Anne Carson: Rot

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Anne Carson: Rot

Carson-Rot

XXVII. MITWELT

Einen Menschen ohne Welt gibt es nicht.

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Das rote Monster saß an einem Ecktisch im Café Mitwelt und schrieb Heideggerfragmente auf die Postkarten die es gekauft hatte.

Sie sind das was sie betreiben
es sind viele Deutsche in
Buenos Aires sie sind alle
Fußballer das Wetter ist
herrlich wünschte du wärst hier
GERYON

schrieb er seinem Bruder der jetzt Sportreporter bei einem Radiosender am Festland war.
Am Ende der Bar bei den Whiskeyflaschen
sah Geryon einen Kellner der einem zweiten hinter vorgehaltener Hand etwas sagte.
Er vermutete, dass sie ihn bald
hinauswerfen würden. Konnten sie an der Neigung seines Körpers, an den Bewegungen
seiner Hand ablesen, dass er
Deutsch schrieb und nicht Spanisch? War bestimmt verboten. Geryon hatte die letzten
drei Jahre am College
deutsche Philosophie studiert, wahrscheinlich wussten die Kellner auch das. Er bewegte
die oberen Rückenmuskeln im Inneren
seines riesigen Mantels, zog die Flügel an und legte sich die nächste Postkarte hin.

Zum verlorenen Hören
Es sind viele Deutsche
in Buenos Aires sie sind
alle Psychoanalytiker das
Wetter ist herrlich ich
wünschte Sie wären hier
GERYON

schrieb er an seinen Philosophieprofessor. Aber jetzt fiel ihm auf, dass einer der Kellner auf ihn zu kam. Angst schoss ihm durch
die Lungen eine kalte Gischt. Er kramte in seinem Inneren nach spanischen Sätzen.
Bitte holen Sie keine Polizei –
wie klang Spanisch? er konnte sich an kein einziges spanisches Wort erinnern.
Unregelmäßige deutsche Verben
marschierten durch seinen Kopf als der Kellner zu ihm an den Tisch trat und
mit einem strahlend weißen Tuch
über dem Unterarm sich sacht in Geryons Richtung beugte. Aufwärts abwärts
rückwärts vorwärts auswärts einwärts
umkreiselten einander in wirren Schwärmen während Geryon dem Kellner dabei zusah
wie er die Kaffeetasse geschickt
aus dem Postkartenchaos auf seinem Tisch zog, sich das Tuch glattstrich
und in perfektem Englisch fragte
Would the gentleman like another expresso? aber Geryon war schon damit beschäftigt
auf seine Füße zu stolpern in der einen Hand
die Postkarten Münzen prasselten auf die Tischdecke und er polterte nach draußen.
Geryon hatte keine Angst vor Spott,
an den hatte ihn das tägliche Leben als rotflügelige Person schon früh gewöhnt, ihn
trieb zur Verzweiflung wie sein eigener Kopf ihm blindlings
von der Fahne ging. Vielleicht war er verrückt. In der siebten Klasse hatte er bezüglich
dieser Sorge ein Forschungsprojekt durchgeführt.
Damals hatte er zum ersten Mal über das Lärmen der Farben nachgedacht. Durch
den Garten dröhnten ihn die Rosen an.
In der Nacht lag er auf seinem Bett und horchte auf das silberne Licht der Sterne
das gegen die Fensterscheibe polterte. Die meisten
seiner Interviewpartner mussten zugeben dass sie die Schreie der Rosen die bei
lebendigem Leib in der
Mittagssonne verbrannten nicht hören konnten. Wie Pferde, schob Geryon
bereitwillig hinterher, wie Pferde im Krieg. Nein, Kopfschütteln.
Warum heißt es Schneidgras? fragte er sie. Nicht weil es so schnippt?
Sie starrten ihn an. Du solltest
mit den Rosen sprechen nicht mit Menschen, sagte sein Projektbetreuer. Der Gedanke
gefiel Geryon. Ein Foto vom Rosenstrauch
seiner Mutter unter dem Küchenfenster wurde zur letzten Seite seines Projekts.
Vier der Rosen standen in Flammen.
Rein und aufrecht standen sie auf ihren Stängeln, griffen ins Dunkel wie Propheten
und ließen ihre geschmolzenen Rachenwände
massive Vertraulichkeiten jaulen. Hat deiner Mutter das nichts ausgemacht –
Signor! Etwas Hartes traf ihn
am Rücken. Geryon stand erstarrt mitten auf einem Gehsteig
in Buenos Aires
Menschen fluteten zu beiden Seiten seines Mantels an ihm vorbei. Menschen,
dachte Geryon, für die das Leben
ein berückendes Abenteuer war. Er entfernte sich in die Tragikomödie der Menge.

FLEISCH, NOCH ROT:
WAS WURDE
MIT STESICHOROS ANDERS?

I like the feeling of words doing
as they want tO dO and as they have to do.

Ich habe gern das Gefühl, dass Wörter tun
was sie tun wollen und was sie tun müssen.

