THALASSA
Zu wasser das boot, zerbrochene kumpane
Laßt alten tang zerfliegen und die wogen
Weiß blühn, von der letzten verschiffung
Mutloser männer endlich abgesehn −
Laßt uns – und alle gegenkräfte einbezogen −
Wir müssen wieder unbedingt an bord stehn.
Hißt auf euer segel, verzweifelte kumpane
Laßt schlingern und stampfen jede küste −
Ihr kennt das übel: der wille ist wankend
Ziel und preis verwischt und eure herzen unrein,
Leben das euch hinging: welche kirche, wie verwüstet −
Doch laßt dies gift euch wieder grund zur heilung sein.
Stecht in die see, meine verkommnen kumpane
Deren ruf an würde dereinst wird gewinnen;
Kopfüber in den absturz wildbewegten marmors
Wird das freisein des narwals zu unsrer idee,
Ein heller hoher stern wird uns den kurs ersinnen,
Unser ende ist leben. stecht in die see.
Louis MacNeice
übersetzt von Wolfgang Hilbig
Als Thomas Hardy 1840 geboren wurde, war Großbritannien die „Werkstatt der Welt“, verfügte über die fortschrittliche Technologie fast der gesamten industriellen Revolution und beherrschte mit seiner Flotte die Weltmeere. Für die Arbeiter in Industrie und Landwirtschaft waren die Bedingungen jedoch hart und beklagenswert. Ströme von Emigranten ergossen sich nach Nordamerika, Australien und Asien.
Die jüngeren Dichter dieses Buches wuchsen in einer umgekehrten Situation auf. Obwohl Großbritannien am Ende des zweiten Weltkrieges zu den Siegermächten gehörte, hatte es seine Vormachtstellung in der Welt verloren – innerhalb von zwei Jahrzehnten war das Empire zerstört und die britische Wirtschaft verlor an die kapitalistischen Konkurrenten immer mehr an Boden. Ein Teil der Inselbewohner war so reich, daß die meisten Viktorianer davon nur hätten träumen können, daneben lebten und leben viele in beständiger, hoffnungsloser Armut.
Während dieser alles verändernden Zeit zeigte Großbritannien nach außen hin ein Bild stetigen Wachstums. In den vierziger, sechziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, vor, während und nach dem ersten Weltkrieg schien es, als würde die Arbeiterklasse die Herrschenden in Großbritannien mit einer Revolution konfrontieren. Aber sie fand nicht statt. Obwohl viele junge Männer auf dem Kontinent im Kampf fielen und obwohl Luftangriffe den Krieg schließlich auch den Zivilisten in die Heimat brachten, wurde kein Krieg auf britischem Boden ausgefochten. Die „Mißhelligkeiten“ in Irland schienen und scheinen für die meisten Bewohner der größeren Insel fernab zu liegen. Selbst der psychische Schlag, den der Verlust der Vormachtstellung in der Welt auslöste, wurde gemildert, da die Briten, die das verwirrt fühlten, als Englischsprachige leichten Zugang zur Kultur der mächtigen USA fanden.
Die Tatsache, daß ein Dichtungsstil, den Hardy in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte, direkten Einfluß auf die siebziger Jahre unseres Jahrhunderts behalten konnte, deutet – genauso wie das erstaunliche Überleben eines Oberhauses; in dem Erbpeers rechtmäßig regieren – darauf hin, daß die Staatsordnung in Großbritannien niemals zerschlagen und reformiert wurde wie in anderen europäischen Ländern. Und diejenigen, die wie ich durchgreifende Veränderungen wünschen, müssen erkennen, daß für die meisten denkenden Briten eine stetige, stufenweise Entwicklung und Mäßigkeit die Grundlage eines stillen Stolzes darzustellen scheinen.
Kurz vor dem ersten Weltkrieg, als Großbritannien noch das größte Reich, das die Welt je gesehen hatte, beherrschte, war die Hauptströmung in der Dichtung – und sie hatte nicht nur in den oberen Klassen eine große Zuhörerschaft – patriotisch und didaktisch ausgerichtet. Von ihren Vertretern erscheint hier nur Kipling, und wenn er für seine Zeit typisch war, so bildete er wiederum in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme: Er war ein sehr talentierter Schriftsteller und stand deutlich im Widerspruch zu gewissen Zügen von Selbstgefälligkeit, die im Establishment verbreitet waren. Zum Beispiel empfand er tiefe Sympathie für das schwere Leben des einfachen Soldaten.
Als Reaktion auf die patriotische Schule – und politisch gesehen davon linksgerichtet – entstand eine Strömung, die später „Georgianism“, georgianische Dichtung (nach Georg V., 1910–1936), genannt und vor allem von Hardy beeinflußt wurde. Sie brach mit dem nichtigen Eskapismus der Spätromantik und einem patriotisch aufgeladenen schwülstigen Stil. Die Gedichte von Edward Thomas sind ein Beispiel dafür, wie stark georgianische Dichtung sein konnte, wenn sie fähig war, lebendige psychologische Einsichten in eine Beziehung zu ländlichen Szenen zu setzen.
