Anton G. Leitner (Hrsg.): Der Himmel von morgen

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Anton G. Leitner (Hrsg.): Der Himmel von morgen

Leitner (Hrsg.)-Der Himmel von morgen

EXODUS

Seltsam, das wertvollste Element der Welt
ist Loslassen, eine Gnade. Was du erträgst
als Verlust, wird das, was keine Rolle spielt
im Leben. Du wirst verlassen und verlässt
die Feier früh, dabei war es doch das Fest
deiner Trennung – von Angst, dass du schwer
an der Verantwortung für dein Glück trägst.
Und nicht nur das, auch für die Sinnlichkeit
und wie offen du bist für drohende Gefahr:
Da macht sich ein Schwarm Störche bereit
zum Abflug. Als wär das möglich, Rückkehr.
Jeder hat Gründe, und es gibt diesen Herbst.
Die flutende Fülle in uralten Landschaften.
Erst war es Kränkung, jetzt fehlt dir Ägypten.

Hendrik Rost

 

 

 

Woher kommen wir,

wohin gehen wir? Jeder Mensch stellt sich im Laufe des Lebens die existenzielle Frage nach seinem Glauben oder Nichtglauben an Gott.
Und so hat diese Sinnsuche in allen Jahrhunderten die Dichtung immer wieder neu inspiriert.
Anton G. Leitner hat 100 neue Gedichte von über 90 zeitgenössischen Lyrikerinnen und Lyrikern zusammengetragen. Herausgekommen ist eine einzigartige Sammlung aktueller Sprachkunstwerke im Wechselspiel mit dem Allmächtigen.

Philipp Reclam jun. Verlag, Klappentext, 2018

 

Gleichstand der Gebete

Auf einer Weltkugel erhebt sich eine Leiter ins bestirnte All, ein Drittel länger als der Durchmesser der Erde. Das Cover der Anthologie Der Himmel von morgen zeigt weniger, dass die Autoren hoch hinaus wollen, als vielmehr die Zahl der Fragen und Antwortversuche dieser im Untertitel „Gedichte über Gott und die Welt“ versammelnden Auswahl. Herausgeber Anton G. Leitner hat sie im Wesentlichen aus dem Fundus der 25. Ausgabe seiner dem Thema Religion gewidmeten Zeitschrift Das Gedicht getroffen.
Religion mag für viele Westeuropäer ein alter Hut sein. Für die Mehrheit der Menschheit ist sie das wohl nicht, für nicht wenige ist sie ein, nun ja, recht zeitloser Turban. Da kann es nicht schaden, gelegentlich nach oben zu schauen, ohne gleich ins Stolpern zu geraten. Leitner hat da eine recht kluge Auswahl mit Beiträgen namhafter (Dorothea Grünzweig, Günter Kunert, Sabine Schiffner, Jan Wagner) und weniger bekannter Autoren getroffen, die weder Frömmlern noch Ketzern schmeicheln will, aber Gläubige wie Agnostiker anzuregen, zu denken geben vermag.
Andreas Peters formuliert in „gebet“ gleichsam die Voraussetzung für die Beschäftigung mit der Thematik:

gönne
mir
das
wort,
gott.
Ich
gönn
dir
das wort
gott.

Dann eröffnet sich eine weite lyrische Arena, in der auch Übeltaten innerhalb der Kirche, negative Begleitumstände der Missionierung oder ein „Kapitalistisches Glaubensbekenntnis“ (Matthias Kröner) vorkommen. Aber der Blick geht tendenziell nicht in die Hölle, sondern nach oben, ohne abzuheben.
„Durchbohrte Füße schweben ohne Halt?“, fragt Christian Lehnerts „Böhmisches Wegekreuz“ und weist auf eine Mittellage hin, die Ansätze zur Gottesfrage im Alltäglichen erlaubt. „Einmal angenommen / das Helfen beim Tragen / der Kreuze anderer / erleichtere den aufrechten Gang“, stellt Markus Bundi in den Raum. Und Klaus Merz lässt in „Decharge“ sein „Jüngstes Gericht“ beizeiten beginnen:

Morgens um vier
(durchlässig für alle
Schrecken der Welt)

bittest du um Nach-
sicht für dich und
die Häscher. In dir.

Fußball und Gott sind schon im Begriff „Fußballgott“ zusammengeführt. Barbara Zeizinger vereint beides mit einer Prise Humor im Gedicht. In „Unentschieden in der Nachspielzeit“ gibt sie angesichts sich bekreuzigender Spieler zu bedenken:

Schwierig für den Herrn
gerecht zu sein,
bei Gleichstand der Gebete.

Der Titel des gut gemachten, gebundenen Buches im Jackentaschen-Format ist dem Gedicht „Bauplan, blassorange“ von Sabine Minkwitz entnommen. „Das Ende der Welt / ist der Himmel von morgen“ beginnt es. Daraus lässt sich Religion wie Religionskritik entwickeln.

Rolf Birkholz, Am Erker

 

 

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Porträtgalerie: Keystone-SDA
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Anton G. Leitner rezitiert sein Gedicht „Einmal eine“ im Rahmen der Ringvorlesung Humanität in der Medizin an der Technischen Universität München am 24. November 2010.

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