Gertrud Stein

Er kam zwischen Homer und Gertrude Stein, keine leichte Periode für einen Dichter. Um 650 v.Chr. wurde er in einer Stadt namens Himera an der Nordküste Siziliens geboren. Dort lebte er unter Flüchtlingen, die einen Mischdialekt aus Chalkidisch und Dorisch sprachen. Eine Flüchtlingsgesellschaft hungert nach Sprache und ist auf alles gefasst. Wörter auf dem Sprung. Wenn man Wörter lässt, tun sie, was sie tun wollen und was sie tun müssen. Stesichoros’ Wörter wurden in 26 Büchern gesammelt, von denen etwa ein Dutzend Titel und einige Sammlungen mit Fragmenten erhalten sind. Von seinem Berufsleben ist wenig bekannt (abgesehen von der berühmten Geschichte über seine Blendung durch Helena; siehe Appendizes A, B, C). Anscheinend war er äußerst populär. Wie sahen ihn die Kritiker? Die Antike verbindet mit seinem Namen viel Lob. „Von den lyrischen Dichtern kommt er Homer am nächsten“, sagt Longinus. „Lässt diese alten Geschichten wie neu wirken“, sagt Suidas. „Ihn treibt das Verlangen nach Veränderung“, sagt Dionysios von Halikarnassos. „Sein genialer Gebrauch von Adjektiven bezaubert!“ ergänzt Hermogenes. Damit rühren wir an den Kern der Frage „Was wurde mit Stesichoros anders?“ Ein Vergleich könnte hier hilfreich sein. Als Gertrude Stein Picasso charakterisieren sollte, sagte sie, „Der hat gearbeitet.“ Sagen wir also über Stesichoros, „Der hat Adjektive gebildet.“
Was ist ein Adjektiv? Substantive sind die Namensgeber der Welt. Verben bringen die Namen in Bewegung. Adjektive kommen von woanders. Das Wort Adjektiv (auf Griechisch Epitheton) ist selbst ein Adjektiv und bedeutet „hinzugefügt“, „ergänzt“, „addiert“, „eingeführt“, „fremd“. Adjektive wirken wie recht unschuldige Ergänzungen, aber sehen wir sie uns genauer an. Diese kleinen importierten Mechanismen haben die Aufgabe, alles auf der Welt mit dem Platz zu verklammern, der seiner Eigenheit entspricht. Sie sind die Spannbügel des Seins.
Selbstverständlich gibt es verschiedene Möglichkeiten zu sein. In der Welt des homerischen Epos etwa ist das Sein stabil und Eigenheiten sind fest gegründet in der Tradition. Wenn Homer von Blut spricht, ist das Blut schwarz. Tauchen Frauen auf, so sind diese Frauen zartknöchelig oder blickend. Poseidon hat immer Poseidons blaue Augenbrauen. Das Lachen der Götter ist unstillbar. Menschliche Knie sind flink. Das Meer ist unermüdlich. Der Tod ist schlecht. Die Lebern von Feiglingen sind weiß. Homers Epitheta sind feste Fügungen, in denen er jede Substanz dieser Welt mit dem für sie treffendsten Attribut kurzschließt. So hält er sie an ihrem Platz und macht sie episch konsumierbar. Darin liegt etwas Leidenschaftliches, aber um welche Art von Leidenschaft handelt es sich? „Konsum ist keine Leidenschaft für Substanzen, sondern eine Leidenschaft für den Code“, sagt Baudrillard.
Mitten hinein in die glatte Oberfläche dieses Codes wurde also Stesichoros geboren. Und er studierte diese Oberfläche beharrlich. Sie neigte sich von ihm weg. Er ging näher hin. Sie hielt inne. „Leidenschaft für Substanzen“ scheint diesen Moment gut zu beschreiben. Und aus irgendeinem Grund begann Stesichoros, die Spannbügel zu lösen.
Stesichoros entriegelte das Sein. Alle Substanzen der Welt begannen zu schweben. Plötzlich gab es nichts mehr, das Pferde daran hinderte, hohlhufig zu sein. Oder einen Fluss wurzelsilbern. Oder ein Kind ohne Druckstellen. Oder die Hölle tief wie die Sonne hoch. Oder Herkules quälereienfest. Oder einen Planeten stecken geblieben in der Mitte der Nacht. Oder einen Schlaflosen jenseits der Freude. Oder Tötungen cremeschwarz. Manche Substanzen erwiesen sich als komplexer. Mit Helena von Troja zum Beispiel war eine Adjektivtradition der Hurerei verbunden, die schon alt gewesen war, als Homer sie benutzte. Und als nun Stesichoros die Verklammerung zwischen Helena und ihrem Epitheton löste, strömte ein solches Licht heraus, dass es ihn womöglich für einen Moment blendete. Die Frage nach Stesichoros’ Blendung durch Helena ist eine große Frage (siehe Appendizes A, B), selbst wenn sie für gewöhnlich als unbeantwortbar gilt (siehe aber Appendix C).
Ein leichter zu handhabendes Beispiel ist Geryon. Geryon heißt eine Figur aus dem altgriechischen Mythos, über die Stesichoros ein sehr langes lyrisches Gedicht in triadischer Struktur und daktylo-epitritischem Versbau geschrieben hat. Ungefähr 84 Papyrusfragmente und ein halbes Dutzend Zitatstellen sind erhalten, die in Standardausgaben als Geryoneis („die Sache Geryon“) geführt werden. Sie erzählen von einem eigenartigen roten Monster mit Flügeln, das ohne weiter aufzufallen auf einer Insel namens Erytheia lebte (Erytheia ist ein Adjektiv, das einfach „Der Rote Ort“ bedeutet) und dort eine legendäre Herde roter Rinder hielt, bis eines Tages Herkules der Held übers Meer kam und es wegen seiner Rinder tötete. Eine solche Geschichte ließ sich auf vielerlei Weise erzählen. Herkules war ein bedeutender griechischer Held und Geryon zu eliminieren gehörte zu Seinen gefeierten Aufgaben. Wäre Stesichoros ein konventionellerer Dichter gewesen, hätte er vielleicht Herkules’ Perspektive eingenommen und einen packenden Bericht vom Sieg der Kultur über das Monströse formuliert. Stattdessen zeigen die existierenden Fragmente von Stesichoros’ Gedicht einen dramatischen Querschnitt von Szenen aus Geryons eigenem Erleben, teils von Stolz erfüllt, teils mitleiderregend. Wir sehen das Leben eines roten Jungen und seines Hundes. Eine Szene mit einer stürmischen Beschwörung durch seine Mutter, die abbricht. Eingestreute Momentaufnahmen von Herkules, der auf dem Meer näherkommt. Ein Blitzlicht auf die Götter, die vom Himmel aus auf Geryons Schicksal weisen. Den Kampf selbst. Den Moment, in dem sich alles plötzlich verlangsamt und Herkules’ Pfeil Geryon den Schädel spaltet. Wir sehen, wie Herkules den kleinen Hund mit Seiner berühmten Keule tötet.
Aber genug des Proömiums. Sie können sich selbst eine Antwort auf die Frage geben „Was wurde mit Stesichoros anders?“, wenn Sie sich sein Meisterwerk ansehen. Einige der wichtigsten Fragmente finden Sie hier unten. Sollte Ihnen der Text schwierig vorkommen, so sind Sie damit nicht allein. Die Zeit ist mit Stesichoros nicht gnädig umgegangen. Nirgendwo werden mehr als 30 Zeilen von ihm zitiert und die Papyrusstücke (die man weiterhin findet: zuletzt wurden 1977 in Ägypten Fragmente aus einer Kartonage geborgen) verbergen genauso viel wie sie sagen. Das gesamte Korpus der Stesichoros-Fragmente im griechischen Original wurde bis jetzt 13-mal von verschiedenen Herausgebern veröffentlicht, den Anfang machte Bergk im Jahr 1882. Keine Ausgabe stimmt mit einer der anderen inhaltlich oder in der Reihung des Inhalts vollkommen überein. Bergk sagt, die Geschichte eines Texts sei wie eine lange Liebkosung. Ganz gleich, wie es sich damit verhalten mag, die Fragmente der Geryoneis lesen sich, als ob Stesichoros ein umfängliches Erzählgedicht verfasst, es dann zerfetzt und die Fetzen in einem Kästchen begraben hätte, zusammen mit einigen Liedtexten, Vortragsnotizen und Fleischstückchen. Die Nummerierung entspricht grob der Reihenfolge, in der die Stücke aus dem Kästchen herausgefallen sind. Natürlich kann man das Kästchen auch weiter schütteln. „Glauben Sie mir um des Fleisches und um meiner selbst willen“, wie Gertrude Stein sagt. Hier. Schütteln.

