Anna Achmatowa: Vor den Fenstern Frost

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Anna Achmatowa: Vor den Fenstern Frost

Achmatowa-Vor den Fenstern Frost

Wenn von meinem schlimmen Ende
Einmal eine Nachricht zu ihm dringen wird,
Wirds ihn nicht trauriger, nicht bittrer machen.
Er wird lächeln und erbleichen.
Er wird sich wohl an einen Winterhimmel noch erinnern
Und an einen Schneesturm an der Newa lang.
Und denkt vielleicht an seinen Schwur,
Der Freundin aus dem Osten treu zu sein.

1917

 

 

 

Nachwort

Im Süden geboren und die Sommer der Kindheit und Jugend immer durchtollt auf der Krim als das wilde „Mädchen vom Meer“, ist Anna Achmatowa im Norden zur Dichterin geworden. Das Haus der Schuchardina in Zarskoje Selo bei Petersburg, in das die Eltern im Jahr nach ihrer Geburt zogen, lag unweit des Bahnhofs in der Schirokaja-Straße. Es ging auf die Besymjanny-Gasse hinaus, deren riesige Klettenbüsche und prächtige Brennesseln einst in ihre Gedichte kommen würden. Aber es war die große Stadt nebenan, ihre Stadt – Petersburg-Petrograd-Leningrad –, die aus Anna Gorenko Anna Achmatowa machte, wie sie sich nach einem tatarischen Ahnen nannte. „Nur eine Stadt kenn ich auf dieser Welt“, heißt es in der dritten der Nördlichen Elegien. In dieser Stadt lebt sie das kurze Leben mit dem Dichter Gumiljow, ihrem ersten Mann, der so schnell nach der Heirat und den gemeinsamen Paris- und Italienreisen in die Welt hinaus mußte, in das Land der Galla, Abessinien. In dieser Stadt begegnet sie Alexander Blok. In dieser Stadt macht sie den Aufstand der Akmeisten gegen den Symbolismus mit, den Wjatscheslaw Iwanow zu verhindern suchte. Man verweigert den schrecklichen Kontertanz der symbolistischen „Entsprechungen“. Dieses ewige Zuzwinkern – die „Rose“ meint das „Mädchen“, und das „Mädchen“ meint die „Rose“ – hatte schon längst nichts mehr zu tun mit den „Correspondances“, die Baudelaire so gerühmt hatte. Die Akmeisten lobten die Rose wieder als die Rose: Jede Erscheinung habe ihre Spitze, ihre Schärfe, ihre Kraft, ihre Reife, ihren Gipfel, kurz – ihre Akme.
In dieser Stadt treffen sie die Tode der Dichter. Gumiljow wird 1921 wenige Tage nach Bloks Tod erschossen: er hatte aus seinen monarchistischen Neigungen kein Hehl gemacht und war beschuldigt worden, zur „Taganzew-Verschwörung“ zu gehören. In dieser Stadt muß sie die Verhaftung und Verbannung ihres vertrautesten Freundes Ossip Mandelstam bestehen. In dieser Stadt wird 1935 ihr Sohn Lew (das 1912 geborene Lewchen) und ihr späterer Mann Nikolai Punin verhaftet. Und in dieser Stadt beginnt sie die Dichtung Poem ohne Held. Von den Tagen der ersten Widmung und der Einleitung her, vom 27. Dezember 1940, dem zweiten Todestag Ossip Mandelstams, und vom 25. August 1941, dem zwanzigsten Todestag Nikolai Gumiljows, wächst das Poem und wächst, zwanzig Jahre lang und duldet nichts Vergleichbares neben sich. Eine Gedächtnisdichtung, die das Jahrhundert bewahrt. Sie nimmt alle auf, den mit einem Kosenamen, den mit seinem Todesdatum und sogar einen „Gast aus der Zukunft“ – Sir Isaiah Berlin, ihre letzte große Liebe.

