist: im text und als text fluidisches und fluidum spürbar und erfahrbar werden zu lassen, konkret werden zu lassen. befürchtungen des scheiterns im mitteilen und die dauernde zurückweisung des verdachts einer gewissen nicht-mitteilbarkeit treiben die theoretischen arbeiten okopenkos an, aus den beiden grossen sammlungsaufsätzen zum fluidum wie zum konkretionismus werde ich im folgenden zitieren.
zuerst noch eine bemerkung zum zeitbegriff eines augenblicks, der insofern endlos ist, als er das ganze des seins glückhaft enthält. in den beiden schlusszeilen des gedichtbands Grüner November verkehrt sich dieses bild ins negative, die politische verzweiflung bleibt im endlosen augenblick endlos, als negation der sterblichen ist die mythologische figur (rede-figur) auch eine negation des glücks. da sie nicht vergessen kann, kann sie auch nicht das glück des erinnerns erleben, des wiederhervorrufens, der evokation.
eine der schönsten definitionen des glücklichen, des geglückten augenblicks findet sich in andreas gryphius’ „betrachtung der zeit“, ein gedicht, das auch in nicht-religiöser lesart zeigt, was der fall ist.

BETRACHTUNG DER ZEIT

mein sind die jahre nicht,
die mir die zeit genommen;
mein sind die jahre nicht,
die etwa möchten kommen;

der augenblick ist mein,
und nehm ich den in acht
so ist der mein,

der jahr und ewigkeit gemacht.

ganz ohne metaphysisches wollen und mit dem naturwissenschaftlichen impetus eines gelernten chemikers, der in den 50er jahren an der universität wien auch die vorlesungen des experimentalpsychologen hubert rohracher hörte, schreibt okopenko parallel zu den dichtungen an seinem fluidium-diskurs. auszug aus dem aufsatz von 1960, „Aufgefordert, ein Gedicht zu erläutern“:

Fluidum ist ein Gefühl mit existentieller Resonanz, oder vor unendlichem Horizont, grundsätzlich immer möglich, auch nachholbar zu gegebenem engem Gefühl. […] In Gegenwart und Erinnerung spüren wir Lebensfreude und Einverständnis mit der Welt, wir fühlen, wie wir leben und in all das hineingehören, und nehmen alles, was wir sehen, wichtig. Das Fluidum läßt uns das Wesen der Welt ahnen, ihr Allgemeines und ihre stetige Besonderung. Sein, Werden, Werte, es läßt uns alles Besondere und alles Mögliche lieben. Es mahnt uns aber auch zum wesentlichen Leben und alarmiert uns, wenn wir daran sind, uns zu verdämmern und zu vergeuden. Es mahnt uns zur Übereinstimmung mit den Werten und zur Einfügung des überwuchernden Ich. Je nach unserer Beziehung zur Existenz kommt es daher, daß wir im Fluidum glücklich sind oder leiden, friedvoll oder unruhig werden.

im weiteren nennt okopenko einflüsse und einflussgrenzen als beispiele, vermutet ähnlichkeiten im erleben und ähnlichkeiten in den problemen, dieses erleben mitzuteilen, verweist auf unterschiede, meist literatur, aber auch maler: hölderlin, heine, liliencron, gottfried benn, georg trakl, ezra pound, t.s. eliot, james joyce, r.m. rilke, walt whitman, j.p. sartre, marcel proust, van gogh, cezanne, marc, macke, chagall, surrealistisches und die satori-erlebnisse des buddhismus, haikus, er erwähnt sigmund freud und ernest bornemann, hermann hakel und rohracher, webt ihre zitate in den andauernden prozess der fluidum-beschreibungen.
den beharrlichen wechselschritt von abgrenzen und eingrenzen, von öffnen und schliessen, hereinnehmen und zurückweisen, verengen und erweitern in sich aufnehmend, öffnet sich dem leser ein bild vom fluidum als moment fliessender grenzen, von im fluss befindlichen überlappungs-figuren und zuständen vielfältigster überlagerung. eine grenze, zum zen-buddhismus, benennt okopenko besonders deutlich:

So nahe ich mich im Fluidum-Erleben dieser fernöstlichen Weltschau fühle, so deutlich werden die Unterschiede. Im Fluidum-Erleben gehe ich – wie etwa Walt Whitman in seinen Gedichten – bis zur Entgrenzung des Subjekts, dieses tragischen Trägers des „Stets nur gegenüber“ (Rilke); bis zur Einmündung des Subjekts in die Objektwelt: zum Inmitten, zur Aufhebung des Gegensatzes; jede denkbare Kleinigkeit ist, wie für den Zen-Dichter mit seinem pars-pro-toto-Prinzip, eine Tür zum Eingehen, Einschmelzen in die Welt. Aber: der Buddhist läßt die Welt dann auch noch los; für ihn gibt es eine noch bessere Einbettung. Die ist mir nicht erlebbar.

eingebunden bleiben, nicht den kontakt verlieren, keine leere, nichts bodenloses: hier blitzen die starken ängste auf, die den glückserlebnissen des restlosen inmitten-seins gegenüberstehen, – eine unüberwindliche einfühlungs- und wahrnehmungsgrenze, innerhalb dieser ich und identität sicher gerettet bleiben.
doch in den verstörenden erfahrungen des bedrohtseins, die in allen texten okopenkos immer auftauchen, meist in parodistischer, ironisch gebrochener form, mit grosser entschlossenheit in witz eingeformelt, esprit-gebannt, erhält der leser zugang zu den fluidum-erlebnissen der ängste. auch in Traumberichte, einem wenig bekannten buch aus einem nicht mehr existierenden verlag, finden sich viele sprachwitz-mächtige verarbeitungen von phobien. als fliessgrenze interessant sind dabei die schreibträume okopenkos, in denen sich text- und bewusstseinszustände überlagern, wenn in intensiver gleichzeitigkeit von selbstbeobachtung, schreibvorsatz und texterfindung im traum das protokollierende schreiben des geträumten vorerzählt wird.
in ähnlicher verschränkung von kontrolliert/unkontrolliert als erlebnis wie als erinnerungs- und schreibhandlung schildert okopenko das auftauchen und abrufen-können von fluidum-erlebnissen.

Fluiden sind regenerabel, selbst nachdem sie einige Zeit stillgelegt worden sind, was durch Bereden, Bedenken, selbst durch anhaltendes Erfühlen geschehen kann. […] Wenn man einen Ort fluidisch erlebt, gewinnt der Ort längere Zeit dadurch besonderen Reiz. Man sucht ihn deshalb immer wieder auf, frißt ihn dabei aber kahl; es häufen sich an ihm Erlebnisse der Langeweile. Der Ort verliert seinen Reiz. Aber dann überfällt einen einmal das Fluidum des Urerlebnisses. Man erkennt, daß erster Reiz und spätere Reizlosigkeiten einander nicht aufheben, vielmehr nebeneinander „verewigt“ sind.
[…]
Um 1950, zu Zeiten höchster Fluidumintensitäten (im Wettlauf damit: fleißigsten Fluidumlyrisierens) befielen mich die Fluiden schicksalhaft unschaltbar. Um 1957, zu Zeiten eines jahrelangen Prozesses, den ich mir machte, wurden die Fluiden, die ich lange als rettendes Element strapazierte, bis zum Extrem meiner völligen Unbeeindruckbarkeit und der völligen Abstraktion aller Fluiden zu skeletthaften Röntgenogrammen, blockiert. Um 1973, in einer sonst tristen Zeit, hatte ich aber die Fluiden in nie gekannter Leichtigkeit „auf Abruf“ zukopf. Nicht nur Punkte (Augenblicke), sondern ganze Strecken gegenwärtigen Lebens konnte ich fluidisch erleben (die Gegenwart kann bei totaler Übung kontinuierlich fluidisiert werden; mir gelang eine ganze etwa dreißigminütige Straßenbahnfahrt, trotz vergröbernden Störungen durch die unvermeidlichen Menschen, und manches ähnlich Lange; die Vergangenheit – in der Erinnerung – hingegen kann dies anscheinend nicht).

in der gegenwart des erlebens hat das fluidum eine zeitliche ausdehnung, erinnert wird es punktuell, ein blitz, der autor und im günstigen fall den leser trifft – im augenblick der lektüre.
hat es den leser getroffen, hat es im leser gezündet, dann ist ihm der text zum eigenen fluidum-erlebnis geworden, das über die grenzen schwappt, die okopenko sich setzt, wenn ihm beispielsweise der ästhetische eigenwert der sprachzeichen, symbole in ihrem „konkretpoetischen“ gebrauch explizit nichts sagt. abstraktionsprozesse, und mit der materialästhetik von schrift und sprache spielende desemantisierungen gewähren nicht das einschmelzen in die total reale welt.
stichwort konkret: als konkretionist, der mit einem sehr weit gespannten realismus-begriff operiert, musste okopenko die um 1960 auftretende konkrete poesie mit ihrem ganz anderen konkretheits-begriff ins (selbst-)begründungsgehege kommen.