Anne Carson: „Rotes Fleisch: Die Stesichoros-Fragmente“ übersetzt und gelesen von Anja Utler.

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„Die Prosa / ist ein Haus

die Poesie ein Mann in Flammen der / ziemlich schnell hindurch rennt“ – Die Prosa ist die Welt, aber um sich ein echtes Bild von ihr zu machen, braucht es die Poesie und einen „Mann in Flammen“.
Als Dichterin ist Anne Carson zugleich auch Altphilologin. Jedes Wort trägt so zwei Koffer, auf dem einen steht Herkules und Geryon, auf dem anderen Front und Fotografie. Und so ist der „Mann in Flammen“ einmal der rotgeflügelte Hirte Geryon, den Herkules besiegt, um dessen rote Rinder zu stehlen. Aber zweitausend Jahre später ist Herkules „Sad but Great“, ein Herumstreuner und Kriegsveteran, der zum Gefährten und später zum Geliebten von G. wird, einem Heranwachsenden, der mit fünf Jahren beginnt, an einer „Autobiographie von Rot“ zu schreiben und später als Fotograf Schneisen in das Labyrinth seiner Welt zu schlagen versucht. Ihre Geschichte, wild und anrührend, verwegen und zärtlich, erzählt Rot in zwei Büchern, die hier zum ersten Mal zusammengefasst sind: „Autobiographie von Rot“ und „Rot Doc>“.

S. Fischer Verlag, Klappentext, 2019

Eine lyrische Zeitreisende

– Die kanadische Weltpoetin Anne Carson buchstabiert unsere Gegenwart nach dem Modell der Antike. In ihrem Buch Rot durcheilt sie die abendländischen Geistesepochen. –