Fritz Mierau, Nachwort

 

Anna Achmatowa

gilt als die bedeutendste Lyrikerin der russischen Literatur, schon ihre ersten Gedichte erregten durch ihren unpathetischen Ton Aufmerksamkeit, sie wurde als frische, diesseitige Stimme bewundert. Ihre Lyrik ist ein Abschied vom Symbolismus; zusammen mit Mandelstam, Gumiljow und Narbut, der ersten Dichtergilde, wurde sie Mitbegründerin des Akmeismus, einer Bewegung, die eine klare, rationale Verskunst anstrebte. Der Band enthält kurze autobiographische Prosastücke und zehn Gedicht Anna Achmatowas, sowie zwei Briefe von Nikolai Gumiljow.

Friedenauer Presse, Klappentext, 1988

 

Grandios übersetzt, gute kleine Auswahl

Im Vergleich zu anderen Übersetzern (v.a. der von Alexander Nitzberg) hebt sich diese von Barbara Honigmann und Fritz Mierau wohltuend unprätentiös und in Alltagssprache ab. Eine kleine Auswahl von Gedichten (meist frühe) und einige kleine Prosastücke und Briefe aus den 50er Jahren: Erinnerungen an das Petersburg der 1910er-Jahre und Alexander Blok. Insgesamt eine wunderbare Auswahl, um eine große Dichterin zu entdecken.

Schnipkoweit, amazon.de, 6.9.2010

 

 