Sehr bald präzisierte sich mir der Realismus zu einem KONKRETIONISMUS. Es ist also nicht nur die unabhängig von unserem Bewußtsein existierende Wirklichkeit anzuzielen, sondern dies soll in möglichst konkreter, auf die Dinge, auf den Einzelfall „bezogener“ Weise geschehen.

und weiter:

Die füllige Wirklichkeit: Das Geistige, Überörtliche, Überzeitliche ist ins Hier und Nun geknüpft, ohne die konkrete Welt nicht denkbar. Das Epigramm und jenes Gedicht, das das Konkrete nur ungefähr bringt oder allegorisch verwendet, erscheinen uns ungenügend, denn der eigentliche Bereich des Fühlens ist die eine füllige Wirklichkeit. Wir halten das konkrete Gedicht* (*damals nicht im – entgegengesetzten! – Sinne der poesie concrete gebraucht) für notwendig. Hinter ihm steht die Gesinnung, die die Welt wichtig und „wörtlich“ nimmt, ihren fülligen Charakter also nicht bagatellisiert. Das konkrete Gedicht will die Gefühle, geistigen Bezüge, Probleme, allgemeinen Vorgänge in ihrem natürlichen Spielfeld, der fülligen (materialen) Welt wiedergeben.

und nicht auf diese welt, die ihm ein sicherer rahmen für jede art von entfaltungsspiel ist, verzichten. dass das ernsthafte spiel mit der materialität der sprache und ihren zeichensystemen, der reflektierende und schöpferische umgang mit der erkenntnis von überlagerungszuständen von schrift einerseits als semiotisches mittel und andererseits als bildlichkeit mit ästhetischem und semiotischem eigenwert (autonomen semiose-prozessen) seine arbeiten weder schwächt noch in ihren rezeptionsmöglichkeiten einschränkt, ist okopenko erst etwas später aufgefallen. ohne die theorie- bzw. diskursfelder – in denen die konkreten künste existieren – wirklich zu betreten, relativiert nach einiger zeit okopenko seine antagonismus-wahmehmung.

Mit der zuvor erwähnten poesie concrete gibt es übrigens nicht nur Gegnerschaft, wie ich sie in den Jahren um 1960 etwas übereifrig pflog, sondern auch Kollaborationsmöglichkeiten. Allerdings nur dort, wo sich die „konkrete“ (oder analog zur absoluten Malerei besser „absolut“ genannte) Textur als Ausdrucksmittel für einen außersprachlichen Weltverhalt versteht, wie dies oft zumindest in praxi der Fall ist, ob bei Bense, Gomringer, Artmann, Rühm oder Jandl. Der Konkretionismus mit seinem existentiellen Aussageziel assimiliert leicht jede Ausdrucksmethode, sogar die der „innersprachlichen“.

als „Demokrat der Sensibilität“ hält er sich und den anderen berührungsmöglichkeiten offen, formuliert er für sich die gangbarkeit (viabilität) literarisch diskursiver koexistenz.
an dieser auseinandersetzung könnte es sehr interessant sein einmal zu untersuchen, welche (theoretischen) missverständnisse (oft auf gegenseitigkeit) auf welche weise und wie lange nachhaltig produktionsanregend also schöpferisch wirken.
vielleicht liegt auch ein besonderer reiz der vielfältigen texte okopenkos darin, dass sie der – systemtheoretisch gesprochen – unaufhaltsamen ausdifferenzierung der systeme und subsysteme (der literatur, der künste) durch die unablässigen schöpfungsangebote eines formulierenden missverstehens ganz freundschaftlich einen unkatastrophalen weil produktiven systembruch anbieten, mit anderen worten: einen schöpferischen kurzschluss über alle abgrenzungsabgründe hinweg als humane möglichkeit enthalten.

*

zurück zum Grünen November.

FRÜHES BILD

Saß ich wo auf warmen weißen Stufen
Saß ich wo und wurde braungeschienen,
Kam ein Käfer aus dem Busch gefahren.

Hörte einen lieben Namen rufen,
Sah den Rufen nach und zog mit ihnen
Irgendhin. – Das war mit vierzehn Jahren.

es ist eines der kürzesten gedichte der sammlung, enthält aber alles, was es zum fluidum braucht. vor allem zeigt es sehr gut, was okopenko explizit von t.s. eliot, von dem er sich in seiner jugend am stärksten beeinflusst fühlte, an konstruktionsanleitung für fluidum-evokationen übernommen hat.

… the only way of expressing emotion in the form of arts is by finding an „objective correlative“; in other words, a set of objects, a situation, a chain of events which shall be the formula [meine hervorhebung] of that particular emotion; such that when the external facts, which must terminate in sensory experience are given, the emotion is immediately evoked. („Hamlet and his Problems“)

die versammlung von gegenständen, einer situation und einer ereigniskette in einem gegebenen zeitrahmen (kindheit bis zum jetzt der erinnernden schrift) kann ich nach dieser anleitung als chemisch-mathematische konstellation sehen, wie sie als rechenoperationen beziehungsweise als molekül darstellung elementarer verbindungen abseits ästhetischen eigenwerts, den ich, der leser, aber nicht aus dem augenwinkel verliere, die realien von kräften, beziehungen und stofflichkeiten aufruft. die rein semantische, auf emotionale evokation fokussierte art und weise der zusammenstellung funktioniert auch bei mir, erzeugt mir den augenblick eines zustands gegenständlicher korrelativität, regt mich an, mir eine erinnerung zu (re-)konstruieren: ich bilde aus, was mir das gedicht eingebildet hat. und zwar affirmativ, handelt es sich doch um ein gemachtes gedicht: in meiner erneuerten erinnerung an das gedicht wie an einen augenblick meiner kindheit, wie ihn mir das gedicht in blitzartiger dauer formuliert.
die unmittelbare, sofortige, direkte evokation: das ist die utopie des sensualistischen autors. zu den utopien des lesers, der evoziert, woraus er besteht, u.a. aus vorstellungen vom tod des autors als geburt des lesers als besonderen fluidalen moment, gehört die erwartung, vom text gezündet zu werden. jeder text und jeder textteil, dem das gelingt, ist ein lieblingstext.
am besten hat diese fähigkeit von texten friederike mayröcker (immer wieder) expliziert:

… einzelne Wörter, die Zündkraft besitzen, die mich entzünden, etwas in mir entzücken, funkelnde Einzelteile, leuchtende Splitter, die einem den Atem rauben und aus denen sich das Ganze insgeheim zusammensetzt.

zwei bemerkungen noch aus der gegenwart meiner lektüre.
renate kühns hervorragende mikroanalyse der anfangs sequenz eines gedichts von friederike mayröcker hat mich dafür sensibilisiert: ich meine die beschreibung der wechselwirkung von sogenanntem prosa-kern (eine beobachtung gisela lindemanns) in der lyrik und von lyrischen kernen in der prosa, den roman-dichtungen mayröckers.