Von den zwanziger bis zu den dreißiger Jahren erfreute sich die georgianische Dichtung enormer Geltung, bildete ein Reservoir an Pflichtliteratur für die Schulen und sprach das allgemeine Lesepublikum weit mehr an als die „schwierigere“ Art von Dichtung, die den größten Teil dieses Buches ausmacht. Bescheiden gehaltene lyrische Beobachtungen der Landschaft und ihrer Menschen und Tiere – im allgemeinen sentimentalisiert – riefen, und dazu waren sie bestimmt, die Vorstellung von einer Umwelt wach, die weit vom grauen Alltag der Städte entfernt war. Georgianische Dichtung impliziert, daß die ländliche Natur im eigentlichen Sinne heilig, eine Quelle echter Werte war. Dies sprach nicht nur Leute aus den mittleren Schichten an, die von der modernen Realität erschreckt waren und froh, wenn sie bei herkömmlichen und beruhigenden Themen entspannen konnten, sondern auch die britischen Arbeiter, deren leidenschaftlicher Hang zur Gartenarbeit (siehe Charles Tomlinsons „John Maydew“) andeutet, daß viele niemals aufgehört haben, nostalgisch auf die verlorenen, unzulänglichen Freiheiten des vorindustriellen ländlichen Lebens zurückzublicken.
Kurz vor und gleich nach dem ersten Weltkrieg wurde die britische Selbstgefälligkeit durch die Anfänge des „Modernismus“ herausgefordert. Trotz meiner tiefen Vorbehalte gegenüber der elitären Tendenz, die selbst bei linksgerichteten modernistischen Autoren spürbar ist, glaube ich, daß die großen Modernisten – Eliot aus Amerika, Yeats aus dem aufrührerischen Irland, Lawrence und MacDiarmid aus der Arbeiterklasse Englands und Schottlands – große Themen mit einer Kühnheit und kreativen Kraft behandelten, die im allgemeinen in den Werken derer fehlten, die versuchten ihrer Herausforderung zu entrinnen und die „englische Tradition“ aufrechtzuerhalten. Sie räumten der Politik in ihren Gedichten zentrale Bedeutung ein und griffen die Selbstgefälligkeiten einer imperialistischen Kultur an. Paradoxerweise jedoch waren sich diese Modernisten in einem Punkt einig: in der leidenschaftlichen Ablehnung der „modernen“ Zivilisationsgesellschaft.
In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schien W.B. Yeats der erste Vertreter einer träumerischen, sehnsuchtsvollen Spätromantik zu sein. Unter dem Eindruck der Ereignisse von 1916 und 1922, die Irland die Unabhängigkeit brachten, verkündete er seit Beginn der dreißiger Jahre mit Hilfe einer Vielfalt von „Masken“ – in Form von Volksliedern oder sehr komplizierter Dichtung – die Vision des Menschen als Schöpfer seiner eigenen Welt, die tragisch, aber auch „modern“ war. Yeats artikulierte jedoch als Sprecher einer zum Untergang verdammten Klasse – des protestantischen, englischen Adels – eine spezielle Art von irischem Nationalismus, der die Umkehrung der Geschichte, die Rückkehr zu einer ländlichen, aristokratischen Ordnung forderte.
Auch Lawrence erhob sich – wie in den „Zypressen“ – als Prophet einer natürlichen Vitalität gegen die einengende Dekadenz der Städte. Er war in einem Bergarbeiterdorf Mittelenglands aufgewachsen und konnte die völlig urbanisierte Arbeiterklasse nicht recht verstehen. Ebenso ging es MacDiarmid, der aus einer kleinen Weberstadt kam. Obwohl MacDiarmid ein überzeugter Kommunist und ausgeprägter schottischer Nationalist war, betonte er – und damit stand er in der kalvinistischen Tradition seiner Vorfahren – die Rolle des gebildeten Intellektuellen, während Lawrence, aus der Tradition des puritanischen evangelischen England kommend, die individuelle „Erlösung“ als das Wesentliche ansah. Eliots Herkunft ist ebenfalls von großer Bedeutung. Er stammte aus einer bürgerlichen Familie Neu Englands und teilte deren Angst, daß das Erbe der Gründungsväter von Boston und die von deren Nachfolgern entwickelte hohe Kultur durch Emigranten aus Irland und Europa und durch das Streben vulgärer Emporkömmlinge nach politischer Macht in den USA gefährdet werden könnten.
Als Eliot sich völlig an England anschloß und sich mit allem Englischen identifizierte, war es unvermeidlich, daß er die englische Geschichte sentimentalisierte. Es leuchtet ein, daß sein Werk von einem größeren Publikum akzeptiert wurde, als sich seine Position der georgianischen Dichtung näherte. Daher müssen zwei unterschiedliche Phasen seines Einflusses unterschieden werden.