Irdische und himmlische Gerechtigkeit 

Anna Achmatowas unsterbliche Größe verursachte der Nachwelt keine geringen Probleme. Schon bald nach ihrem Tode kam es zu einem skandalösen Prozeß zwischen der Familie Punin und dem Sohn Lew um ihr literarisches Archiv. Ursprünglich wollte Achmatowa ihren ganzen Nachlaß dem Archiv des Leningrader Puschkin-Instituts überlassen, um, wie sie sagte, ihre „ewige Romanze“ mit Puschkin postum zu vollenden. Auf diese Lösung einigten sich der Sohn Lew, die Familie Punin und die engsten Freunde der Dichterin, als sie sich nach der Beerdigung versammelten. Für die Überlassung des Archivs – einer Reihe von Originalmanuskripten, die nach dem Tod der Autorin einen hohen Wert hatten – forderte der natürliche Erbe Lew eine symbolische Summe von hundert Rubel.
Der legendäre Koffer, von dem sich Achmatowa nie hatte trennen wollen, befand sich jedoch bei den Punins. Und Irina Punina und ihre Tochter Kaminskaja machten nun ein illegitimes Geschäft: Sie veräußerten das Archiv, das damit auseinandergerissen wurde, an die Leningrader Saltikow-Schtschedrin-Bibliothek und an das Moskauer Zentralarchiv für Literatur und Kunst. Diese wahrscheinlich sehr lukrative Transaktion wollte das Puschkin-Institut mit Lew Gumiljow als Nebenkläger vereiteln. Nach vier Jahren Prozeßdauer entschied ein Gericht des Leningrader Stadtbezirks Schdanow unter Ignorierung von Lews Vorrecht auf die Hinterlassenschaft zugunsten der Familie Punin.
Einige Zeitgenossen, unter ihnen Jossif Brodskij, ahnten hinter dieser juristischen Absurdität ein Manöver des KGB, das zum Ziel hatte, der Veröffentlichung unerwünschter Details über den Konflikt zwischen der Dichterin und der offiziellen Kulturpolitik vorzubeugen. Direkte Hinweise auf ein diesbezügliches Arrangement zwischen der Familie Punin und den hauptberuflichen Literaturliebhabern an der Lubjanka gibt es bis heute nicht. Tatsache jedoch ist, daß aufgrund der schlechten Quellenlage Leben und Werk Anna Achmatowas trotz Öffnung der Archive zu den besonders schwierig zu erforschenden Themen der neueren russischen Literaturgeschichte gehören.
Die Partei duldete den späten Ruhm Achmatowas, der insbesondere durch die „Inthronisierungen“ von Catania und Oxford seinen Ausdruck fand, und suchte aus der weltweiten Berühmtheit der Dichterin propagandistischen Profit zu ziehen. Zehn Jahre nach Achmatowas Tod erschien die bisher vollständigste kritische Ausgabe ihrer „Gedichte und Poeme“, auch diesmal mit einem Vorwort des wohlwollenden Zensors Aleksej Surkow, der bei aller Pietät gegenüber der Lyrikerin nicht darauf verzichtete, in einem Halbsatz die Beschlüsse vom August 1946 zu erwähnen – ohne diese zu loben, aber auch ohne sie zu verurteilen. Die von Wiktor Schirmunskij, dem zur Erscheinungszeit des Buches bereits verstorbenen Literaturhistoriker, gewissenhaft zusammengestellten Fußnoten entbehrten ebenfalls jeder Anspielung auf dramatische Konflikte im Leben der Autorin – sei es die Erschießung ihres ersten Ehemanns, die Verhaftung des zweiten Ehemanns oder schließlich die Lagerhaft des Sohnes. Auch fehlt jeglicher Verweis auf die Schdanowrede. Fast alle Gedichte, die Sir Isaiah Berlin gewidmet sind, wurden in die Anthologie aufgenommen, aber sein Name findet sich in keiner einzigen Anmerkung. Und selbstverständlich fehlt das „Requiem“, die lyrische Abrechnung mit dem Großen Terror der dreißiger Jahre.
Doch sogar eine derart begrenzte offizielle Anerkennung enthielt Elemente der Kanonisierung und spaltete die imaginäre Gemeinde der Dichterin. Auf der einen Seite fanden sich jene, die eine domestizierte klassische Achmatowa in die sowjetische Kultur aufgenommen sehen wollten – sei es, daß sie einfach nur wohlwollend waren, sei es, daß sie dem Weg des geringsten Widerstands folgten. Die Dichterin wurde immer häufiger zitiert, und es gab plötzlich eine Reihe zeitgenössischer Erinnerungen an sie in den Literaturzeitschriften. Zwar enthielten diese einige neue und interessante Erkenntnisse, aber dennoch trugen sie, weil ihre Autoren die bestehenden Tabus respektierten, dazu bei, ein sentimental-verlogenes Achmatowa-Bild zu bestätigen.