im Grünen November enthalten ist der text „Prosa hinter dem Wahnsinn“. wendel in schmidt-dengler, der diesen text in seinen „Vorlesungen zur österreichischen Literatur“ zitiert, erwähnt auch den wechsel der gattungsbezeichnung von lyrik zu prosa. zur zeit seiner entstehung (6./7. juli 1950) „Konversation“ genannt, wird er im buch von 1957 zwar bereits als prosa bezeichnet, aber noch immer in der form eines gedichts mit strophengestalt und gedichtmässigen zeilenbrüchen abgedruckt. in der von schmidt-dengler zitierten fassung aus Gesammelte Lyrik von 1980 ist der vierstrophige text deutlich als prosa gesetzt – was allerdings weder seiner lyrischen noch der prosa-qualität abbruch tut.
das fliessen vieler texte okopenkos zwischen den gattungsgrenzen möchte ich als mir eigenes fluidum-erlebnis verstehen, das mich stets in erwünschter weise befreit von zumutungen der unüberschreitbarkeit in den darreichungsformen literarischer intensitäten. es ist auch m.e. die zeitgebundene besonderheit in den formen okopenkos am wenigsten zu bemerken, eher tauchen spezifische 50er jahre anmutungen in den satirisch und ironisch gesetzen pointen auf, allerdings würde ein näheres eingehen darauf den rahmen meiner bemerkungen bei weitem überschreiten. nur so viel: auch deutliche historizitäten verringern nicht unbedingt den lesegenuss, lassen aber keine fluidum-wahrnehmung zu.

*

stichwort epiphanie
obwohl okopenko immer mal wieder auch auf james joyce und seinen ephiphanie-begriff hinweist, allerdings sehr vorsichtig und textstellen dritter zitierend, gibt es doch viele unterschiede im verständnis von fluidum und epiphanie. vermutet okopenko (nach giedion-welcker) ähnlichkeit in der intention von joyce, so klärt ein blick in klaus reicherts aufsatz „Welt-Alltag der Epoche“ über den unterschied auf. hier heisst es, zuerst Stanislaus Joyce zitierend:

… worauf er hinaus wollte, konnte ich erkennen: Gemütszustände auf das, was an ihnen wahrhaft wichtig ist, dadurch zu unterscheiden, daß er den Sinn unbeobachteter Kleinigkeiten, unüberlegter Mikro-Geständnisse, auf empfindlichster Goldwaage haarscharf bestimmte.

und weiter klaus reichert:

Die wichtigen Ausdrücke des Zitats heißen „unbeobachtete Kleinigkeiten“ und „unüberlegte Mikro-Geständnisse“. Das heißt, der Blick ist gerichtet auf Dinge, die üblicherweise der Aufmerksamkeit entzogen sind, ja die vielleicht sogar unterhalb der Schwelle der normalen Wahrnehmung liegen. Wahrnehmung und Aufmerksamkeit sind ja sonst gerichtet auf Dinge, die in irgendeiner Weise bedeutsam und sinnhaft sind, die also vom wahrnehmenden Bewußtsein immer schon verstanden, immer schon eingeordnet sind auf Grund relativ fixer Erwartungen. Der Blick des jungen Joyce ist anders gerichtet: er fällt auf das, was sich sozusagen in den Sinnlücken abspielt.
[…] Was die Wahrheit, was der Sinn von etwas ist, also etwas, das sich zeigt, unversehens, aber zugleich unverhohlen, ist etwas, das sich gleichsam hinter dem Rücken der Subjekte – und gegen diese selbst gerichtet – formuliert.

im unterschied zu joyces detektivischer, forschend analytischer intention, die sich anfänglich in kleinen prosafragmenten zeigte, „die irgendwo anfangen, die irgendwo aufhören, an den Rändern zerfasern, wie aus der Wirklichkeit gerissene Fetzen“, geht es okopenko in poesie, prosa und aufsatz nicht um beobachtende analyse und dichterische synthese (beziehungsweise dichterische / dichte analyse und beobachtende synthese) sondern um mitteilung seines besonders gesteigerten zustands, seines welterlebens als augenblick völliger verbundenheit (einschmelzung) bei gleichzeitig höchst gesteigerter wahmehmungsfähigkeit, der wahrnehmung möglichst aller differenzen und ihrer einheiten, in ihrer einheit. das erleben dieser seins-intensität billigt er – als Demokrat der Sensibilität – prinzipiell allen menschen zu: sie darauf aufmerksam zu machen und austausch mit allen zu erreichen, die ähnliches erleben und in literatur oder malerei ausdrücken, formulieren können, treibt wie schon anfangs zitiert okopenkos dichtung und leben an.
dabei hat er in seinem ausdauernd geäusserten verdacht prinzipieller unmitteilbarkeit durchaus eine ahnung davon, was wir als faktum des schöpferischen mit abwesenheit im anwesenden beschreibend einzugrenzen gelernt haben; auch dass im entstehenden text erst mitentsteht, was nicht in ihm enthalten ist, enthalten sein kann – aber eben den text braucht, um als nicht-gesagtes, nicht-gebildetes dem geborenen leser, diesem inter-subjekt, unterscheidbar also wahrnehmbar zu werden.
als verschränkungs-begriff der vielen ab- und eingrenzungen hat beiläufigkeit eine grosse bedeutung. wie – im nachfolgenden zitat – reichert einen unterschied im gebrauch von beiläufigem als mittel und methode von detektivischem beobachten zwischen joyce und freud herausarbeitet, so lässt sich zwischen okopenko und freud unterschiedliches interesse am eigentlichen sinn (freud) und den sinnen als eigentliches sehen. der sinn der text-handlungen okopenkos ist vor allem und immer aufs neue: fluidum – und im verstehen die verstehen konstituierende unmöglichkeit zu erkennen, anders als durch vielfältigste abgrenzungen eine ahnung von der subjektiven intensität zu erlangen: am ehesten im beiläufigen konkretisiert es sich, wird die konstellation als oberfläche (die sich keinerlei tiefe versprochen hat) fliessend.

(…) Auch Freud sah im Beiläufigen und darum Unkontrollierten eine Möglichkeit, dem von ihm sogenannten Verdrängten auf die Spur zu kommen und dadurch den Sinn bestimmter Handlungen zu verstehen. Aber die Unterschiede sind doch deutlich genug: Freud war am Fehlverhalten interessiert, Joyce an der Normalität, am Alltagsgeschehen. Freud wollte zudem durch Analyse der Fehlleistung zum latenten, zum eigentlichen Sinn gelangen; das war ein Sinn, der hinter den Erscheinungen lag und von diesen nur verdeckt und verstellt und verzerrt wurde. Freud setzt also immer die Unterscheidung von oben und unten, von Erscheinung und Wesen oder Wahrheit voraus. Anders Joyce. Das sogenannte Eigentliche liegt an der Oberfläche selbst und nicht irgendwo darunter. Es will nur gefunden werden. Erscheinung und Wesen sind eins, aber die Erfahrung dieses Einsseins muß ernst genommen werden.

aber was joyce will und was ihm gelingt, nämlich

das Sich-zeigen der Bedeutung des Bedeutungslosen, den Witz und die Essenz des Unthematischen, alltäglich Beiläufigen

gelingt okopenko in den kontinuierlichen blitzen seiner gedichte ebenso: in der konstellation des beiläufigen teilt sich mit und prägt sich ein, was als intensives text-erlebnis einen Grünen November macht.
die lyriksammlung Grüner November quasi als parenthese für die fluidum-diskursiven einschaltungen benützend, mit und in klammerausdrücken auf andere klammerausdrücke verweisend, habe ich versucht einzuklammern, was mir 2004 in einer immer wieder nachgeholten lektüre eindrucksvoller gedichte aus einer ganz spezifischen erlebnislage der 50er jahre des zwanzigsten jahrhunderts als sensualistisches texterlebnis d.h. als text-sensation konstruierbar bleibt.
abschliessend eine offene klammer, die ersten zeilen des titelgebenden gedichts „Grüner November“. sie machen was auf, lassen was finden, den findigen leser, stossen an: beiläufig, achtsam, augenblicklich.

Die Kastanien rosten nicht mehr
Die Kastanien sind kahl geworden.
Alle anderen Bäume aber dieses Jahres sind noch grün. (GN, S. 52f.)