Für einen ernsthaften Vertreter der georgianischen Dichtung oder einen Romantiker hatte sich im ersten Weltkrieg einfach zuviel ereignet, als daß er damit hätte fertig werden können. Fronterfahrungen verfestigten die ernste „modernistische“ Richtung des talentierten Isaac Rosenberg. Sie schockierten Wilfred Owen, einen von Keats beeinflußten Hedonisten, der Protestlyrik schuf, die zum Beispiel in „Fühllosigkeit“ in ihrer kritischen Haltung zu Sprache modernistisch wirkt. Die Kriegserlebnisse hatten Einfluß darauf, daß sich Robert Graves von der georgianischen Dichtung entfernte und ein schützendes Schild des Klassizismus aufbaute. Die Ursachen für Eliots Ernüchterung hatten zum größten Teil nichts mit Europa zu tun, sie waren persönlicher Natur. Waste Land mit seiner apokalyptischen Sicht einer zerstörten Zivilisation schien jedoch, als es 1922 erschien; für eine Generation zu sprechen. Die ökonomische Krise, die noch vor Ende des Jahrzehnts folgte, ließ diese Generation linksgerichtete politische Verse verfassen. Die „Thirties School“, die „Dreißiger Schule“, wird in diesem Band vor allem von ihren Führern Auden und MacNeice vertreten. Eliot hatte Möglichkeiten aufgezeigt, wie der Schmutz der Städte und die verwüstete Landschaft der Industriegebiete Großbritanniens darzustellen sei, und diese Dichtung wurde an den Schulen Pflichtliteratur. Aber Eliots modernistische Techniken – filmähnliche Collagen von Bildern, Parodien, häufige Zitate aus den Werken von Dichterkollegen – wurden von anderen Dichtern nicht systematisch nachgeahmt. Auden, der in seiner Technik auf brillante Weise vielseitig war, schulte sich an Brechts kabarettistischer Lebendigkeit, an Hardys rhythmischer Experimentierkunst und an Yeats’ außergewöhnlicher Rhetorik. Er hypnotisierte die jüngere bürgerliche Intelligenz als sie im Schatten der Depression, nach einem Krieg und unter der Bedrohung eines neuen, gegen alles opponierte, wofür ihre Eltern eingestanden hatten.
Die linksgerichtete, intellektualisierende Lyrik junger Vertreter der Auden-Schule, wie Stephan Spender, C. Day Lewis, die an privaten Internatsschulen und an den Universitäten von Oxford und Cambridge ausgebildet worden waren, fand ihre Zuhörerschaft fast ausschIießlich unter den Höhergebildeten. Dylan Thomas, Führer einer Gegenrichtung, die sich einem leidenschaftlichen Romantizismus zuwandte, der durch Einflüsse des Surrealismus modifiziert wurde, wird vom „Durchschnittsleser“ trotz der rätselhaften Unklarheit vieler seiner Gedichte geliebt wie wenige andere Dichter dieses Jahrhunderts. „Licht stürzt wo keine Sonne scheint“ ist eine Zeile, die rationaler Interpretation widersteht, jedoch hat dieses Gedicht seine Anziehungskraft bewahrt und erweitert. Im Gegensatz dazu hat Audens „Spanien“, das seine intellektuellen Zeitgenossen damals stark beeindruckte, inzwischen viele Leser durch die hochmütige Arroganz seiner Verallgemeinerungen und Behauptungen abgestoßen.
Gestern alles Vergangene. Die Sprache der Normen,
die sich an den Handelsstraßen entlang bis nach China vorschob;
Rechenschieber, vermischt mit Druidensteinen;
die Errechnung der Hitze im Schatten unter tropischem Klima.
Gestern die Festsetzung von Versicherungen nach Listen,
die Suche nach Wasseradern; gestern Erfindung
von Rädern und Uhren, die Züchtung von Pferden;
gestern die geschäftige Welt der Navigatoren.
Fest steht jedoch, daß dieses Gedicht einen beeindruckenden rhetorischen Triumph in der langen Geschichte der englischen Lyrik darstellt. Für die Nachfolger Audens und der Neo-Romantiker war das vom Bürgerkrieg zerrissene Spanien der Schauplatz, auf dem die Hoffnungen und dann die Verzweiflung einer Generation verkörpert wurden. John Cornford, der noch sehr junge kommunistische Dichter, der dort umkam, war für seine Zeitgenossen ein Held.
Der zweite Weltkrieg hingegen rief zumeist stumme, verzerrte Empfindungen wach. Owen und Rosenberg hatten Schrecken und Leid so deutlich zum Ausdruck gebracht, daß eine Wiederholung sinnlos schien. Und in jedem Fall war der Krieg gegen den Faschismus eine Sache, die einerseits ertragen, andrerseits aktiv mitbestimmt werden mußte. Der Kampfeinsatz in der Wüste Nordafrikas fand in Keith Douglas einen Dichter, der dessen Eigenart darzustellen wußte, und Hamish Henderson war der bewegende Elegiker dieses Kampfes. Für die meisten Leser jedoch waren das größte lyrische Ereignis der Kriegsjahre die in Intervallen veröffentlichten Vier Quartette von T.S. Eliot. Seine Beschwörung des Blitzangriffes auf London 1940/41 in „Little Gidding“ (II) markiert technisch den Höhepunkt seiner Dichtung, wenn er den „familiar compound ghost“, den „vertrauten Sammelgeist“, von Vergil, Dante, Milton, Swift und des kurz zuvor verstorbenen Yeats anruft. Dieser Geist repräsentiert die Weisheit poetischer Tradition. Der Einfluß der eindrucksvollen, doch unausgewogenen Quartette diente dazu, daß sich die reaktionäre Tendenz in der britischen Kultur der Nachkriegszeit verfestigte. Während der kalte Krieg den Erdball immer krampfhafter erfaßte und die Träume der Briten von einer sozialistischen Revolution zeitweilig verdrängte, ließ der erfolgte Sieg über den Faschismus gleichzeitig eine Art Selbstgefälligkeit aufkommen. Eine Labour-Regierung war an die Macht gekommen und setzte die sozialen Reformen durch, die die Grundlage für den sogenannten Welfare State und auch für den Beginn der Zerstörung des Empire bildeten. Linksgerichtete Tendenzen waren zum Teil erfolgreich besänftigt worden.
