ENTSCHULDIGUNG UM SCHLUSS ZU MACHEN
Ich weiß daß ich es verderbe
Mit euch weil so traurig ich sing
Und was ich schreibe herbe
Wie ein Testament euch klingt
Das die Zukunft enterbe
Doch gibt der Zeitlauf an Kraft
Nicht viel die zum Lachen tauge
Dem Mann in Gefangenschaft
Befehlt ihm doch daß sein Auge
Allzeit am Himmelsrand haft
Ist denn nicht genug ich stelle
Das Glück so hoch wie ich tu
Braucht ihr einen Spiegel der Helle
Euch vorlügt in Firnisruh
Blind für den Wind und die Welle
Auch wüßt ich nicht Freunde wie
Mir Gewalt zu tun dieserweilen
Und zu mimen in Harmonie
Laßt uns das Roggenbrot teilen
Doch bitte nennts Weizen nie
Wer heiß hielt den Liebeswein
Ein Leben lang ohne zu mischen
Kann schweren Herzens sein
Muß nicht Märchen auftischen
Zum eigenen Abendschein
Geht fort wenns anderswo glückt
Vielleicht vergnügter zu fahren
Als mit mir oder minder verrückt
Was wollt ihr mich nützen die Jahre
Ab wie ein Silberstück
Frankreich was solls dem Alter
Was Republik Staat und Stadt
Nicht daß sie mir nichts galten
Doch jedem sein Kreuz jeder hat
Seine Krone Schmerz zu verwalten
Aber am Grund meines Blicks
Ein Vogel im Käfig darbend
Glänzt ein Traum wunderbar ein Licht
Das in aller Himmel Farben
Meiner Redensart widerspricht
Worte sind Würfel sie fallen
Ich setze ein Wort es steht
Für mich im Spiel ists gefallen
Gewinn ich verlier ich ihr seht
Ich bin ein Mensch wie alle
Die Liebe mein Rausch nackt und nah
Ich ging ohne Visa durch meine
Zeit und was ich tat litt sah
Alles am End nur der eine
Name mein Leben ELSA
Übersetzt von Paul Wiens
Ich war nicht immer der Mann, der ich bin. Mein Leben lang habe ich gelernt, um der zu werden, der ich bin; aber deswegen habe ich nicht den Mann vergessen, der ich war, oder, genauer gesagt, die Männer. Und wenn es zwischen mir und jenen Männern Widersprüche gibt, wenn ich glaube in der Wandlung gelernt, Fortschritte gemacht zu haben, so schäme ich mich ihrer nicht, wenn ich sie rückblickend betrachte, sie sind Etappen meiner selbst, sie führen zu mir, ich kann nicht ich sagen ohne sie… Nicht eine einzige Gewißheit habe ich anders erlangt als durch Zweifel, Angst, Schweiß und den Schmerz der Erfahrung.
Mit diesen Sätzen, die Aragon 1959 auf einer Veranstaltung des Kommunistischen Jugendverbandes Frankreichs sprach, hat er die hartnäckigen Versuche zurückgewiesen, sein Werk in zwei voneinander isolierte Hälften zu zerreißen: die von manchen Kritikern als frühe Verirrung abgetane surrealistische Phase und die von anderen als Abfall von der Kunst verdammte Schaffensperiode des parteilichen Realisten. Solche Interpretationen begnügen sich damit, den augenfälligsten Widerspruch und andere Kontraste in Aragons Entwicklung festzustellen, statt sie aus dem inneren Gesetz seiner Persönlichkeit zu deuten. Nur wenn man der in seiner Biographie exemplarisch nachweisbaren Wechselwirkung von individueller Konstitution und historischen Bedingungen geduldig nachgeht, wird der Zusammenhang in der scheinbaren Diskontinuität sichtbar, fügen sich die auf den ersten Blick auseinanderfallenden Teile zusammen. Aragons leidenschaftliches Bedürfnis nach menschlicher Ganzheit zwang ihn, jeden Weg, der Erfüllung zu versprechen schien, bis ans äußerste Ende zu gehen – bis er in kritischer Ungenügsamkeit die Begrenztheit des Erreichten erkannte und die Suche auf höherer Stufe fortsetzte: bemüht, das noch Fehlende zu erobern, ohne das Erworbene preiszugeben. Dieser nie abgeschlossene Prozeß, der als instinktive Auflehnung eines einzelnen begann, wandelt sich, in zuweilen sprunghaftverwirrendem Verlauf, zu einer immer bewußteren Auseinandersetzung von Individuum und Gesellschaft, deren Ziel die im Kunstwerk vollzogene Versöhnung von Einzelschicksal und Menschheitsgeschichte ist.
Der erste Widerspruch war gesetzt durch das Milieu, in dem Aragon am 3. Oktober 1897 geboren wurde. Seine Familie gehörte jenem konsolidierten mittleren Bürgertum an, aus dessen Umklammerung sich viele der besten Intellektuellen des neuen Jahrhunderts in einem schmerzhaften Prozeß zu befreien versuchten. Nichts war in dieser Atmosphäre der vorsichtigen Kompromisse so gefürchtet wie echte Leidenschaft, und so mußte der unbändige Lesehunger des Knaben, erstes Symptom einer auf ständige Bereicherung des Erlebens gerichteten Unrast, nach anfänglicher Billigung Anlaß zu ernster Besorgnis werden. Er las alles, was ihm in die Hände fiel, vom Katalog bis zum Klassiker, von Stendhal bis zu Turgenjew und Gorki. „Hätte ich nicht so viel gelesen, hätte ich nicht so viel geschrieben.“ Wenn er sich 1915 dem Medizinstudium zuwandte, so war das wohl vor allem eine Konzession an elterliche Wünsche, vorläufige Entscheidung eines jungen Menschen, der seine eigentliche Begabung noch nicht erkannt hat.