Herbert J. Wimmer, Juni 2004, aus Konstanze Fliedl und Christa Gürtler (Hrsg.): Andreas Okopenko, Literaturverlag Droschl, 2004

Der Chemiker als Lyriker

Dies ist ein Buch, das man anzeigen muß: nicht etwa, weil die Gedichte, die es enthält, alle geglückt wären (unter rund vierzig lyrischen Texten kann man höchstens von zweien oder dreien sagen, daß es wirklich gute Gedichte sind), sondern weil in all diesen Versen ein lyrisches Talent von seltener Reinheit und Originalität zutage tritt.
Andreas Okopenko ist noch jung. Im Jahre 1930 in der Slowakei geboren, lebt er heute als Chemiker in Wien, gehört zu den jungen österreichischen Talenten, von denen die gebildete Ingeborg Bachmann eines der ausgereiftesten wurde. Okopenko hat diese Reife noch nicht erreicht, doch gibt es Zeilen in diesem Buch, die zeigen, daß er geradezu in der Poesie geboren wurde, ein Mensch, den die südöstliche Heimat, der dörfliche Alltag mit seinen Lebensbezügen immer wieder reizt, lyrische Stenogramme zu geben:

Ist ein Regentag
mit grünen Blättern drin.
Ist ein Frühlingstag,
aber ein verregneter.

Inge Nachbarskind
sagt dem Wolfgang ab.
Denn es regnet heut’,
und der Sand ist naß.

Dies sind die ersten beiden Strophen des Gedichtes „Ist ein Regentag“, das in der ZEIT zuerst veröffentlicht wurde und das zu den guten Gedichten in Okopenkos Band zählt. Hier ist es gelungen, was dem Autor vorschwebt: die Vereinigung einer sanften Melancholie mit dem Alltag dörflichen Lebens, das durchzittert und zusammengehalten wird von leichter Spannung. Trauer und Fröhlichkeit zugleich liegen in den einfachen Zeilen.
Aber der Dichter von heute kann nicht in einer immerwährenden Sommerfrische des Lebens existieren – er muß sich auch den Problemen von heute stellen. Okopenko weiß das, und da, wo er sich stellt, reicht die Musik seiner Verse noch nicht aus. So kippen viele von ihnen ins Banale um. Das Lesen macht immer etwas ängstlich. Man weiß bis zum Schluß nicht, ob unser Autor nicht doch noch gerade in der letzten Zeile einen gravierenden Fehler macht. Da gibt es eine hübsche Strophe, die so lautet:

Dein Leib ist schön. Was will das sagen?
Ich will dir einen Frühlingstag beschreiben:
aaaVom Wasserhahn strömt es in breitem Flusse
aaader dunklen Muschel und somit der Erde zu.
Ist aber deshalb Frühling? wirst du fragen.
Du bist wie immer schön. Was will das sagen…

Sechs Zeilen also und fünf gute. Welcher Teufel hat unseren Dichter nur geritten, als er in der sechsten und letzten Zeile noch einmal „Was will das sagen…“ und dazu noch mit drei Pünktchen wiederholte?
Solche Unausgewogenheiten sind typisch für Okopenko. Ein großes lyrisches Talent macht es sich hier etwas zu leicht. Stimmung ist in der Lyrik viel, aber noch nicht alles. Sie muß vom Sprachlich-Handwerklichen kontrolliert werden, und an solcher Kontrolle mangelt es. Okopenko kann, wenn er sich diszipliniert, viel erreichen. Er könnte zu einem poetischen Peter Altenberg von heute werden, der statt Feuilletons Gedichte schreibt. Gewiß fehlt ihm dazu noch etwas Welterfahrung, aber glücklicherweise auch Altenbergs heute oft nur noch schwer zu ertragende Sentimentalität.

Paul Hühnerfeld, Die Zeit, 31.10.1957

Poesie der Frühe

Häufig liest man in Besprechungen der Lyrik junger Autoren: „eine große Begabung, eine große Verheißung.“ Das Gegenteil gilt für den ersten Gedichtband von Andreas Okopenko. Er zeigt mehr als eine Begabung, aber er gibt keine Verheißung. Er erfüllt viel, und er verspricht wenig. Er ist in sich vollendet, aber er weist keinen Weg weiter; weder für ihn selbst noch für andere.
Okopenko hat, nimmt man die drei mythischen Frauen (Medea, Dido, Kassandra) gewidmeten Gedichte aus, die den Band beschließen, nur ein einziges Thema: die Wiedergabe der Empfindungswelt junger Menschen in der Zeit der Pubertät. Besonders beschäftigt ihn das Vage, Flüchtige, Sprachlose dieser Empfindungswelt. Den schon entschwundenen, kaum für einen Augenblick erhaschten Empfindungen spürt er nach, die durchs Halbbewußtsein ziehen und kaum je Sprache werden; jenen unbestimmten Gefühlen, die Halbwüchsige haben, wenn ein Gewitter heraufzieht an einem Juniabend, oder die der Geruch des Teers im Herbst oder der Forsythien im Frühjahr wachruft. Es gibt kaum ein Gedicht, in dem man nicht genau erfährt, in welchem Monat es spielt. Neben dem Erleben der Jahreszeit finden wir die Erinnerung an Kindertage (auch diese jahreszeitlich fixiert), Spiele mit Nachbarskindern, dann die Schule, zuweilen noch die ersten Semester auf der Universität (Okopenko studierte Chemie), Gedanken im Büro (er arbeitet heute in der Verrechnungsabteilung eines Wiener Industriebetriebs), Redewendungen aus Geschäftsbriefen, Straßenbahngespräche. Immer aufs neue versucht er das Erleben der Dreizehn- bis Neunzehnjährigen. das Ineinander von verschwebenden Träumen und Wunschbildern, der Sinneseindrücke (Geruch, Temperatur, Farben der Umgebung) und der inneren Vorstellungen des „Vorher“ und „Nachher“ festzuhalten und „in einem Punkt zu verdichten“.
Das gelingt ihm in vielen Gedichten. Fast immer sind die Empfindungen unmittelbar Wort geworden; kaum eine Zeile läßt sich nachweisen, die bloße Beschreibung ist. Dabei ist seine sprachliche Erfindungsgabe geradezu unerschöpflich. Einige wenige Beispiele: „Gegrünter Staub“; „Im Finstern katzt Geruch“; „Ich ging unter kahlgefallenen Bäumen / Ein Kind spielte spät und kalt auf schwergesessener Erde“; „Aber das Grün schließt allmählich den Schnabel“; „Ein zertauender Kindermärz“; „Nach Gefährten unsicher auswittern“; „Das Sausen einer freundlichen Schmelze“; „Der Abend riecht vom Mund nach vornehmen Söhnen“; „Unlängst riß ein Flugzeug ein Stück blaue Landkarte über das Dorf“; „Es gibt viele Lila, die ein Kind noch gar nicht erfassen kann. / Denn es denkt, hinter dem letzten Lila wohnt das Greisenalter.“ Hier wird wirklich sprachlich Neuland betreten. Wo Wehmut und jugendlicher Weltschmerz zur Sprache kommen, werden sie sofort durch eine zarte Ironie gebändigt. Sein Witz ist bildhaft und läßt lebendige Anschauung im Leser entstehen: „Hängte er sich bei dem Mädchen ein, was sie sich gefallen ließ wie ein sachlicher Mops, wenn er Börseberichte studiert und dabei geflöht wird. / Er drückte ihren Arm, wie einer, der ein Fahrrad besitzt, der guten Sitte halber ab und zu klingelt.“ – Nach den Jahreszeiten spielen die Farben die größte Rolle. Am häufigsten kommt Grün vor, das sich in beinahe jedem zweiten Gedicht findet (wer es nachzählen will: in 19 von 42). So ist Grüner November ein trefflicher Titel; wenn vielleicht auch „Grüner April“ noch besser gepaßt hätte, ist doch das ständige Umschlagen des April zugleich bezeichnend für den Stimmungsablauf junger Menschen.
Viele der Verse haben weder Anfang noch Ende, sondern beginnen irgendwo, verfolgen ein paar Assoziationen und verflüchtigen sich wie Tautropfen am Morgen. Zuweilen aber verdichten sie sich zu einem schönen und klaren Gedicht, wie etwa dem „Früheren Bild“ oder der „Medea“. Es sind die Gedichte eines leicht verletzlichen, sehr komplizierten Seismographen, der auf die leisesten Erschütterungen anspricht. Oder, anders gesagt, die Gedichte eines zugleich sensitiven und frühreifen knabenhaften, ja fast mädchenhaften Menschen. Okopenko, geboren 1930 in der Slowakei, hat sie im Alter von 19 bis 22 Jahren geschrieben. (Nur die letzten Gedichte, „Erinnerung an drei Frauen“, entstanden zwei Jahre danach.)
Wäre er siebzehn; und wäre er ein Mädchen; und wäre er Französin – er würde rasch berühmt. Das Publikum unserer Zeit hat am außerordentlichen Gedicht nicht genug: es verlangt die außerordentliche Lebenssituation des Künstlers. Aber mit der kann Okopenko nicht dienen.