Auf der anderen Seite waren die engsten Freunde der Dichterin bemüht, dem drohenden Verkitschungsprozeß entgegenzuwirken. Die Veröffentlichung von Lidia Tschukowskajas Aufzeichnungen bei einem russischen Exilverlag im Jahre 1980 war etwas grundsätzlich Neues und brachte Bewegung in die immer wieder kolportierten Achmatowa-Klischees. Das Buch dokumentierte den kontinuierlichen und nicht bloß politischen, sondern auch kulturellen Widerstand der Dichterin. In eine ähnliche Richtung wiesen die Veröffentlichungen von Emma Gerstejn, Jossif Brodskij, Jewgenij Rein und Anatolij Najman in den achtziger Jahren.
Eine besondere Rolle in der Achmatowa-Rezeption kam Nadeshda Jakowlewna Mandelstam zu. Ihr erstes Buch Is vospominanij (dt.: Jahrhundert der Wölfe) enthielt eine Reihe wichtiger authentischer Details über die gemeinsamen Jahre von Nadeshda Mandelstam und Anna Achmatowa. Aber bei der Lektüre dieses ersten Werkes beschlich mich der Verdacht, daß die Autorin, dem eigenen expressiven Erzählstil verfallen, zur Literarisierung der Realität neigt. Die Fortsetzung Wtoraja kniga (dt.: Zweites Buch) ist von einer wachsenden Ambivalenz, um nicht zu sagen Haßliebe gegenüber der toten Freundin gekennzeichnet, die vor allem auf sprachlicher Ebene spürbar ist. Auch wird das soziale Umfeld Achmatowas in ätzend-sarkastischer Weise diffamiert. Als einzig Gerechte bleibt am Ende die Autorin selbst übrig, die sich der großen Dichterin ebenbürtig fühlt.
Diese Verzerrung des Achmatowa-Bildes bei Nadeshda Mandelstam ist auf unverarbeitete Konflikte zwischen den beiden Frauen zurückzuführen, hängt aber auch mit der Tatsache zusammen, daß Ossip Mandelstams literarische Rehabilitierung viel weniger erfolgreich war als die von Anna Achmatowa. Für eine Frau, deren ganzes Leben dem verfemten, hingemordeten und totgeschwiegenen Dichter gewidmet war, mußte dieser Zustand auf längere Sicht unerträglich sein. Für sie ging es um den Sinn ihres Lebens. Hätte Mandelstam postum ähnliche Ehrungen erlangt wie Anna Achmatowa, so wäre Nadeshda die Witwe eines tragischen Königs gewesen. So jedoch war ihr aus ihrer Perspektive nichts weiter gelungen, als die Hofdame einer tragischen Königin zu werden – und nicht einmal die ranghöchste. Nadeshda Mandelstams Irrtum dabei war, daß Achmatowa tatsächlich eine höhere Stufe der öffentlichen Akzeptanz erlebte als Ossip Mandelstam, aber nie eine echte, eindeutige Wiederherstellung ihres poetischen Ranges.
Die Herrenriege auf dem Alten Platz in Moskau, dem Sitz des Zentralkomitees, beschäftigte sich an jenem Oktobertag des Jahres 1988 mit sowjetischer Partei- und russischer Literaturgeschichte gleichzeitig. Sämtliche Mitglieder und Kandidaten des Politbüros waren anwesend: Weder der Reformgegner Ligatschow noch der Reformer Jakowlew fehlte, und Außenminister Schewardnadse war ebenso anwesend wie Verteidigungsminister Jasow. Um der Brisanz des Themas gerecht zu werden, präsidierte Michail Gorbatschow höchstpersönlich.
Formal ging es um die Prüfung von zwei Anträgen: Der Sowjetische Schriftstellerverband und das Partei-Kreiskomitee Leningrad hatten sich an die höchste Machtinstanz des Landes mit der Bitte gewandt, den offiziellen Standpunkt zu den verstorbenen Literaten Michail Soschtschenko und Anna Achmatowa endlich öffentlich zu ändern. In dem als „streng geheim“ eingestuften Protokoll der Politbürositzung wurde der Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU (damals noch Allunions-Kommunistische Partei/Bolschewiki) vom 14. August 1946 in neunzehn Zeilen für ungültig erklärt.
In jenem Beschluß über die Zeitschriften Swesda und Leningrad, so hieß es, wurden „die Leninschen Prinzipien der Zusammenarbeit mit der künstlerischen Intelligenz verfälscht, namhafte sowjetische Autoren wurden einer unbegründeten und groben Behandlung ausgesetzt. Die von der Partei unter den Bedingungen der revolutionären Perestroika durchgeführte Politik auf dem Gebiet der Literatur und Kunst hat die Thesen und Schlußfolgerungen von damals praktisch desavouiert und überwunden, der gute Name der Schriftsteller wurde wiederhergestellt ihre Werke dem sowjetischen Leser zurückgegeben. Das Zentralkomitee der KPdSU beschließt: Den Beschluß des ZK der AKP/B ,Über die Zeitschriften Swesda und Leningrad‘ als fehlerhaft aufzuheben. Michail Gorbatschow.“