Auden war 1939 in die USA geflohen, als wolle er der Rolle eines Führers des linken Flügels, die ihm seine Jünger auferlegt hatten, entkommen. Er trat nun als amerikanischer Bürger, als politisch Liberaler und als Christ auf. Eliot wurde vom „Establishment“ und von früheren Radikalen gleichermaßen als der größte lebende Dichter der Insel akzeptiert, und auch er bot christliche Doktrinen an, während seine Idee von „grace dissolved in place“, „Des Orts selbeigener Gnade“, das Hauptthema seiner Quartette, die englische Landschaft wiederum als heilig erklärte. Selbst das starke Talent von MacNeice scheint in dieser Zeit durch Eliot beeinflußt und in seiner Kraft geschwächt worden zu sein.
Inzwischen existierte der Neo-Romantizismus weiter. In den fünfziger Jahren versammelte sich „Movement“, eine „Bewegung“, um dagegen aufzutreten. Es handelte sich um eine Gruppe von talentierten Dichtern, die dem Rationalismus verschrieben war. Die meisten von ihnen bevorzugten traditionelle Versmaße. Starken Gefühlen wurde mit Mißtrauen begegnet, Politik wurde als Thema nur dann akzeptiert, wenn sie kühl behandelt wurde. „Movement“ brachte viel akademisch kluge Dichtung zustande, die häufig überintellektualisiert und trocken, teilweise inhaltlich leer war. Ihre Hauptvertreter Larkin, Davie, Gunn schrieben in dieser Zeit gute Gedichte, bessere als später, als das Experimentieren sie von den Grundsätzen der „Movement“ fortführte. Inzwischen entwickelte Ted Hughes’ kraftvolle Art zu dichten diese Prinzipien weiter, und außerdem wurde von den späten fünfziger Jahren an der Einfluß aus den USA wirksam.
Bis dahin hatten die meisten britischen Dichter sich so verhalten, als wäre Amerika kulturell noch immer eine Provinz des Empire. Ein georgianischer Geschmack konnte einen Robert Frost leicht als ehrenwerten Engländer ansehen; Whitman jedoch hielt man gewöhnlich für einen Exzentriker. Trotz Ezra Pounds ziemlich langem Aufenthalt in Großbritannien hatten nur wenige versucht, ihn nachzuahmen.
Die frühe Dichtung des Amerikaners Robert Lowell konnte als Fortführung englischer Tradition angesehen werden. Aber die Veröffentlichung seiner Life Studies 1959 in Großbritannien brachte nachdrücklich zum Ausdruck, daß der Verlust der Vormachtstellung Großbritanniens in der Welt an die USA gleichsam als natürliche Folge nach sich ziehen würde, daß kulturelle Einflüsse nun zum größten Teil von West nach Ost erfolgen würden. Schnell berühmt wurde die Amerikanerin Sylvia Plath mit ihrer „bekenntnishaften“ Lyrik und gab den Jüngern von „Movement“ eine Lektion auf, die diese wenn auch unter Schwierigkeiten verdauen mußten: Leidenschaftliche, geheimnisvolle Imaginationen konnten frei nebeneinander gestellt von hypnotischer Kraft sein. Gleichzeitig begannen die Amerikaner William Carlos Williams, Charles Olson und ihre Schüler mit Techniken des freien Verses eine gierige Zuhörerschaft auch unter den jungen britischen Lesern zu gewinnen. Mit dieser Art zu dichten entfernten sie sich viel weiter als beispielsweise Lowell von jeder denkbaren Quelle englischer Tradition. Doch der Einfluß aus Amerika brachte häufig beklagenswerte Ergebnisse hervor; obwohl Roderick Watsons Gedicht und einiges von Elaine Feinstein das Gegenteil beweisen. Es gab nun wichtige ältere Schriftsteller – unter andern Tomlinson, Gunn und Davie −, deren Dichtung deutlich durch Reaktionen auf amerikanische Neuerungen und andere internationale Einflüsse modifiziert wurde.
In einem vielleicht noch nie dagewesenen Maße haben führende britische Dichter in den letzten zwei Jahrzehnten daran gearbeitet, zeitgenössische Autoren in andere europäische Sprachen zu übersetzen, und die englische Lyrik wurde durch das, was sie dabei lernten und in ihrer eigenen Arbeit anwendeten, bereichert.
Die britischen Dichter machten sich die „komplizierte“ modernistische Betrachtungsweise zu eigen, ohne daß grundlegende Tugenden dabei verlorengingen. Hughes übernahm Yeats’ zentrales Thema der Gewalt in die Dichtung des Atomzeitalters und schuf ein Werk, dessen Gestus so direkt ist, daß schwer zu befriedigende Kritiker seine Grobheit beklagen. (Das gleiche Urteil wurde seinerzeit Lawrence angehängt und verlor sich.) Gunn sucht ernsthaft nach Mythen und Vorstellungen, die die Stellung des Menschen im posteinsteinschen Universum auszudrücken vermögen. Beide wurden viel gelesen. Charles Tomlinson fand ein kleineres Publikum, aber seine schmucklosen, gekonnt gemachten Gedichte werden sicherlich immer mehr Freunde finden. Er hat gezeigt, daß es möglich ist, über die Natur wunderbar und überzeugend zu schreiben, ohne pathetische Trugschlüsse zu verbreiten und ohne georgianische Wunderlichkeit. Gleichzeitig verarbeitet Tomlinson in vielen seiner Gedichte Erfahrungen des Stadtlebens. Weder Geoffrey Hill noch Jon Silkin besitzen oder erreichen eine solche Klarheit.