Taugt ein Monster aus der griechischen Antike als Modell für eine moderne Romanze? Für Anne Carson, die kanadische Dichterin, die zuletzt als Top-Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt wurde, ist das eine leichte Übung.
Carson ist äußerst versiert in der Anwendung antiker Stoffe auf die fragil gewordenen Liebesordnungen unserer bindungslosen Gegenwart. Das mythische Wesen Geryon, das die Dichterin in Rot, ihren zwei „Romanen in Versen“, zum Titelhelden erhoben hat, ist ursprünglich ein flugfähiges Untier mit einem Stachelschwanz, dem Rumpf einer Schlange und dem Kopf eines Menschen.
In Dantes legendärer Commedia versetzte Geryon mit seinem skorpionartigen Stachel die Unterweltreisenden in Furcht und Schrecken. Bei Anne Carson dagegen, der fulminant die Geistesepochen durcheilenden Dichterin, ist Geryon ein junger Mann auf der vergeblichen Suche nach seiner großen Liebe, und dabei durch und durch ein Zeitgenosse des 21. Jahrhunderts. Carson greift bei der Beschreibung des vielfach gebeutelten Außenseiters Geryon historisch weiter zurück als Dante – auf die alte Legende eines Rinderdiebstahls. Der Geryon der Antike, so berichtet der Mythos, lebte mit seiner roten Hautfarbe im Rotland, auch die Rinder, die er besaß, waren rot. Eines Tages fällt Geryon einem Attentat durch Herkules zum Opfer, der auch die roten Rinder tötet. In ihren zwei Versromanen hat Carson diesem Geryon das Profil eines an der Liebe verzweifelnden Mannes gegeben, der dem starken Herkules erotisch verfällt und sich dann aus seiner Hörigkeit nicht recht zu lösen vermag.
Es gehört zu den ganz großen Stärken von Carsons Dichtkunst, dass sie leichthändig von antiken Motiven in die Gegenwart zu wechseln vermag. Vom blutigen Konflikt zwischen den antiken Gestalten Geryon und Herkules bis zur libertären Selbstverständigung einer fragilen homosexuellen Liebe im Amerika der Gegenwart führt bei ihr ein sehr kurzer Weg. Diese faszinierende Art des poetischen Synchronisierens weit auseinander liegender Bewusstseinszustände hat viel mit der altphilologischen Leidenschaft der Autorin zu tun. 1950 in Toronto geboren, hat Carson Griechisch studiert und als Professorin an diversen amerikanischen Universitäten Altphilologie gelehrt.

Kunstvoll verflochten
Während die Autorin in den USA schon längere Zeit zu den Stars der Literaturszene zählt, war sie hierzulande bislang eher ein Geheimtipp in der Lyrik-Community. Und es bedurfte auch einer geduldigen Vermittlungsarbeit durch ihre Übersetzerinnen Anja Utler und Marie Luise Knott, dass ihr Werk vor ein paar Jahren sichtbar wurde.
„Ich liebe eine poetische Gangart mit Saltos, Hüpfern und Sprüngen“: Mit diesem Montaigne-Zitat eröffnete Carson 2005 ihr Hybrid-Buch Decreation, das auf Deutsch 2014 bei S. Fischer erschien und in seinem fein gewobenen Geflecht von Gedichten, Operntexten und Essays diese Poetik des Saltos und des assoziativen Sprungs virtuos zelebriert. Die kunstvolle Verflechtung der Gattungen und das experimentierfreudige Cross-over der Formen sind hier Programm. Carsons poetische Suchbewegung beginnt mit elegischen Versen auf den Tod ihrer Mutter, wobei die fluide Bewusstseinswelt zwischen Schlaf, Wachtraum und Erwachen evoziert wird:

Und wie sie wach liegt am anderen Ende der Stadt
in dem kleinen heißen Zimmer
ihren lumineszierenden Rosenkranz zwischen den Fingern.

Und dann kommt es in faszinierender Verknüpfungskunst zu Exkursen über den Schlaf und das Erhabene, zur späten Theaterkunst Samuel Becketts und schließlich in einem großen komparatistischen Denkflug zum Vergleich von Sappho, der griechischen Dichterin, die im siebten Jahrhundert v.Chr. auf der Insel Lesbos lebte, mit der Leidensethik der 1943 an Hunger früh gestorbenen jüdischen Philosophin Simone Weil.
Von Simone Weil, die ihr poetisches Ideal im demonstrativen Verzicht auf ihr „Ich“ zu erreichen suchte, hat Carson auch ihren flirrenden Begriff von „Decreation“ geerbt, den Versuch, mittels einer „Rückschöpfung“ das Ich beiseite zu räumen und damit „in eine Zone absoluten spirituellen Wagnisses zu gelangen“. Es gibt in Decreation sehr viele Stellen, an denen der lyrischen Zeitreisenden Anne Carson die poetisch-mythische Zusammenschau gelingt und sie ihre Stoffe und Motive aus ihren ursprünglichen Verankerungen löst und in elegischen dahinfließenden Versen neu konstelliert.
Dieses „spirituelle Wagnis“ wird auch, nicht ganz so intensiv, in Rot und Rot.doc> vollzogen, den beiden Versromanen, in denen Geryon, der vom eigenen Bruder missbrauchte Junge, mit Herkules von einer Liebesenttäuschung zur nächsten taumelt. Im ersten Teil ist Geryon noch ein Junge an der Schwelle zur Pubertät, der sich dann schnell verwandelt, als er die Abenteuer des Eros durchlebt.
Im zweiten Teil durcheilen Geryon, der den untreuen Herkules an einer Bushaltestelle in Begleitung des Liebesrivalen Ancash wiedertrifft, in einer langen Autotour menschenleere Landschaften und „Verwerfungen im Eis“. Die unterschiedliche Form der beiden Versromane kündet vom starken Experimentierehrgeiz der Dichterin: In dem 1998 in den USA veröffentlichten ersten Teil Rot sind die Verse als dahinfließende Langzeilen angelegt. In der 2013 im Original veröffentlichten Fortsetzung Rot.doc> kommen die Verse dann im Blocksatz daher, in der Art einer Kolumne auf einer Zeitungsseite.
Literarischer Gewährsmann für diesen Stoff ist der antike Dichter Stesichoros, dem wir eine Reihe von Fragmenten zum Geryon-Mythos verdanken, die Carson vor einiger Zeit entdeckt haben will und ihrerseits nach eigenem Gusto verändert hat. In einer kleinen Einleitung zu Rot hat die Dichterin die Gestaltungskraft des antiken Dichters lakonisch benannt. Eine poetische Maxime, die uneingeschränkt auch für das Werk der Weltschöpferin Anne Carson gilt:

Stechisoros entriegelte das Sein. Alle Substanzen der Welt begannen zu schweben.