Ohne die Verdienste des Vaters der Perestroika schmälern zu wollen, muß doch auf einige Besonderheiten dieser mit Sicherheit gut gemeinten Entscheidung hingewiesen werden. Vor allem handelt es sich bei diesem Dokument nicht um einen Beschluß im engen Sinne des Wortes, also nicht um eine amtliche Verfügung, mit der man bevorstehende oder noch zu gestaltende Ereignisse regeln will. Spätestens seit dem Frühjahr 1986, als die Wochenschrift Ogonjok Nikolaj Gumiljows Gedichte gedruckt hatte und auch Pasternaks Doktor Schiwago herausgegeben wurde, war im literarischen Tabusystem der Sowjetunion eine irreparable Bresche entstanden. Achmatowas wegzensierte Gedichte und Soschtschenkos diffamierte Erzählungen waren bei weitem nicht die explosivsten Texte, die 1988 plötzlich gedruckt werden durften.
Nicht nur das literarische und publizistische Leben war zu dieser Zeit, aus der Perspektive der Partei betrachtet, außer Kontrolle geraten. Die Katastrophe von Tschernobyl, das Erdbeben in Armenien, die nationalen Konflikte in Kasachstan und Berg-Karabach, Matthias Rusts Landung auf dem Roten Platz, aber auch die weniger spektakulären ökonomischen Veränderungen zeigten, daß die Machtausübung in dem Riesenreich allmählich in ein hoffnungsloses Desaster überging.
Gorbatschows Mannschaft wurde von den Aktualitäten ständig eingeholt oder überrumpelt. Wahrscheinlich versuchten die Politiker, mit Beschlüssen wie dem oben zitierten die Gegenwartskritik zu dämpfen, indem sie den Wahrheitshunger der neuen Öffentlichkeit auf die Vergangenheit lenkten und mit immer größeren Brocken von Enthüllungen und Beispielen später Gerechtigkeit fütterten. Nach und nach wurde die gesamte sowjetische Geschichte zur Disposition gestellt. Die Parteiführung stand unter Zeitdruck.
Eilig hatten es aber auch die Literaten. In den Tagen der Politbürositzung im Oktober 1988 warteten die wichtigsten Publikationen von und über Anna Achmatowa bereits in den Druckereien. Es näherte sich der 100. Geburtstag der Dichterin. Ihre Bücher und die entsprechenden Sonderausgaben der Zeitschriften mußten rechtzeitig auf den Markt kommen. So war die Überprüfung von Stalins und Schdanows zweiundvierzig Jahre alten Injurien eine verspätete Reflexion vollendeter Tatsachen, nicht viel mehr als eine symbolische Geste.
Da jedoch Symbolik auch in der Poesie – in Anna Achmatowas Œuvre ohnehin – nicht jeder Wichtigkeit entbehrt, muß der Beschluß Gorbatschows trotzdem ernst genommen und inhaltlich beurteilt werden. Doch in dieser Hinsicht ist der Text äußerst dürftig. Ich meine damit nicht die hölzerne Sprache, die bis heute die Formulierungen der politischen Elite Rußlands bestimmt. Sogar die Beschwörung der „Leninschen Prinzipien“ paßt in diesen Zusammenhang, obwohl die Plausibilität dieser Redewendung von der Tatsache, daß Gumiljow unter Lenins Herrschaft im Jahre 1921 erschossen wurde, ein wenig getrübt wird. Letztlich war es den Genossen des Politbüros mitsamt der Genossin Birjukowa nicht gelungen, über ihren Schatten zu springen. In einem wichtigen Punkt jedoch ist der Beschluß sogar für den Zeitpunkt seines Zustandekommens nicht korrekt.
Im August 1946 waren die beiden Leningrader Literaturzeitschriften scharf kritisiert worden, ihre Redakteure und andere Funktionäre wurden streng gerügt. Dabei wurde Soschtschenko als „Schuft“ und Achmatowa als „Dirne“ in einer größtmöglichen Öffentlichkeit diffamiert. Da der Augustbeschluß unter anderem jedes Jahr in der Presse gefeiert wurde, blieb besonders das Wort „Dirne“ noch lange im Bewußtsein der prüden russischen Gesellschaft haften und klebte emblematisch an dem Namen der Dichterin.
Doch Schdanows offizielles Ansehen war nach wie vor unangefochten. In der Großen Sowjetenzyklopädie findet sich unter dem Stichwort „Schdanow“ noch bis in die späten achtziger Jahre außer der Person des Chefideologen eine Stadt Schdanow, eine Stadt Schdanowsk (in Achmatowas Todesjahr 1966 nach ihrem Todfeind benannt), ein Dorf Schdanowka, ein Museum sowie zwei metallurgische Kombinate. Die Leningrader Universität trug ebenfalls den Namen des Inquisitors, und die letzte Wohnung Achmatowas lag ausgerechnet in dem nach Schdanow benannten Stadtbezirk.
Angesichts solcher Tatsachen kann die Echtheit jeglicher Rehabilitierungsabsicht in bezug auf Anna Achmatowa ausschließlich daran gemessen werden, ob als erstes deren menschliche Würde wiederhergestellt wurde. Ein Beschluß, der den gedemütigten, verleumdeten Autoren die „Rückgabe des guten Namens“ in Aussicht stellt und diese Namen nicht einmal nennt, ist nichts anderes als die Fortsetzung alter Demütigungen und Verleumdungen mit anderen Mitteln.