Hills Dichtung ist sehr komprimiert und schwer zu deuten, Silkins Syntax scheint uns keinen Dialog zu gönnen. Aber niemand kann den starken Ernst verkennen, mit dem beide Männer die Krise des bürgerlichen Bewußtseins im 20. Jahrhundert vor Augen führen. Das Hauptproblem jeder Anthologie besteht darin, daß manche Texte aufgenommen, andere weggelassen werden müssen.
Da dieses Buch der Dichtung des 20. Jahrhunderts gewidmet ist, habe ich mich mit großem Bedauern bei der Vorstellung von Gedichten Thomas Hardys einschränken müssen. Obwohl er 1840 geboren wurde, veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband erst 1898, und ein großer Teil seiner besten Gedichte wurde in diesem Jahrhundert geschrieben. Sein Einfluß war enorm. Um ihm entsprechend seiner Bedeutung Platz einzuräumen, hätten verschiedene jüngere Schriftsteller herausfallen müssen. In einigen Fällen wird meine Auswahl – dessen bin ich mir wohl bewußt – viele empfindsame Leser überraschen oder schockieren. Zum Beispiel nahm ich Siegfried Sassons Gedichte über den ersten Weltkrieg nicht auf, obwohl sein ehrlicher Protest wichtig war. Je häufiger ich sie wiederlese, um so unreifer und schriller scheinen sie mir. Warum bot ich der ausgesprochen christlichen Dichtung von T.S. Eliot keinen Raum? Nun, den gesamten „Aschermittwoch“ hätte ich in eine größere Anthologie aufgenommen; ich glaube, daß die einzelnen Szenen gesondert nicht den entsprechenden Eindruck hinterlassen würden. Ich habe von Auden keine Gedichte aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg ausgewählt, weil ich sie nicht für so gut halte wie die Werke aus den dreißiger Jahren, von denen sehr viele berücksichtigt zu werden verlangten. Warum ist Philip Larkin nur durch vier kurze Gedichte vertreten – seine ehrgeizigeren Arbeiten wurden dabei übergangen −, und warum erhielten Tomlinson, Gunn und Hughes mehr Raum? Larkins kunstvollere Gedichte haben einen Anflug von Kniffligkeit, der mir nicht zusagt. Ich glaube, er ist in seinen kürzeren Texten schärfer und ergreifender. Außerdem beurteile ich ihn in einer Weise, die man „politisch“ nennen könnte. Viele Kritiker halten Larkin für den besten britischen Dichter seit 1945. Sosehr ich sein Werk liebe, so gehöre ich doch zu denen, für die ein kritischer politischer Standpunkt eine Notwendigkeit darstellt. Ursprünglich von Yeats fasziniert, reagierte Larkin dann gegen den „Modernismus“ und wurde zum Schüler Bardys, hielt die „englische Tradition“ aufrecht. Bei britischen Lesern, die nicht zu tief nachdenken wollen, findet seine Lyrik Anklang – sie scheint ihnen dabei zu helfen, den größeren Problemen unseres Jahrhunderts aus dem Wege zu gehen, und hat dabei vorherrschend Schmerz und Frustration im Privatleben zum Inhalt. In ihrer Grundtendenz ist sie konservativ, britisch.
Eine weitere Entscheidung bestand darin, meine Auswahl auf Werke von Dichtern des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland zu beschränken, die in einer Sprache geschrieben wurden, die von allen Lesern Großbritanniens ohne besondere Mühe verstanden wird. Es war kaum möglich, T.S. Eliot auszulassen, der von Geburt Amerikaner ist und dann britischer Bürger wurde, oder etwa W.B. Yeats, der geboren wurde, lange bevor Irland seine Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte. Die weitere Entwicklung in der Lyrik Irlands ist hier jedoch nicht repräsentiert. Ich habe keine Dichtung berücksichtigt, die in Gälisch (von Iren oder Schotten) oder in Walisisch geschrieben wurde, Ob es einen schottischen Tieflanddialekt gibt, ist schwer zu beantworten. Hugh MacDiarmid suchte die Existenz einer solchen Sprache zu beweisen indem er „Lallans“, ein Tieflandschottisch, aus verschiedenen schottischen Dialekten schuf. Er benutzte sie in „A Drunk Man Looks at the Thistle“, 1926, einem der beeindruckendsten Gedichte, das je auf den britischen Inseln entstand. Ich habe drei kürzere Gedichte von ihm in leicht schottisch gefärbtem Dialekt aufgenommen und ein in Englisch verfaßtes langes Meisterwerk, fand aber keinen Raum für Lyrik in Lallans seiner Nachfolger. Einige von ihnen haben Bemerkenswertes hervorgebracht.
Ich habe auch Autoren des sogenannten „Commonwealth“, aus dem Empire, nun Ex-Empire, nicht mit aufgenommen, obwohl einige in Großbritannien gelebt haben und von ihnen genügend veröffentlicht wurde, daß die Versuchung groß war, die Regel zu ihren Gunsten zu durchbrechen. So sind weder die Südafrikaner Plomer und Campbell, Bratweite und Walcott von den Westindischen Inseln noch der in Australien geborene Peter Porter oder Fleur Adcock aus Neuseeland vertreten.