Michael Braun, Die Zeit, 16.12.2019

Ein Biest, das Blitze liebte und Dosenpfirsiche

– Als der Pfeil des Herakles Geryon ins Herz traf: Anne Carson verwandelt in zwei Versromanen, die nun in einem Band auf Deutsch vorliegen, einen antiken Mythos in eine moderne Geschichte des Erwachsenwerdens. –

„Was ist mit Ihrem kleinen Helden Geryon?“ Auf den ersten Blick hat das imaginäre Interview zwischen einem namenlosen Kritiker und dem um 640 vor Christus auf Sizilien geborenen Stesichoros etwas Albernes: „Genau ich mag das Rot und da gibt es diese Verbindung zwischen Geologie und Charakter“, so der für seine chorischen Lieder bekannte altgriechische Lyriker auf die Frage nach dem Protagonisten eines seiner nur bruchstückhaft überlieferten Erzählgedichte, dessen Fragmente Anne Carson in „Die Autobiographie von Rot“ schüttelt und mischt, bis sich Neues ergibt. Geologie und Charakter, Stein und Fleisch, das fließende Rot von Lava und Blut:

Was für eine Verbindung ist das?

Am Ende ihres 1998 erschienenen Versromans ironisiert die 1950 in Toronto geborene Lyrikerin und Altphilologin ihren eigenen Versuch, mit dem um 560 vor Christus verstorbenen Stesichoros ins Gespräch zu kommen, und zeigt ihn als Autor, der seine Geheimnisse wahrt und sich den Fragen des Interviewers durch ausweichende Antworten entzieht. Die Verbindung zwischen Geologie und Charakter? „Das“, so Stesichoros, „habe ich mich oft gefragt.“
Aber was ist nun mit Geryon, dem Helden der „Geryoneis“? Hesiod zufolge hauste er als dreiköpfige oder dreileibige Kreatur auf dem „Rotland“ der mythischen Insel Erytheia. In Dantes Göttlicher Komödie wacht er als „heilloses Ungeheuer“ am Übergang zum achten Höllenschlund. Geryon war der Sohn des aus dem Blut der von Poseidon geschwängerten Medusa hervorgegangenen Chrysaor; bei Dante hat er das Antlitz eines Gerechten und den Rumpf einer Schlange, „zwei Pratzen“, heißt es im „Inferno“, „haarig bis zur Achsel“. Berühmt ist er für seinen Tod durch Herakles, der als zehnte der ihm auferlegten Arbeiten Geryons Herde roter Rinder stahl, dann erst Geryons roten Hund erschlug und ihn selbst schließlich mit einem im Blut der Hydra getränkten Pfeil erschoss. „Pfeil heißt töten“, so Stesichoros in einem der eher undurchsichtigen Papyrusfragmente, in denen Geryon nicht mit drei Köpfen oder Leibern beschrieben wird, nicht wie bei Dante mit „gifterfülltem“ Schwanz, sondern als rotes, mit sechs Händen, sechs Füßen und Flügeln versehenes Biest, das Blitze liebte und Herakles’ Pfeil vielleicht auch deshalb nicht entkam: „Er teilte Geryons Schädel wie ein Kamm“, so Carson in der Übersetzung eines der wichtigsten, nur wenige Zeilen langen Stesichoros-Fragmente, die sie der als „Romanze“ bezeichneten „Autobiographie von Rot“ voranstellt:

Ließ
Das Bubengenick kippen
Seitwärts der Winkel träg und seltsam
Jämmerlich wie Mohn hängt im Stoß der
Nackten Brise.