Wieland Schmidt, Neue Deutsche Hefte, 1958

Gedächtnismomente der Literatur

– Andreas Okopenkos frühe Gedichte erscheinen 1957 unter dem Titel Grüner November das erste Mal in einem Band zusammengefasst. Der Autor selbst bezeichnet diese Buchpublikation in seinem Aufsatz „Giftschrank“ 1951 als „lächerlich verspätet“ und gibt den Hinweis darauf, dass die Gedichte – ebenso wie jene des Bandes Seltsame Tage (1963) – zwischen 1949 und 1952 entstanden sind. –

Diese Datierung ist nicht unwesentlich. Okopenko, wiewohl in bestimmten literarischen Kreisen des Nachkriegswien verankert, war Einzelgänger und ist bis heute uneinordenbar geblieben. Grüner November protokolliert diese Sonderstellung auf eindrucksvolle Weise. Der Surrealismus prägt die Ästhetik der Zeit und findet einerseits in den Werken der Autorengruppe Celan-Demus-Holzer seinen Niederschlag; ganz anders bei den – Celan als (Zitat Gerhard Rühm) „symbolistisch verpanschten Aufguss“ des Surrealismus ablehnenden – Autoren Adrian, Artmann, Bayer, Rühm, die mit dem „methodischen Inventionismus“ jene Bewegung starten, die später den Namen Wiener Gruppe bekommen soll.
Okopenko wendet sich mit seinen frühen Gedichten einer eigenen Kategorie des Realismus zu, seine hohe poetische Begabung integriert naturwissenschaftliche Weltsicht ebenso wie Haltung des zurückgezogenen Protokollierenden. Seine Vorbilder, die der 19-jährige Dichter nicht imitiert, sondern deren Einfluss bereits in seinen ganz persönlichen Stil mündet, sind zum Teil deutschsprachige Dichter, vor allem aber Dylan Thomas und der immer wieder von Okopenko selbst als bedeutender Einfluss genannte Walt Whitman. Okopenkos eigener Stil zieht sich durch seine frühe Lyrik in freien Rhythmen bis hin zu seinem einzigartigen Langgedicht „7. Mai“ und seinen Prosaarbeiten, die Otto Breicha richtigerweise als „durchaus lyrisch konzipiert“ bezeichnet hat. Okopenko prägte für die „außerordentliche Erlebnisart“, die er als Motor seiner Dichtung verstand, den Begriff FLUIDUM. Darüber hat er in seinen Aufsätzen immer wieder poetologische Betrachtungen angestellt, ohne daraus ein Manifest, ein Programm oder eine Theorie zu formulieren. Elfriede Gerstl, die mit Okopenko seit 1958 befreundet war, zitiert in einer Darstellung seiner Dichtung folgende Stelle aus dem Aufsatz „Fluidum“:

Magischer Realismus ist eine Tautologie. Die Dinge sind magisch. Durch ihr Sein. Durch ihre unendlichfältigen Beziehungen.

Grüner November ist so etwas wie ein magischer Abzug von Erlebnissen seiner Zeit: Verliebtheit, Liebe, Naturbetrachtungen werden mit Alltäglichem, Politischem und der Penibilität des Protokollierenden versetzt und so auf lakonische Weise lebendig. Okopenkos Gedichte heute zu lesen führt zu sehr zeitgenössischen Debatten über das Gedicht, entdeckt Leserinnen und Lesern, dass die Debatten vor siebzig Jahren den heutigen erstaunlich ähnlich waren. Okopenko freilich zeigt durch sein Dichten, wie man sich dem einengenden Diktat der Unterwerfung unter theoretische Dogmen elegant entzieht, ohne deshalb restaurative oder epigonale Lyrik hervorzubringen. Okopenkos Gedichte sind immer im Jetzt, in der unmittelbaren Gegenwart und überlassen uns seinem „subjektgebundenen“ Realismus. Der Autor soll das letzte Wort haben:

Die Rechenschaft vor dem Hier und Jetzt ist das Wesentliche am Realismus. Es ist angewandter Existenzialismus, jenseits der schmalen existenzialistischen Literatur im engen Sinn, und wegen eines subjektgebundenen Charakters unabhängig von der erkenntnisphilosophischen und wissenschaftlichen Fragwürdigkeit des Realitätsbegriffes.

Daniel Wisser, 10.12.2018

 

Dunkle Glanzstellen

– Zu Andreas Okopenkos Gedichten aus den fünfziger Jahren. –

1.
Einer der ersten Leser der Gedichte Andreas Okopenkos hat die Eindrücke seiner Lektüre fast dreißig Jahre später zusammengefaßt:

Es waren die erregendsten Gedichte damals, und sie kamen ganz dicht an mich heran, durchdringend, hinein in das Dunkle, in das ich nicht sehen kann und von dem ich gefüllt bin. […] Trotz ihrem Nahekommen und Eindringen besaßen und besitzen seine [d.h. Okopenkos] Gedichte bis heute so viel an Fremdheit für mich, dunklen Glanzstellen etwa, daß sie von mir nicht gefressen und verdaut und ausgeschieden werden konnten wie die meisten, die ringsum verstreut ich im Laufe der Zeit vorfand.

Die Worte gehören Ernst Jandl, dessen Gedichte aus den frühen fünfziger Jahre sich in manchem mit denen Okopenkos berühren, was sich auch in der Sonderstellung, um nicht zu sagen: Isolation beider Autoren in dieser Zeit ausdrückt. Daß indes gerade die Unterschiede zwischen Jandl und Okopenko für die Art ihrer Produktion aufschlußreicher sind als die Gemeinsamkeiten, bedarf keiner weiteren Erörterung. Jandl selbst hat die Nähe und Ferne der Gedichte Okopenkos prägnant umrissen, und es ist vermutlich gerade jenes „Dunkle“, das bis heute auch die intensivere Auseinandersetzung mit diesen Gebilden eher behindert denn gefördert hat.

2.
Von dem Paradox der „dunklen Glanzstellen“ sind die Gedichte auch in ihrer Wörtlichkeit betroffen: Die Evokation von Farbigkeit bestimmt durchgehend ihre Bildlichkeit; schon das erste Gedicht der Gesammelten Lyrik mit dem kennzeichnenden Titel „Anfangsfragmente“ spricht immerhin vier Farben des Spektrums an:

Ein grünblaues Licht,
das – ich weiß nicht wie –
ins zärtlich Violette sticht.

Schattig lauer Sommerraum
rot in absteigender Sonne
grün von einem nahen schweren Baum.

Die Spannungen ergeben sich aus dem Spiel von Licht und Dunkel und aus den Farbkontrasten: Die Komplementärfarben Rot und Grün fassen den „[s]chattig laue[n] Sommerraum“ ein. „Das Frühlingslied für Infinita Vera“ setzt ebenso mit einer Farbenorgie ein:

Es taute. Blau und weiß und braun
und das Gewagteste von allem: grün.