Die Amerikanerin Sylvia Plath war mit dem britischen Dichter Ted Hughes verheiratet und hinterließ nach ihrem Selbstmord im Jahre 1963 ein beeindruckendes und andere Dichter beeinflussendes Werk. Ich widerstand der Versuchung, sie hier mit aufzunehmen, obwohl sie den bedauerlich geringen Anteil dieser Anthologie, der von Frauen bestritten wird, vergrößert hätte. Vor dem gleichzeitig erfolgenden Einfluß von Plath und der Frauenrechtsbewegung neigten die britischen Dichterinnen dazu, an zwei Polen zu verharren. Die meisten schrieben auf eine ernsthafte und detaillierte Weise über Themen, die sich aus der traditionellen Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft ergeben: Familienbindungen, Blumen, „Natur“ im allgemeinen und Religion. (Molly Holden, durch Krankheit verkrüppelt, hat in letzter Zeit bewiesen, daß ein hohes Maß an Intelligenz bei der Behandlung dieser Themen ergreifende Ergebnisse hervorbringt.) Wenn Dichterinnen der häuslichen Fliegenklappe entkamen, neigten sie zu einer Art Witz, mit dem sie die Anschuldigung zurückweisen wollten, daß sie eigentlich in die Küche gehörten. Edith Sithwell war lange Zeit die berühmteste Dichterin – ich hätte einige ihrer brillanten Wortspiele aus Facade aufgenommen, wenn ich hätte sicher sein können, daß es gelingen würde, sie adäquat zu übertragen. Vertreten sind einige Gedichte von Stevie Smith, in deren Werk die Spannung zwischen Verspieltheit und tiefer Melancholie Wirkungen erzielt, die in der britischen Literatur einmalig sind. Elaine Feinstein scheint mir völlig emanzipiert – sie schreibt sehr im Stil einer Frau und macht dabei von ihrem Recht Gebrauch, jedes Thema so frei und ernsthaft wie ein Mann zu behandeln.
Nach einer allgemeinen Durchsicht meiner Auswahl stelle ich ohne das geringste Bedürfnis, mich dafür zu entschuldigen, fest, daß die Hauptthemen Liebe und Tod sind. Es sind wichtige Themen. Gleich groß ist der Anteil von Kriegsgedichten – bezeichnend für ein Jahrhundert wie dieses, das von Auseinandersetzungen um Macht beherrscht wird. Viele, eigentlich die meisten der hier aufgenommenen Dichter haben Gedichte politischen Charakters geschrieben. Ich habe diese ausgewählt, wenn sie einen Autor von seiner besten Seite zeigen. Das ist bei Yeats, MacDiarmid, Auden, MacNeice und Tom Paulin der Fall. Die Vielfalt der Themen ist ein Prinzip meiner Auswahl gewesen. So erscheint hier aus einer Reihe guter Gedichte aus den fünfziger und sechziger Jahren, die sich mit der atomaren Bedrohung auseinandersetzten. Edwin Muir mit „Die Pferde“, seiner, so glaube ich, besten Arbeit, anstelle von Jon Silkins „Defence“ beispielsweise.
Wo nur ein einziges Gedicht ausgewählt wurde, mögen die Qualitäten des Dichters nicht voll zum Vorschein kommen. John Betjemans Satire ist in wenigen seiner Gedichte so scharf und bissig wie in dem von mir ausgewählten. C.H. Sissons beißender Pessimismus kommt in „Am Fahrstuhlschacht“ besser zur Geltung als sein rastloser Intellektualismus. Drei Kriegsgedichte haben miteinander gemein, daß von ihren Autoren kein anderes Gedicht aufgenommen wurde. Edgell Rickword erreichte seine Leistung in „Winterkrieg“ niemals wieder. John Cornford lebte gerade lange genug, um ein unvergeßliches Gedicht zu schaffen. Henry Reeds dreiteiliges Werk „Lektionen vom Krieg“, von dem ein Teil hier erscheint, drängt sich als bewußte Reaktion auf den entmenschlichenden Einfluß des Krieges in jede Anthologie und beeindruckt durch seine sprachliche Strenge.
Die Generationen sind – um einen Ausdruck Hugh MacDiarmids zu gebrauchen – „ineinander verflochten“. MacDiarmid selbst, dessen Werk noch immer einen radikalen Einfluß auf die schottische Kultur ausübt, starb sechzig Jahre später als sein Mitstreiter Wilfred Owen. Basil Bunting, der zunächst nicht mehr als ein schlechter Schüler von Ezra Pound zu sein schien, schuf im sechsten Jahrzehnt seines Lebens mit seiner großen autobiographischen Szenenfolge Briggflatts ein Meisterwerk. Das jeweils letzte Gedicht von Stevie Smith und Geoffrey Grigson – beide sind nur wenige Jahre jünger als Basil Bunting – wurde 1971 veröffentlicht. Inzwischen entfaltet sich auf eindrucksvolle Weise eine unterschiedlich begabte Generation, die ungefähr fünfzehn Jahre nach dem ersten Weltkrieg geboren wurde. Es gibt viel gute neue Dichtung – in wenigen Fällen stammt sie jedoch von Dichtern unter vierzig.