„Sollte Ihnen der Text schwierig vorkommen, so sind Sie damit nicht allein. Die Zeit“, schreibt Carson in ihrer Einführung, sei mit Stesichoros „nicht gnädig umgegangen“: In „Autobiographie von Rot“, dem 2001 bereits in anderer Übersetzung im Piper Verlag veröffentlichten Versroman, der nun zusammen mit dem 2013 erschienenen Fortsetzungswerk „Rot Doc>“ in einer stimmigen Übersetzung von Anja Utler vorliegt, stößt sie Geryon durch eine sagenhafte Drehung der Raumzeit und macht ihn zum Helden einer rasanten Coming-of-Age-Story, die geradewegs ins Herz unserer Gegenwart zielt. Geryon ist jetzt ein kleines, von seinem größeren Bruder für dumm gehaltenes Monster, dessen zarter Schwanz rot pulsiert, wenn der Ältere glücklich daran zieht. Geryon liebt Marmelade-Sandwiches, er kann Knoten binden, aber keine Schleifen. Er wirft einen roten Schatten, hat zwei kleine rote Flügel. Wenn der Vater mit dem Bruder Hockey spielen geht, isst Geryon mit seiner Mutter zu Hause Dosenpfirsich und Toast. Als er als Vierzehnjähriger am Busbahnhof zufällig den zwei Jahre älteren Herakles trifft, der gerade einem Bus aus New Mexico entsteigt, schreibt Geryon bereits seit neun Jahren an seiner Autobiographie. Die Schicksalsbegegnung mit Herakles ist einer „dieser Momente / die das Gegenteil von Blindheit sind“. Soll heißen: Bei Anne Carson trifft Herakles’ Pfeil Geryon mitten ins Herz.
Das ist das Morphing einer monströsen Gestalt. Die im Laufe der Jahrtausende vollzogene Metamorphose einer Figur, die schon bei Stesichoros Held und nicht nur Statist im überlieferten Sagenkreis eines größeren Heroen ist, erfährt in Carsons Versroman schließlich die Verwandlung „vom archaischen zum beschleunigten Selbst“, das im Licht längst verglühter Sterne auf dem Highway einer mythischen, von Gegenwart durchdrungenen Landschaft einem ungewissen Zeithorizont entgegenrast. Der unablässige Gestaltenwechsel, das unstillbare, offenbar an der Verwendung von Adjektiven ablesbare „Verlangen nach Veränderung“, das Dionysios von Halikarnassos bereits Stesichoros nachsagte, kennzeichnet dabei auch Carsons eigenes Werk, das die Grenzen zwischen Lyrik, Essay und Erzählung verwischt oder durchbricht. Also jene „Rangordnung der Dinge“, wie es in ihrer Mitte der neunziger Jahre erschienenen „Anthropologie des Wassers“ heißt: jene feste, von uns allen so beharrlich verteidigte Ordnung der Welt, die in Rot derart aus den Angeln gehoben wird, dass der amorphe, bis in die DNA der rhetorischen Figuren von der Sehnsucht nach Verwandlung erfüllte Textkörper vor den Augen des Lesers zu schweben beginnt.
„Identität, Erinnerung, Ewigkeit sind thematische Konstanten bei Ihnen“, stellt der arglose Interviewer am Ende des Romans fest. „Und wie kann Reue rot sein, könnte sie“, entgegnet Stesichoros, dessen rätselhafte Antworten ähnlich schwer zu fassen sind wie die spärlichen Papyrusfetzen seiner „Geryoneis“, die nach Carsons Ansicht nicht weniger verbergen, als sie sagen. In der „Autobiographie von Rot“ und ihrer Fortsetzung „Rot Doc>“, in der sie Geryons Abenteuer fortschreibt und den gealterten Helden in der metaphorischen Gletscherlandschaft erwachen lässt, die sich nach einer siebenjährigen Proust-Lektüre vor ihm auftut, gelingt es der Autorin, die Stimme einer verlorenen Zeit heraufzubeschwören und ihr das zu verleihen, was George Steiner „reale Gegenwart“ nennt. Das ernsthafte, bis an „die Wurzeln der Bedeutung“ zurückreichende Gespräch, das die Altphilologin über den weiten Bogen von etwa zweieinhalbtausend Jahren mit Stesichoros führt, springt im Werk der Lyrikerin wie ein Eichhörnchen vergnügt von Ast zu Ast. „Wenn man Wörter lässt“, so Carson in Anspielung auf die von ihr verehrte Gertrude Stein, „tun sie, was sie tun wollen und was sie tun müssen.“

Thomas David, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.7.2019

Zwei Farben Rot

Man sollte hin und wieder über den Roman als Form nachdenken; beziehungsweise geht es mir so, dass ich dann und wann auf Texte stoße, die meine Vorstellung von diesem Begriff aushebeln. Der neunmalkluge Hegel sagte, dass der Roman die Apotheose der bürgerlichen Gesellschaft sei. Er kannte den Film nicht. Vor allem nicht die Filme der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, er kannte Paul Kemp nicht, und sah nicht, wie Kemp den Götterboten Hermes spielte, dem es im Film oblag, Neid und Missgunst zwischen Göttern und Menschen auszugleichen. Die Götter und Griechen trugen zumindest auf der Leinwand dieselben süßen Herrenkleidchen und stellten spärlich behaarte Männerbeine zur Schau. Dies jedoch derart kokett, dass von einem selbstverständlichen Umgang mit derartiger Bekleidung keine Rede mehr sein konnte. Es war ein unaufhörliches Hüpfen über die Leinwand. Ein putziger Umgang mit der Begierde und stets an der Grenze zur Pornografie. Eine Grenze, die man jedoch nie überschritt, um den sogenannten „Volkskörper“ nicht zu schockieren. Gottlob sind diese Zeiten vorbei.
Hegel kannte unsere Gegenwart nicht. Wie auch? Er hatte zwar einige prophetische Momente, aber er konnte literarische Formen nicht vorwegnehmen und auch nicht wissen, wie tradierte Formen sich verwandeln würden.
Jedenfalls ist im vergangenem Jahr bei S. Fischer ein Buch erschienen, das die Erwartung an einen Roman, aber auch die Antikerezeption, wie sie derzeit im Allgemeinen vorherrscht, doch unterläuft, auch wenn Romane in Versen keine Erfindung der Kanadischen Autorin Anne Carson sind. Es ist eine Form, die immer mal wieder fast abrupt im lyrischen Kontext erscheint und wahrscheinlich so alt ist, wie die Literatur selbst, älter womöglich als die Prosa. Vom Poem unterscheidet sie sich dahingehend, dass sie zwar Vers, aber keine gebundene Rede verwendet.