Versteckt am Hoftor sah mich
Der schlaue Mondenschein,
Ich tauschte die Unsterblichkeit
Für jenen Abend ein.

Nun wird man mich vergessen,
Die Bücher faulen verkannt,
Und nicht Straße noch Strophe
Wird nach Achmatowa benannt.

Diese Verse schrieb Achmatowa am 27. Januar 1946, kurz vor dem zweiten Besuch Isaiah Berlins in Leningrad. Die hier zum Ausdruck gebrachte Furcht läßt die Interpretation zu, daß Achmatowa bereits die Vergeltung der Staatsmacht vorausahnte: Wegen des nächtlichen Rendezvous mit dem spionageverdächtigen Ausländer würde man ihr das Schreiben verbieten, also von Amts wegen ihre dichterische Unsterblichkeit verhindern. Bereits früher, schon zu Kriegszeiten in Taschkent, hatte ihre Intuition das Schdanowsche Strafgericht vorausgesehen. Die Ängste aus dieser Zeit verewigte sie damals in ihrem Dramenfragment mit dem Titel Enuma elisch (altbabylonisch „Dort oben“). Dies war das „verbrannte Drama“, das sie ihrem „Gast aus der Zukunft“ gern als Abschiedsgeschenk gewidmet hätte, aber nicht mehr zur Verfügung hatte.
Es gibt jedoch noch eine andere Deutungsmöglichkeit. Die acht Zeilen handeln von einem faustischen Geschäft: Liebe gegen Unsterblichkeit. Isaiah Berlin betrat an jenem Abend nicht nur das Zimmer an der Fontanka 34 mit der einzigen Modigliani-Zeichnung an der Wand, die Bürgerkrieg und Blockade heil überstanden hatte. Er landete außerdem mitten im Poem ohne Held, dem unvollendeten Werk, das seit 1940 die eigentliche Wirklichkeit der Dichterin bildete – daher die kursiv gesetzte exaltierte Strophe über den „Gast“ sowie die direkte melancholische Befürchtung, daß es aufgrund des Tauschgeschäftes niemals eine Achmatowa-Strophe und auch keine Achmatowa-Straße geben würde: Für ein winziges Quentchen Glück muß die Dichterin den allerhöchsten Preis zahlen, und dieser ist die Dichtung selbst.
Der Wunsch, durch ihre Achmatowa-Strophe Unsterblichkeit zu erlangen, bezieht sich direkt auf das „Poem“. Viel später riet Achmatowa dem jungen Jossif Brodskij, falls er ein größeres Gedicht schreiben wolle, müsse er als erstes ein nur ihm zugehöriges Reim- und Versmaßschema finden. Jeder große Dichter habe eine eigene Versform hervorgebracht – so Puschkin die berühmte „Onegin-Strophe“ oder Byron seine Stanzen. Achmatowa selbst hatte just für das „Poem“ eine eigene Formel erarbeitet. Die in Literatenkreisen verbreitete Auffassung, die „Achmatowa-Strophe“ sei nicht ganz originell, sondern ahme eine Versform Michail Kusmins nach, beleidigte die Dichterin womöglich mehr als alle infamen Angriffe des Parteiapparats.
Doch Isaiah Berlin hat der „Achmatowa-Strophe“ letztlich nicht geschadet. Das „Poem“ konnte 1962 vollendet werden, und der Oxforder Professor ging als bedeutende männliche Muse in die Literaturgeschichte ein. Als solche war er zum richtigen Zeitpunkt, im passenden biographischen Moment erschienen und hatte die Zündschnur der Inspiration bedient. Mehr haben Musen nicht zu tun; alles andere wird vom Schicksal und vom Genie erledige.
Was die Achmatowa-Straße betrifft, so kam hier eine andere Muse zum Zuge, nämlich die der Geschichte. Klio verfügte, und der Stadtsowjet von Odessa folgte ihr: 1987 wurde die dortige Ukrainische Straße nach Anna Achmatowa benannt. Die offizielle Distanzierung der KPdSU von Schdanow ließ hingegen noch ein ganzes Jahr auf sich warten. Wie allgemein bekannt, haben Parteien keine Musen und sind daher nur schwer zu inspirieren.