Durch diese intensiv beschworenen Farbeindrücke wird durchgehend ein Vertrautheitsfeld erzeugt; an solche Bilder ist der Leser von Gedichten gewohnt. Mögen Synästhesien und kühne Neuprägungen manchmal auch Überraschungseffekte auslösen, in der Tradition lyrischen Sprechens – man denke etwa an Trakls späte Gedichte – sind sie sehr wohl beheimatet. Beispielhaft dafür ist etwa Okopenkos Gedicht mit dem programmatischen Titel „In eigener Sache“, das mit einer kühnen Farbvision schließt, die aber doch nachvollziehbar bleibt, obwohl sie das obsolete Blau des Himmels durch Grün ersetzt und dafür die Erbsen blau sein läßt:

der erbsenblaue Himmel wird über uns sein
und das Gras ist himmelgrün

Dominant ist ferner die explizite Nennung der jeweiligen Jahreszeit; ja, die frühen Gedichte erwecken mitunter den Eindruck von Kalenderlyrik: Die Sehnsucht eines jungen Mannes nach dem Frühling soll keineswegs unterdrückt werden. Der Verdacht, daß das Idyllische nicht gemieden werden sollte, stellt sich in dem Gedicht „Früher Nachmittag im April“, vor allem in der geradezu provokanten Naivität der Eingangs- und Schlußverse ein, ein Eindruck, zu dem die kokett-zierlichen Diminutiva und Binnenreime das Ihre beitragen. Das Reimpaar „da – Forsythia“ wirkt so rührend-unbeholfen, als würde es aus einem Pflanzenlehrbuch in Versen stammen:

Am Frühlingssamstag sind sie alle da:
Besucher, Wölkchen, Forsythia.
[…]
Das ist so ein Frühlingsnachmittag –
die Mädchen so von dreizehn an,
die gehen erst später, wenn es dunkler wird, aus…
jetzt ist noch niemand, nichts anderes da
als Wölkchen, Völkchen, Forsythia.

Diese Zeilen muten so an, als sollte alles ausgeklammert werden, was dem Bild bedrohlich werden und die Dreiheit von „Wölkchen, Völkchen, Forsythia“ zerstören könnte.

3.
Würde man allerdings von diesen wenigen Zitaten auf die gesamte Lyrik Okopenkos schließen, so wäre dies ein Fehlschluß: Die intensive Einbeziehung von Farben und Jahreszeiten bleibt in seiner Lyrik zwar durchgehend erhalten, doch sind sie ganz anders und weitaus subtiler kontextualisiert als in einer Naturlyrik, die darauf aus ist, den Dingen die Qualitäten ihres eigenen Seins unermüdlich zuzusprechen. Mit gutem Grund hat Franz Johann Seidl gemeint, daß die Arbeiten Okopenkos dadurch hervorragen würden, „daß sie traditionelle Strukturen modern ausformen. In dieser Übergangskunst klingt der große Ton der Vergangenheit, verbunden mit neuen Indizien für stichhaltige Sachverhalte.“ (In: Gesammelte Lyrik) Diese „stichhältigen Sachverhalte“ sind zu benennen, und sie sind nicht nur als Motive oder Themen erfaßbar, sondern bestimmen die formale Gestaltung der Texte und schlagen in der Semantik und Syntax durch. Zwischen der mitunter auf den ersten Blick konventionellen Rahmung und den oft verstörenden Bildkombinationen entsteht eine wirksame Spannung, die für die so schwer beschreibbare Eigenart dieser Produktion verantwortlich ist. Mit seiner „Fluidum-Theorie“ hat Okopenko seine Position abgesteckt; mit ihr geht er auf Distanz zu experimentellen und sprachskeptischen Positionen. Der Autor hält am hypothetischen Charakter fest:

Wollte man spekulativ sein, könnte man sagen: Das Fluidum ist der 6., 7., 8. (nach Belieben) Sinn – für die unmittelbare Wahrnehmung der EXISTENZ. Ich betone aber nachdrücklich, daß ich auf dieses Vielleicht erst nach jahrelangem ,naivem‘ Erleben des Fluidums gekommen bin und daß […] hier nicht das metaphysische Ei eine lebenspraktische Henne gelegt hat. Und es bleibt ein Vielleicht.

Der Nachdruck, mit dem sich Okopenko auf die Empirie beruft, läßt es als unstatthaft erscheinen, das Fluidum als ein mystisches oder irrationales Moment für die Konstitution der Dichtung zu begreifen. Mithilfe des Fluidums scheint es dem Autor vielmehr möglich, eine Naivität wiederzugewinnen, die da war, ehe die Begriffe da waren; es ermöglicht ihm, die Starre der Abstraktionen und ihre Verfestigung zu einem System zu hintergehen und beim Schreiben zu Synthesen zu gelangen, die ohne dieses Ferment nicht möglich wären.
„Die blaue Dissertation“, vom Autor auf den 19./20.2.1950 datiert, scheint zwar dieser Opposition von Ratio und Intellekt im Titel Rechnung zu tragen, so man „blau“ als ein romantisches Attribut und somit als Gegensatz zum Begriff einer „Dissertation“ ansehen will. Das Gedicht richtet sich gegen die in der Zeitschrift Neue Wege in einem Essay vertretene Auffassung, daß zur Zeit intellektuelle „Diagnosen wichtigere Aussagen als die meiste Dichtung“ seien. Die Polemik ist in einem ironischen Tonfall gehalten; der Antagonismus von Ratio und Gefühl wird eher verwischt denn konturiert. Getroffen werden soll vielmehr die Anmaßung, höchst allgemein gehaltene Verdikte über den Zustand der Welt zu formulieren. Das letzte Strophenpaar umschließt epigrammatisch den Gegensatz:

Es ist sicherlich sehr viel damit getan,
wenn wir die Röntgenbrille aufsetzen
und verkünden: die Zeit ist chaotisch.
Und weitere Punkte und Aufsätze.
Nur:
Das Erstmädchen möchte einen irgend Brief schreiben,
sie schreibt ihn auf hellem Papier.
Sie braucht eine harte Unterlage dazu, um die es nicht schade ist.
Sie nimmt das Lehrbuch der Logik.

Denjenigen, die mit der „Röntgenbrille“ sich im wissenschaftlichen Diskurs bewähren, soll gar nicht ins Handwerk gepfuscht werden. Allerdings reicht die von ihnen geübte Praxis nicht aus. Die Argumentation wird nun nicht stringent vorgeführt, es wird aber auch nicht das Mystische, das sich – nach den Worten Wittgensteins – „zeigen“ soll, beschworen.
Die Beweisführung erfolgt durch ein semantisches Störmanöver: „Das Erstmädchen möchte einen irgend Brief schreiben“ – damit scheint sich der Autor einer Argumentationsgrundlage zu begeben, in der Tat aber kann er nur so über das Gespräch hinausführen, das jene pflegen, die sich die „Röntgenbrille“ aufgesetzt haben. Was immer man unter „Erstmädchen“ versteht – ob ein Mädchen, das in Analogie zu „Erstfrau“ die erste Freundin eines Jünglings ist, oder ein Mädchen, das zum ersten Mal eine entscheidende Erfahrung in seinem Leben gemacht hat – mit diesem Wort kommt Unruhe in den Vers, die in der Folge noch durch die Inversion des Indefinitpronomens verstärkt wird: Es geht um „einen irgend Briefe. Damit wird angedeutet, daß weder das Genre des Briefes (Liebesbrief?) noch sein Inhalt von Bedeutung sind. Von Liebe ist keine Rede. Das Mädchen braucht zum Schreiben eine „harte Unterlage, um die es nicht schade ist“. Das Lehrbuch der Logik kann diese Unterlage in einem realen Wortsinne abgeben, aber es schleicht sich auch ein allegorischer Schriftsinn ein: Die Logik ist unentbehrlich, sie muß aber zugleich durch das Schreiben überwunden werden.