Die beiden anderen sprachen über Feminismus das Leben in Hades bröckeligen Asphalt oder war das aus der Britannica? Ein Gemisch

In langen Versen erzählt Anne Carson in Rot dem ersten der beiden Versromane, die im Buch gebündelt sind und von Anja Utler übersetzt, die unmögliche Liebe der antiken Figuren Geryon und Herkules, wobei Geryon sich in Carsons Erzählung vom roten beflügelten Ungeheuer, das er in der Antike war, in einen jungen Mann verwandelt, der in den brutalen Herakles verliebt ist und kleine Flügelchen auf dem Rücken unter dem T-Shirt trägt.
Carson adaptiert den Stoff so, dass er alles staubig Akademische verliert, das man in der Arbeit einer universitären Altphilologin vielleicht erwartet. (Wobei: die meisten Altphilologen, die ich kenne, sind eigentlich ganz witzige Gesellen.) Und Utler übersetzt die langen Verse des ersten Romans, wie auch die gebrocheneren kurzen des zweiten, „Rot Doc>“, in ein elegantes und leichtfüßiges Deutsch.
Im zweiten Teil übrigens werden die Verse zwar kürzer, was merkwürdigerweise den Prosagestus verstärkt und auch eine erweiterte Reflexion über die Geschichte hinaus ermöglicht, bis zu solchen kurzen zauberhaften Gebilden:

Das Lächeln aus dem
Inneren (ihrem) ein
Bravourstück.

Jan Kuhlbrodt, piqd.de, 28.1.2020

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Ocean Vuong über Anne Carson
hundertvierzehn.de

Elke Engelhardt: Fragen, die keine Antworten, aber eine Farbe finden
fixpoetry.com, 7.8.2019

Kristian Kühn: Fabelhaft – oder Wie ein Schwimmer durch die dicke Luft
signaturen-magazin.de

Julia Rosche: Alles an ihm war rot
tralalit.de, 3.7.2019

Michael Braun: Rot
borromaeusverein.de

„Land in Sicht: Folge 2: Bücher zwischen Liebe und Hass
Ndr.de, 30.4.2021

Wenn man die Wörter lässt, tun sie, was sie wollen

– In gleich vier neuen Übersetzungen kann man die kalauernde Gelehrsamkeit der siebzigjährigen kanadischen Lyrikerin Anne Carson kennenlernen. –

In Anne Carsons Doppelroman-Langgedicht Rot schreibt eine Figur namens Frau von Hirn im Auftrag ihrer Erfinderin:

Sie kennen die alten Analogien die Prosa
ist ein Haus die Poesie ein Mann in Flammen der
ziemlich schnell hindurch rennt.

Vieles spricht dafür, dass es Carson selbst ist, die da in Flammen durch das Haus der etablierten Literatur rennt und alles anzündet, was ihr in die Quere kommt. Wobei das Feuer in diesem Falle ein olympisches wäre, denn Carson ist von Haus aus Altphilologin und dieser Einfluss ist in ihren Gedichten, Essays, Reden, Übersetzungen und Opernlibretti überall zu spüren.
Neben Rot, das bereits letztes Jahr herauskam, ist die seit Jahren als Nobelpreisträgerin gehandelte Carson in diesem Spätsommer nun gleich in drei Neuerscheinungen zu entdecken, flüssig und elegant übersetzt von Marie Luise Knott, Christina Dongowski und – herausragend – Anja Utler. Den Anfang macht Der bittersüße Eros, ihr brillanter Debütessay aus dem Jahr 1986 über den „glieder-schmelzenden“ griechischen Gott. Gleich bei Erscheinen sammelte der Text die einhellige Begeisterung der Kritik ein und fand, überraschend für das eher randständige Genre, erstaunlich viele Leser.

Es war Sappho, die Eros als erste ,bittersüß‘ genannt hat. Niemand, der je geliebt hat, widerspricht ihr.

Was auf die scheinbar harmlosen Eingangsworte folgt, ist ein wilder Ritt nicht nur durch die antike Literaturgeschichte. Von Sophokles und Homer über Kafka bis Kundera schauen wir dem bittersüßen Eros über die Flügel, wie er überall sein „süßes Feuer“ versprüht und die Liebenden in einem Wechselbad aus Lust und Verzweiflung „mit Honig verbrennt“.
Mit kleinbürgerlichen Sentimentalitäten hat Carsons Wühlen im Eros-Archiv dabei wenig zu tun, vielmehr geht es bereits hier wie in späteren Werken um Leidenschaft ohne Romantik, um Erregung ohne Psychologie. Die komplizierte Choreografie der erotischen Körper, von denen in den oft überraschend schrulligen Texten der Antike unaufhörlich die Rede ist, wird direkt umgemünzt in eine Erotik des Lesens, ganz so wie es Susan Sontag in ihrem berühmten Essay „Against Interpretation“ gefordert hatte.
Neben der lesbischen Dichterin Sappho als wichtigster Stichwortgeberin dieses literarischen Großprojekts ist in diesem Anfang auch schon die ganze Methode von Carson erkennbar. In der leidenschaftlichen Versenkung in ein einziges Wort (glukupikron, eigentlich: süßbitter) spielt Anne Carson die ganz großen Fragen von Kunst, Literatur und Leben durch und wühlt dabei unermüdlich nach Elementen, die Antike und Gegenwart unmittelbar kurzschließen.