Zwei russische Frauen machten sich bereits in den frühen achtziger Jahren Sorgen, nicht um die Unsterblichkeit Achmatowas, an der sie nicht den geringsten Zweifel hatten, sondern darum, wie man den Lebenden diese Unsterblichkeit demonstrieren könnte. Ljudmila Karatschkina und Ljudmila Schurawljowa waren Mitarbeiterinnen des Astrophysischen Instituts auf der Krim. Sie wußten daher, daß Astronomen ein Anrecht auf die Namensgebung der von ihnen entdeckten Himmelskörper haben, und deshalb benannten sie einen kleinen Planeten nach der großen Dichterin.
Der Asteroid Nr. 3067 war zum ersten Mal 1938 in Finnland gesichtet worden, und 1962 war er in der Linse des Brooklyner Observatoriums erschienen. Beides waren jedoch Einzelbeobachtungen mit wenig wissenschaftlicher Aussagekraft. 1972, 1977 und 1980 konnte man den kleinen Planeten bereits von der Sternwarte Nautschnyj auf der Halbinsel Krim aus sehen, nicht jedoch seine Laufbahn präzisieren. Erst zwischen dem 14. Oktober und 9. November 1982 (Breschnews Todestag) gelang es den beiden Astronominnen, durch fünf Beobachtungen Genaueres festzustellen. Die Japaner Furuta und Nakano, die sich bereits als Berechner der Laufbahn von Gestirnen einen Namen gemacht hatten, konnten nun die Ergebnisse der früheren Untersuchungen aktualisieren.
Demnach ist der Planet nahezu kreisförmig. Sein Durchmesser beläuft sich auf neun Kilometer, seine durchschnittliche Entfernung von der Sonne beträgt 336 Millionen Kilometer, die minimale Distanz von der Erde 141 Millionen Kilometer. Die nächste Opposition ist für den 1. März 1996 zu erwarten. Der Planet wird dabei im Sternbild des Löwen stehen und wie ein Sternlein von 15 Sterngrößen – also recht klein – aussehen.
Dies alles entnehme ich einem Brief der einen von den beiden Ljudmilas vom September 1995, und als Amateur bin ich überhaupt nicht sicher, ob ich alle Fachausdrücke, die Frau Karatschkina verwendet, richtig verstehe. Nur eines verstehe ich ganz genau: Im letzten Satz des Briefes kommt das Wort „Stern“ dreimal vor, eben dasselbe Wort, das auf russisch „Swesda“ heißt wie die Leningrader Literaturzeitschrift. So hat Anna Achmatowa ihre eigene „Swesda“ erhalten, und es gibt doch eine Gerechtigkeit – wenn schon nicht auf Erden, so doch wenigstens am Himmel.
Außerdem erfuhr ich von Ljudmila Karatschkina etwas ausgesprochen Kurioses: Sie hatte an der Staatsuniversität Rostow studiert, und der Rektor war ein großer Liebhaber der Poesie und der Sternenwelt. Er hieß Jurij Andrejewitsch Schdanow und war ein leiblicher Sohn des Inquisitors. Als junger Mann war er für ein paar Jahre eine unglückliche dynastische Ehe mit Stalins Tochter Swetlana eingegangen, um sich danach endgültig aus der Sphäre des Kreml zurückzuziehen. Der Lehrstuhl Astronomie an der Universität Rostow war seine ureigenste Erfindung.
Was die Zulassung des Namens „Achmatowa“ für den Asteroiden betrifft, so äußerte sich Ljudmila Georgijewna Karatschkina zurückhaltend: „An Schlimmes erinnere man sich nicht gern“, schreibt sie.