4.
Mit gutem Grund hat Elfriede Gerstl darauf aufmerksam gemacht, daß diesen Gedichten oft „die traurige und tapfere Sublimation unausgelebter Erotik, die erotischen Sehnsüchte und Frustrationen sehr junger Menschen“ als thematisches Substrat dienen. (In: Gesammelte Lyrik) Viele dieser frühen Gedichte ziehen sich auf das wenig anheimelnde, doch verläßliche Territorium der Desillusion zurück. Zahlreiche Texte nennen explizit Mädchen- oder Frauennamen, auch im Titel, und mit jedem Namen scheint eine meist enttäuschende Erfahrung verbunden zu sein: Edith, Dagmar, Ingrid – doch nie gerinnt diese Erfahrung zu einer glatt nacherzählbaren Geschichte. Im „Frühlingslied für Infinita Vera“ wird ein Eigenname mit dem Jahreszeitenmotiv gekoppelt, so man, was durchaus zulässig ist, in „Infinita Vera“ auch den Plural von lateinisch „ver“ erblickt.
Das vielleicht markanteste und zugleich dichteste Anschauungsmaterial liefert das Gedicht mit dem eigentümlichen Titel „Dagmar-Apokalypse“, datiert mit 2.4.1950. Ein Mädchen oder eine junge Frau, kurz nur als „sie“ apostrophiert, hat mit der Liebe überhaupt Schluß gemacht:

Sie gibt bekannt,
daß sie nicht mehr lieben wird.
Sie ist wirklich hübsch
und neunzehn Jahr.
Ist das eine grausige Phantasie?

Was sich wie eine Erzählung anläßt, erfährt eine jähe Unterbrechung durch ein kurioses Verspaar, das schon auf die Reimpraxis der späteren „Lockergedichte“ vorausweist und entschieden die Ernsthaftigkeit, die da aufkommen könnte, unterläuft:

Ist das ein Nachtmahr?
Nein, es ist die Dagmar.

Die beiden folgenden Strophen scheinen auf die Reaktion des Ichs, das diesen Ausspruch der Dagmar vernehmen mußte, einzugehen. Es will offenkundig Trost in der Natur und im Ablauf der Jahreszeiten suchen:

Es ist mir ohnehin bedrückend zu schreiben,
und nachher werde ich einen Vormittag in den grünen Frühling rennen,
werde Bäume sehen, die kaum noch blühen,
Gräser, so unverbraucht wie nie im ganzen Jahr,
Wasser werden plätschern in Schrebergärten,
Gitter werden rings lebendig sein,
da und dort frisch gegrünt von Männern mit Schürzen,
sogar die Schlacke am Weg wird sich einmal mit dem Aufbruch ringsum versöhnen
und wird sagen hell: ja auch ich bin! ja auch ich bin im Frühling!

Es entsteht ein eigentümliches Ineinander von Frühlingsfeier in der Natur, kleinbürgerlichem Szenario („Schrebergärten“) und enttäuschter Liebe. Was bis jetzt durch einen (in der Logik des Gedichts deplazierten, vom Leser jedoch nur allzu bereitwillig unterstellten) psychologischen Zusammenhang verbunden ist, wird durch die rätselhafte dritte Strophe völlig aufgehoben:

Nur irgendwo…
es ist dort auch nicht Herbst
oder sonst eine Jahreszeit,
sondern unfruchtbares Nickel,
glatt, daß man sich die Hände im Sommer daran verkühlt.

Die zuvor so einläßlich ausgebreitete Frühlingsstimmung ist zerstört. Für das Bild von den Jahreszeiten tritt plötzlich „unfruchtbares Nickel“ ein, das die Qualität der Jahreszeiten, in diesem Falle des Sommers, zu tilgen scheint. Mit „Nickel“ wird etwas Anorganisches angesprochen. Man denkt sofort an Geld – unter Umständen könnte auch die amerikanische Fünf-Cent-Münze, der „Nickel“, mitassoziiert werden. Mit der Erwähnung des Metalls erfolgt offenkundig ein Einbruch in die sonst so euphorisch beschworene Stimmung. Es ist, als ob mit diesem Wort und seiner Umgebung, die als eine „dunkle Glanzstelle“ gelten könnten, das Gedicht sich über einen Wechsel von einem Gleis auf ein anderes begibt, um auf diesem weiterzufahren. Vergessen ist die Ankündigung des Liebesverzichts durch Dagmar, vergessen auch der „Nachtmahr“. Doch die vierte Strophe führt zur ersten zurück:

Nicht Herr Poltzinger,
nicht Herr Kranefedt
werden sich weiter aufregen:
über den frühen Ausspruch eines Jungmädchens.

Mit „Jungmädchen“ ist – und daran kann man kaum zweifeln – jene Dagmar gemeint, und die Herren Poltzinger und Kranefedt sind deren Verehrer, die sich später einmal einstellen werden. So zumindest könnte man sich als Leser alles in eine erzählbare Abfolge bringen. Die fünfte Strophe gibt solchen Spekulationen auch Nahrung, denn das Ich meldet sich wieder zu Wort:

Vielleicht wird das alles längst vergessen sein,
wenn geerntet wird
(als gehe ich auf den Markt Birnen einkaufen
und nenne das Ernte).
Ihr Mann und ihre Türschnallen werden sehr nett sein
und ihr Kind.
Ich werde sie öfters besuchen. Bestimmt.

Das Ich weiß sich im Leben durch den Umgang mit Surrogaten einzurichten. Die auf dem Markt eingekauften Birnen gelten als Ernte, der Besuch bei dem einstmals geliebten Mädchen und ihrer Familie soll zur Kompensation einer unerfüllten Neigung werden. Das Ich konstruiert sich resignativ den eigenen Nachsommer.
Die akute private Problematik soll, so wird mittelbar versichert, irrelevant werden. Doch beläßt uns das Gedicht nicht in dem Pseudoidyll, das aus einer ziemlich selbstgefälligen Pose der Entsagung erzeugt wird. Eine neue Katastrophe viel größeren Ausmaßes scheint prognostizierbar, die Textstelle ist im Original weiter vom rechten Rand weggerückt:

Ein älterer Herr, noch rüstig,
besah sich zum erstenmal im Leben eine Statistik.
Nun, da er sie weiß,
ist er ein Greis.

Die metrisch unbeholfenen Verse und die gewollt unreinen Reime scheinen dem apokalyptischen Grauen, das sie ankündigen, zuwiderzulaufen. Die Statistik sorgt dafür, daß ein älterer Herr – wie in Raimunds Der Bauer als Millionär Fortunatus Wurzel nach dem Abschied der Jugend – jäh zum Greis wird. Das zweite Reimpaar hat eine überraschende Entsprechung in Nestroys Der gefühlvolle Kerkermeister, wo ein Greis, der sein Leben lang nichts getan hat, sich als Grabinschrift ein ähnlich lautendes Verspaar wünscht:

Hier liegt ein Greis, von dem kein Mensch was weiß.

Wenn Okopenkos Verse der Unsinnspoesie ganz nahe kommen, ist Aufmerksamkeit geboten: Seriöse Spekulationen oder gewichtige Ankündigungen verstecken sich in der infantilen Einkleidung. Die sechste Strophe entspricht den Schlußversen der ersten Strophe, wo von dem „Nachtmahr“ die Rede war, der als Reimwort den Namen Dagmar in den Text hereinbrachte. Diesem „Nachtmahr“ wird nun gleichsam als Alptraum der Gegenwart die „Statistik“ entgegengehalten, in der alle Grausamkeit der Gegenwart in Zahlen zu haben ist, die den Anschein erwecken, als hätten sie mit dem, von dem sie künden, nichts zu tun. So ist die Struktur des Gedichts, dessen Kohärenz auf den ersten Blick kaum gegeben zu sein scheint, durch sorgsam gesetzte formale und inhaltliche Entsprechungen austariert. Die Schußverse künden nach Art einer Beschwörungsformel die Katastrophe an:

NAPHTHA WIRD FALLEN
NAPHTHA WIRD FALLEN
NAPHTHA WIRD FALLEN

Die folgende „Anmerkung“, die das Gedicht beschließt, spielt auf die erste Städtevernichtung in der biblischen Geschichte an:

Einer Theorie zufolge fiel Naphtha auf die Städte Gomorra und Sodom und setzte sie in Brand.