Wenn man Wörter lässt, tun sie, was sie tun wollen und was sie tun müssen.

Carsons Lektüren strotzen vor Gelehrsamkeit und Detailwissen. Langweilig sind sie trotzdem nicht, denn es geht ihr nicht um die bildungsbürgerliche Synthese von Wissensbeständen, sondern um das Abenteuer des Lesens, in dem sich das klassische Begehrensparadox ebenso zeigt wie im außerliterarischen Leben: im flammenden Wunsch, alles verstehen, alles verschlingen zu wollen – und in der bittersüßen Erfahrung, sich dabei immer wieder den Mund zu verbrennen.
Das ist bei Carson immer mindestens unernst bis vollkommen albern, was nicht zuletzt an Carsons diesjährigen Berliner Rede zur Poesie zu sehen ist, die sie den allseits bekannten Umständen geschuldet auf Youtube hielt. Mit wechselnden Kopfbedeckungen – Strandhut, Fedora, Fliegermütze – tritt sie da wie ein Helge Schneider mit Graecum notdürftig selbstgefilmt vor dem verschwommenen Hintergrund ihrer Einbauküche auf, wirft dreizehn sehr eigensinnige „Blickwinkel auf einige Worte“ (Forellen, Kopfschmerzen, Flaubert etc.), nur um am Ende wieder bei ihrem komplizierten Eingangsthema zu landen, dem Begehren:

Hätten Sie nicht auch manchmal gern ein Wort, das der Liebe die Handgelenke bricht und sie die Treppe hinunterwirft?

Die dritte Carson-Publikation dieses Jahres schließlich versammelt unter dem passend erotischen Titel Irdischer Durst frühe Gedichte und aufmüpfige Prosa: Protokolle von Therapiesitzungen mit einem antiken Elegiendichter, verrätselte Stadtporträts und eine wunderbar stimmungsvolle Episodendichtung um einen Philosophenkongress und den Renaissancekünstler Perugino.
Obwohl Perugino als einer der ersten in Italien mit doppeltem Fluchtpunkt malte, blieb ihm der ganz große Erfolg verwehrt, weil ihn das unglückliche Schicksal traf, in derselben Zeit wie Michelangelo Buonarroti zu leben. Als er von einem Kloster mit einem monumentalen Freskenprojekt beauftragt wurde, die geizigen Mönche aber nicht genug vom teuren Ultramarinpigment herausrücken wollten, verfiel der umbrische Meister auf eine rachsüchtige List:

Durch konstantes Waschen der Pinsel gewann
Perugino
einen heimlichen Vorrat der Farbe,
den er später
dem Prior übergab,
um dessen Geiz zu beschämen.

Die Perugino-Episode zeugt nicht nur von Carsons notorischer Vorliebe für die Zufrüh- und Zuspätgekommenen, für die Zweit- und Drittbekannten der Kulturgeschichte des Westens, sondern mehr noch von der Überzeugung, dass Sprache ein rares und kostbares Gut ist. So kann man überall und zuletzt in der Berliner Poesierede einer begnadeten Sprachkünstlerin dabei zusehen, wie sie unermüdlich ihre Pinsel wäscht, um frische Farbpigmente für ihre immer wieder neu arrangierten Tableaus zu gewinnen. Dabei wird deutlich, dass die Poesie vor der Philosophie einen entscheidenden Vorteil hat. Sie kann sich die philosophischen Ideen in loser Folge wie wechselnde Kleider oder eben Kopfbedeckungen anziehen, um sie ungehemmt und unter freiem Himmel zur Schau zu tragen. Es geht bei Carson, das ist das Verlockende und Herausfordernde, also immer ums Ganze: die ganze Literatur, das ganze Begehren, die ganze Kultur, die ganze Antike. Und doch klafft in der Mitte dieses Werks eine Legimitationslücke, die in den letzten Jahren noch deutlicher hervortritt, da aus Carsons Pinseln nicht mehr ganz so freimütig brauchbare Farbreste herausfließen.
Obwohl ihre kombinationswütigen und gendersensiblen Aneignungen der Antike einen wuchtigen Gegenpol zu den Griechenlanden der Winckelmanns, Hölderlins und Nietzsches liefert, stellt sich daher zunehmend die Frage: Warum überhaupt noch Griechenland? Woher noch das Vertrauen in die Antike? Sind denn aus der historisch-philologischen Beschäftigung mit einer Kultur von Päderasten und Sklavenhaltern überhaupt noch Deutungsmuster für die Gegenwart zu gewinnen?
Es wäre der siebzigjährigen Carson zu wünschen, dass sie sich dieser Herausforderung zum Ende hin noch einmal entschieden stellt. Dem alten europäischen Geist noch einmal so richtig die Handgelenke brechen und ihn gewaltig die Treppe hinunterstoßen – das wäre doch ein würdiger letzter Akt eines Werks, dem man auch so schon jetzt eine Krone aufsetzen muss.

Samir Sellami, Süddeutsche Zeitung, 12.10.2020
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Anja Utler liest beim ersten Wales International Poetry Festival in Bangor am 6.10.2012.

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Anne Carson liest aus Red Doc im Lesesaal der British Library.

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