Es war lange unklar, ob es uns gelingen würde, die Benennung durchzusetzen. Wir operierten mit Formulierungen wie „sowjetrussische Dichterin“ – ein Zugeständnis an die Zeit.

Doch schließlich wurde der kleine Planet Nr. 3067 in das Verzeichnis „Minor Planet Circulars“ unter „Akhmatova“ aufgenommen – sechs Jahre, nachdem man seine Laufbahn und sonstigen Charakteristika festgestellt hatte. Die Begründung:

Named in honour of Anna Andreevna Akhmatova (1889–1966), Oucscanding Poetress, awarded an honorary doctorate by the University of Oxford.

Das Observatorium auf der Krim-Halbinsel wurde in den achtziger Jahren zu einer Art Rehabilitationszentrum für russische Poeten und Künstler, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten verboten, eingesperrt, getötet, in den Selbstmord getrieben oder totgeschwiegen worden waren. Die Entdeckungen der beiden Ljudmilas lassen sich wie eine astronomisch exakte Korrektur der sowjetischen Kulturpolitik lesen. Ein Ausschnitt:

Nummer   Jahr   Name   

5759         1980    Michail Soschtschenko
3508         1980   Boris Pasternak
3067         1982   Anna Achmatowa
3345         1982   Andrej Tarkowskij
3469         1982   Michail Bulgakow
3511          1982   Marina Zwetajewa
4556         1987   Nikolaj Gumiljow
5808        1987   Isaak Babel

Besonders auffällig ist, daß der Name Ossip Mandelstam auf dieser Liste fehlt. Heimlich hoffe ich außerdem auf eine andere Ergänzung. Ich wünsche mir einen Asteroiden, der zur Erbauung aller gedemütigten und in Ungnade gefallenen Dichter einen stolzen und bescheidenen Namen trägt: „Gast aus der Zukunft“.

György Dalos, aus György Dalos: Der Gast aus der Zukunft. Anna Achmatowa und Sir Isaiah Berlin. Eine Liebesgeschichte, Europäische Verlagsanstalt, 1996

 

 

Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.

 

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa

Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa

Zum 2. Todestag der Autorin:

Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968

Zum 100. Geburtstag der Autorin:

Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989

Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram + dekoder +
Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Anna Achmatowa Begräbnis.

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