Von „Naphtha“ ist in der Bibel bei der Vernichtung der sündigen Städte (1. Mos. 19,25) keineswegs die Rede, sondern von Pech und Schwefel. Naphtha begegnet uns im Alten Testament nur im Buch Daniel (3,46); mit diesem Öl wird der Feuerofen geheizt, in dem die drei Jünglinge ihren Gott Jahwe preisen.
Evident ist der Zeitbezug; der Bombenkrieg, der Krieg aus der Luft hatte das Ende des Zweiten Weltkriegs überdauert. Damit wird auch ein Thema angesprochen, das viele der frühen Gedichte Okopenkos bestimmt. Doch mit der Benennung des Themas ist keineswegs die Methode erfaßt, mit der dieses zur Sprache kommt.

5.
Kaum ein anderes Gedicht ist in dieser Hinsicht ähnlich instruktiv wie „Dagmar-Apokalypse“. Der Bindestrich des Titels erzeugt ein ebenso überraschendes wie beklemmendes Junktim. Was sich zunächst wie die Elegie eines unglücklich Liebenden anläßt, wird zum prophetischen Mahnruf. Das Sensorium für die Katastrophen globalen Zuschnitts entwickelt sich aus der privaten Erfahrung. Während diese jedoch zur fast liebenswürdigen, konventionellen Belanglosigkeit („Ihr Mann und ihre Türschnallen werden sehr nett sein / und ihr Kind“) verkümmert, ergibt sich aus der Statistik die Gewißheit, daß es mit dem Krieg weitergehen wird.

Unter uns, gnädige Frau: Sind Sie von der Notwendigkeit eines vierten Weltkrieges überzeugt?

Mit diesen Worten endet die Prosa hinter dem Wahnsinn, die etwa drei Monate nach der „Dagmar-Apokalypse“ verfaßt wurde. Die verhängnisvolle Annahme, daß der Krieg zum unausweichliche Schicksal der Menschheit gehöre, mag selbst Mitursache für Kriege sein, sie scheint aber durch den Verlauf der Geschichte nicht widerlegt worden zu sein. Okopenko dazu selbst:

So wie man uns ein Schreckbild des zweiten Weltkrieges mitgeben hätte müssen, so müssen wir jetzt den Leuten ein Schreckbild des dritten Weltkriegs mitgeben.

Die der Prosa hinter dem Wahnsinn unterlegte Situation ist ebenso bizarr wie deprimierend: Ein Mann entschuldigt sich dafür, daß er der gnädigen Frau, seiner Konversationspartnerin, andauernd ins Gesicht hustet:

[…] seit dem letzten Bakterienkrieg ist meine Lunge, wie man sagt, etwas angegriffen.

Ein Stück Kohle, das er unter seinem Wohnhaus „hervorkratzte“, war seine Frau.
Hingewiesen sei auf den Umstand, daß dieser Text auch unter dem Titel „Konversation“ in Gedichtform 1951 erschien. Hält man beide Titel gegeneinander, wird die Vielschichtigkeit dieses Textgebildes manifest: Auf der einen Seite spricht aus diesen Worten die durch den Krieg bedingte Verstörung, auf der anderen Seite wird die Möglichkeit, danach überhaupt Konversation zu treiben, drastisch und zugleich ironisch aufgehoben. Ebenso wird die bei Okopenko des öfteren feststellbare und festgestellte Ambiguität zwischen Prosa-Gedicht und Gedicht erkennbar: Die Entscheidung für die Gedichtform oder das Prosa-Gedicht kann der Autor nach Belieben fällen, und sei es auch nur durch die graphische Anordnung des Textes. Doch ist die Wahl in keinem Falle als beliebig anzusehen. In „Prosa hinter dem Wahnsinn“ und „Konversation“ findet durch die unterschiedliche Formgebung bei gleichbleibender Grundsubstanz eine Akzentverlagerung statt, die vom Titel aus und durch die Zeilenbrechung ein anderes Leseverhalten zur Folge hat.

6.
Eng miteinander verbunden sind die beiden Texte „Fall ins Wort“ und „Korea“; sie sind am selben Tag (20.3.1951) entstanden. Wieder geht es, wie bei der„Blauen Dissertation“, um eine Auseinandersetzung; diesmal ist Herbert Eisenreich der Opponent. Er hat – offenbar ganz unter dem Einfluß von Karl Kraus – in einem Manifest in den Neuen Wegen „Mehr Zucht in der Sprache!“ gefordert. Okopenko widersetzt sich einer Literaturauffassung, die in der Sprache an sich die absolute Autorität erblickt und derzufolge „Worte nach Plänen“ zusammengebaut werden sollen. Die Konsequenz:

Und die Gedichtbände so ausschließlich voll von Gebäuden und Gebärden, und so kaum eine Zeile von Grund auf da. Der Tempeldienst am leeren Worte, und Eisenreich dreht die Gebetmühle.

Eine solche Literatur würde nur vom Aussehen her, d.h. nur auf Grund ihrer formalen Gestaltung, bewertet und für gültig erachtet werden:

Vom Ursprung ausgehend, sprechen die Dichter, ohne um die Kunst zu fragen, es gelingt hie und da, und das Aussehen am Ende rechtfertigt sie.

Der zweite Teil des Gedichts „Korea“ ist mit („Disput mit H. E.“) überschrieben. In diesem Disput begegnet zweimal die Frage „Wo sind die Toten?“, zunächst in Klammer, dann als abschließende unbeantwortbare, mithin rhetorische, aber zuletzt doch entscheidende Frage. Durch sie verblaßt, was ein Disput über die Geschichte und ihr Lehren zutage fordern könnte. Was die „Dagmar-Apokalypse“ als Schreckvision beendete, wird im „Korea“-Krieg Ereignis:

Korea. (Ich bin nicht dabeigewesen,
also erfülle ich gewisse Forderungen nicht;
aber das Gefühl,
bevor der Mann von der Napalmbombe der Amerikaner
gefressen wurde, stelle ich mir deutlich genug vor.)

„NAPHTHA WIRD FALLEN“, hieß es; nun fallen die Napalmbomben: Nickel, Naphtha, Napalm – diese drei Worte, Musterbeispiele für unlyrische Worte schlechthin, stehen im unheimlichen Zentrum der Gedichte, sie zerstören jede Vision von Frühling und vernichten jede Form von Kunst, die sich nur als ein formales Exerzitium begreift.
Daß Okopenko so konkret zeitgeschichtliche Ereignisse aufgriff, gibt seinen Gedichten den besonderen Rang gerade in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg; die oben zitierte Strophe aus „Korea“ hätte mit geringfügigen Veränderungen auch während des Vietnamkrieges Gültigkeit gehabt. Wichtiger aber als die Tatsache, daß Okopenko auf die Gegenwart Bezug nimmt, ist die Art, wie er dies besorgt. Der Bindestrich in „Dagmar-Apokalypse“ veranschaulicht dieses Verfahren, das von einem subjektiven Erleben ausgeht, dieses in seinen Wirkungen auslotet und mit einer jähen Wendung sichtbar macht, vor welchem Hintergrund und in welchen Zusammenhängen es zu sehen ist. Das konventionelle, von Fall zu Fall mit leichten, aber signifikanten Variationen eingesetzte Inventar der Lyrik an Metaphern und Motiven, ist das mit Raffinement gewählte Mittel, um der politischen Brisanz der Thematik eine wirksame Kontrastfolie zu verleihen und zugleich jede platte Thesenhaftigkeit oder missionarische Note zu vermeiden. Und gerade das Dunkle der Übergänge aus dem „Nachtmahr“ zur „Statistik: sorgt für eine bestürzende Deutlichkeit, die fast ein halbes Jahrhundert nach der Niederschrift dieser Gedichte nichts an Wirkung eingebüßt hat. Im Gegenteil.

Wendelin Schmidt-Dengler, Klaus Kastberger (Hrsg.): Andreas Okopenko. Texte und Materialien, Sonderzahl Verlag, 1998

 

 

Adolf Haslinger – Laudatio zum Großen Österreischischen Staatspreis 1998.

Konstanze Fliedl – Laudatio zum Georg-Trakl-Preis 2002.

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Daniel Wisser: Der sanfte Linke
Die Presse. 13.3.2020

Zum 10. Todestag des Autors:

Karin Ivancsics: Eine Freundin erinnert sich
Die Presse, 25.6.2020

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Andreas Okopenko: Anarchistenwalzer gesungen von Palma Kunkel.

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