Seamus Heaney, ein begabter und ehrlicher Dichter, zeigte, als er Anfang 1960 erstmals veröffentlicht wurde, ein vielversprechendes Talent und erfüllte dieses Versprechen in seinen letzten Arbeiten. Ich kann kein jüngeres Talent bemerken, das so stark ist, und bin in Sorge, daß es an Mitstreitern fehlt, die Gedichte schreiben, die so ernsthaft sind wie die von Silkin oder Tomlinson und so direkt und robust wie die von Hughes. Auch in Schottland scheint das Versprechen einer Renaissance, die in den zwanziger Jahren von MacDiarmid ausging, in den jüngeren Generationen unerfüllt zu bleiben. Während der größere Teil dieser Anthologie Dichter vorstellt, deren Position als „gestanden“ gilt und für die viele andere meine Verehrung teilen, so wurden die letzten zehn Dichter aus dem sehr persönlichen Grunde, aufgenommen, daß ich sie aus der Generation der Dichter unter vierzig lieber mag als andere.
Wie geschützt ihre Insel auch im Verhältnis zu den meisten anderen Ländern gewesen ist, so haben die jetzt fünfzig- oder sechzigjährigen britischen Dichter mit der Geschichte gelebt. Ein Vierteljahrhundert lang haben die Briten sich verwirrt darum bemüht, sich an die Realitäten dieses Jahrhunderts anzupassen, die anzudeuten schienen (was natürlich illusionär ist), daß Geschichte etwas ist, das außerhalb von Großbritannien vor sich geht, und daß nur eine reflexive Reaktion möglich ist. Die jungen Dichter drücken auf unterschiedliche Weise – durch Trockenheit, Witz, Umschreibung – eine Haltung ihrer Generation aus, die aussagt, daß nichts was sie tun können, viel bedeutet und Gedichte unmöglich etwas ändern würden. (Eine Vorwegnahme dieser Stimmung kann man in Audens Elegie auf W.B. Yeats finden.) Heaney, ein Mann aus Ulster, nahm die Erschütterungen der Geschichte, an Ort und Stelle wahr. Er begrüßt die Gewalt, die dabei frei wurde, nicht, aber zweifellos gewann seine Dichtung durch die verstärkte Konfrontation mit den grausamen Realitäten an Kraft. Ich wünschte, ich könnte eine neue Generation von Dichtern erleben, die danach strebt, mitzuhelfen, Geschichte zu machen, und nicht nur unruhig darauf wartet, so gut sie dazu in der Lage ist, darauf zu reagieren, wenn der Krise nicht mehr ausgewichen werden kann.
Angus Calder, Vorwort, März 1981
(Deutsch von Gabriele Bock)
präsentiert die bedeutendsten Dichter Großbritanniens und Nordirlands in diesem Jahrhundert. Am Beginn steht Hardy; Eliot, Yeats, D.H. Lawrence sind enthalten wie andere, für England kaum weniger namhafte, aber auf dem Kontinent wenig übersetzte Autoren: Charlotte Mew, Edwin Muir, Louis MacNeice und viele andere. Liebe und Tod, Krieg und Nachkrieg sind Themen dieser Gedichte. Das historische Ereignis ist oft der Anlaß: die beiden Weltkriege, der spanische Bürgerkrieg, der Kampf Nordirlands um Unabhängigkeit. Aber spezifisch britisch sind die Richtungen in dieser Dichtung: georgianische Lyrik in den zwanziger Jahren; die „Thierties School“, die Opposition der jüngeren Intelligenz; nach dem Krieg „Movement“, kühl und intellektualisiert in der Aussage. Die Vertreter der jüngeren Generation haben inzwischen begriffen, daß wahre Dichter mit der Geschichte nicht nur ihres eigenen Landes leben müssen.
Dr. Angus Calder, Dozent an der Open University in Scotland, traf die Auswahl mit Engagement und Umsicht. Seine Kriterien: literarische Potenz eines Gedichts, sinnliche Aussagekraft, nicht zuletzt Gespür für historische Umschlagpunkte und Bezug zur Wirklichkeit.
Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, Klappentext, 1983
Es war eine merkwürdige Zeit. Sie war politisiert: Mitte 1981 die begeisterte Rückreise aus Polen, dem Land der einzigen unabhängigen Gewerkschaft des Ostens. Der Zoll sucht im Zug Warschau-Berlin sehr lange nach verdächtigen Schriften und Abzeichen, findet sie aber nicht. Sie war friedensbewegt: Anfang 1982, die Volkspolizei setzt einen so lange fest, bis man schließlich sich selbst den Aufnäher mit der Grafik des martialischen Schmieds und dem Schriftzug „Schwerter zu Pflugscharen“ vom Jackenärmel abtrennt. Gerüchte, Hörensagen wie immer auch im April 1982: Davor und am Tag der Beerdigung von Robert Havemann gibt es gezielte Personenkontrollen und vorläufige Festnahmen. Wolf Biermann hatten sie kurz zu dem Sterbenskranken einreisen lassen aus dem Westen – was für eine Geste von ihm und von denen! So war die Zeit der Planung und Herausgabe der Anthologie, von der hier die Rede ist. So war sie – auch. Typisch für das Bewusstsein der Intelligentsija in der geschlossenen Gesellschaft war das wirr Verknäuelte von Ästhetischem und Politischem. Wo es bei einem solchen Vorhaben lag? In einem Bild vor allem – auch dies Beleg für die Art der Verhältnisse –, in dem englische Lyrik für ein Tor zur Freiheit gelten konnte. Auf jeden Fall verhieß sie Zugang zu einem westeuropäischen ästhetischen Zusammenhang.
Ich hatte erste Nachdichtungen für den Reclam Verlag Leipzig nach Rohübersetzungen aus dem Polnischen für eine Auswahl von Jan Kochanowski gemacht. Das war 1980 absolviert. Man lud mich nun wieder ein. Die Flure des Leipziger Reclam Verlages in dem riesigen Industriegebäude unweit der kanalisierten Weißen Elster hatten nichts Einladendes. Mir ist, als wären die Arbeitszimmer der Lektorinnen eher Kammern gewesen, vollgestopft mit Papieren und Büchern, unaufgeräumt, sympathisch. Vermutlich trügt die Erinnerung. Gabriele Bock jedenfalls empfing zu einem ersten Treffen dort, später bei sich zuhause. Die Begeisterung, dass eine solche umfassende Anthologie entstehen würde, umgab sie wie eine Aura. Die Art und Weise, wie sie die anstehende Zusammenarbeit beschrieb, hob die Vorfreude noch höher. Erneut gesteigert wurde sie durch die Verabredung, dass ich nicht nur nachdichten, sondern die Originaltexte ohne Vermittler übersetzen würde. Selbstverständlich konnte ich Englisch nur rudimentär. Schul-Sprech nebst den Refrains von Rock- und Poptexten, wie sie aus dem Westradio erklangen, bildeten die Basis – und nun hochkarätige Literatur. Von den 51 Dichterinnen und Dichtern, deren (wie es damals hieß) Texte schließlich in der Anthologie versammelt wurden, sagten mir bis dato zwölf Namen etwas. Die Auswahl der beiden, mit denen ich zu tun bekäme, Philip Larkin und Geoffrey Hill… it didn’t ring a bell. Dann kamen die Kopien der Gedichte mit der Post. Frau Borchers vom Suhrkamp Verlag sorgte dafür, dass der Große Muret-Sanders bei mir einzog, das enzyklopädische Wörterbuch der deutschen und englischen Sprache.
Die Arbeit an den Mercian Hymns war aus heutiger Sicht sehr fruchtbar. Das Prosagedicht erforderte mehr, als es zu übersetzen, es musste erforscht werden. Vor der Zeit des Internets, in einer sich vor Gegenwart und Zukunft, also auch vor freier Sprachentwicklung möglichst abschottenden Weltgegend, war das eine Herausforderung. Das Ergebnis wurde trotz seiner Unzulänglichkeit (und Fehler) belohnt, im Sommer 1984. Auf einem Empfang der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR sprach mich Karl Mickel1 an. Aus meiner Sicht war er der größte Kenner und Könner in der ostdeutschen Versschmiede. Der zweitgrößte, Rainer Kirsch,2 stand daneben und begleitete mit Kopfnicken die Worte Mickels. Er riet mir, mich auf sinnvolle Arbeiten wie die Übertragung der Mercian Hymns zu konzentrieren, anstatt politische Gedichte oder Petitionen zu verfassen, wie es alle Welt tat. Da wären die Maßstäbe, darum sollte es „uns“ gehen. Die Botschaft kam an, nur konnte ich noch nicht danach handeln. Auf jeden Fall hatte sich die Arbeit gelohnt, wenn es solche Leser gab. Das machte mich stolz.
Auf das Nachdichten von fremdsprachigen Versen als Erwerbsmöglichkeit hatte Franz Fühmann hingewiesen, die erste Verbindung zu Reclam damals geknüpft. Die wenigsten Nachdichter, auch unter den etablierten, beherrschten das Idiom der jeweiligen Originale. Trotzdem wurde es in den achtziger Jahren auch für diejenigen, die aus dem Kontext des Veröffentlichten sonst ausgesperrt waren (eine große Zahl), eine Weise, auf literarischem Gebiet Geld zu verdienen. Wolfgang Hilbig konnte so maßgeblich an der Anthologie mitarbeiten. Dass sein Buch Stimme Stimme zur selben Zeit beim Reclam Verlag in Vorbereitung war, bedeutete ja nicht, dass er in den Kanon der geförderten Literatur Aufnahme fand. Es war wiederum Franz Fühmann zu verdanken, dass dieser verborgene Meister (bis dato nur im Westen veröffentlicht, nach den Gesetzen der Orwell-DDR illegal) einmal dort gedruckt wurde, wo er lebte. Die Zeit dieser Arbeit, also Hilbigs „Reclam-Jahre“ waren, glaube ich, vergleichsweise glücklich. Die Anglistin und Übersetzerin Silvia Morawetz, damals seine Lebensgefährtin, erarbeitete mit ihm zusammen die Übersetzungen von Louis MacNeice und Dylan Thomas. Derselben produktionserotischen Beziehung entsprangen auch die weiteren Übersetzungen von Gedichten für den Auswahlband Arbeit am Wortwerk, der 1985 mit Lyrik, Prosa und dem Hörstück von Dylan Thomas erschien. Zu der Zeit begann sich das Bild, das ich von Wolfgang Hilbig als Leser und jüngerer Freund hatte, zu überlagern mit dem, das ich mir stückweise von Dylan Thomas machte. Zwei trunkene Diener der weißen Göttin fanden Einlass bei Reclam Leipzig. Ohne die weltliterarische Konterbande in wohlfeilen Ausgaben dieses Verlages und weniger anderer wäre das ästhetische Bewusstsein in der DDR vermutlich ausgestorben.
Uwe Kolbe, 16. Februar 2016, aus Ingrid Sonntag (Hrsg.): An den Grenzen des Möglichen. Reclam Leipzig 1945–1991, Ch. Links Verlag, November 2016
Schreibe einen Kommentar