Im Val-de-Grâce, einem Pariser Militärhospital, lernt er Andre Breton kennen, der Anfang der zwanziger Jahre zur Zentralfigur der surrealistischen Bewegung wird. Die beiden Ärzte, stärker an künstlerischen Problemen interessiert als an der Medizin, sind sich einig in der Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft und des herkömmlichen Literaturbetriebes. Sie und ihre Freunde, hochbegabte, sensible Intellektuelle, lehnen sich gegen die stumpfsinnige Monotonie und Entleertheit der bürgerlichen Existenz auf, aber ihr Protest bleibt rein individualistisch, gegen Erscheinungsformen gerichtet, deren tiefere Ursachen ihnen unbekannt sind. Aragon hat im Eingangsgedicht seines Poems „Le Roman Inachevé“ („Der unvollendete Roman“, 1956) das Porträt des anarchischen jungen Mannes gezeichnet, der er damals war:
Auf dem Pont Neuf begegnete mir
Das Bild meines früheren Ich
In den Augen nichts als Tränen
Auf den Lippen nichts als Blasphemien
Auch der Krieg ist diesen jungen Bürgern nichts als die bisher widerlichste Manifestation einer verhaßten Gesellschaftsordnung, ein unbegreifliches, grauenhaftes Geschehen, das man mit Ekel und Staunen, manchmal auch als eine Art schauerlicher Sensation über sich ergehen läßt, ohne es zu bekämpfen. „Ich war ein Schriftsteller“, sagte Aragon später, „der sich etwas darauf einbildete, durch den Krieg von 1914 bis 1918 hindurchgegangen zu sein, ohne ein Wort darüber zu schreiben.“
Das Mißverhältnis zwischen latenter produktiver Kraft und der Unmöglichkeit, sie anders als in anarchischer Negation der Umwelt zu betätigen, erzeugt eine ungeheure Unrast und Spannung. Mit äußerster Ichbezogenheit verbindet sich ein starker, aber ständig frustrierter Drang zur Selbstentfaltung. Nur im Außer-sich-Sein der Liebe gelingt die Befreiung von allen inneren und äußeren Schranken, die Wiedergewinnung einer zweckentbundenen Unschuld, eines von allen bürgerlichen Nützlichkeitsforderungen befreiten Lebensgefühls. Die Frau wird zum Inbegriff des Geheimnisvoll-Unbekannten, jenes „Wunderbaren“, das Breton im Ersten Surrealistischen Manifest (1924) als das wahrhaft Poetische preist. Doch bevor es zu dieser Deklaration der surrealistischen Theorie und zur merkbaren Verbreiterung der bereits 1919 bestehenden Vierergruppe (Aragon, Breton, Eluard und Philippe Soupault) kommt, findet das Intermezzo Dada statt.
Im gleichen Jahr begibt sich Tristan Tzara aus der Schweiz, dem Geburtsland des Dadaismus, nach Paris, um dort lautstark sein Programm zu verkünden. Er wird von den jungen Rebellen begeistert begrüßt. Tzaras freche Bilderstürmerei, seine radikale Absage an alle überkommenen Wertungen, an Logik und Moral, sein Relativismus und seine Verherrlichung der Spontaneität müssen ihnen zusagen. Doch auf die Dauer kann ihnen das „NICHTS, NICHTS, NICHTS“ der dadaistischen Manifeste nicht genügen. Sie, deren Streben auf menschliche Totalität gerichtet ist, wollen der bourgeoisen Wirklichkeit nicht die pure Negation, sondern eine andere, höhere, reinere und lebendigere Wirklichkeit entgegensetzen. Breton glaubt den Zugang zu dieser Über-Wirklichkeit, dieser Sur-Realität, im Unbewußten und in der Welt der Träume gefunden zu haben. 1921 legt er zusammen mit Soupault in „Les Champs Magnétiques“ (Die Magnetfelder) die Ergebnisse seiner von persönlichen Erfahrungen ausgehenden, durch die Forschungen Siegmund Freuds ermutigten Untersuchungen über das automatische Schreiben vor: es komme darauf an, sich von der logischen, ästhetischen und moralischen Zensur zu befreien und widerstandslos dem Diktat des Denkstroms zu gehorchen. Durch die These, daß sich in diesem Verfahren oder im Traum jedem Willigen die einzig wahren Quellen des Wunderbaren erschließen können, wird die Inspiration entmystifiziert. Die Surrealisten leugnen das Talent und erklären die Dichtung zum menschlichen Gemeingut. Hier werden bereits die inneren Widersprüche des Surrealismus sichtbar: ein Demokratismus, der infolge der radikalen Abkehr von der normalen Wirklichkeit doch wieder in Esoterik umschlägt; eine Tendenz zur Wissenschaftlichkeit, zur nüchternen Analyse des Schaffensprozesses, die in der Hinwendung zum Irrationalen, zum Mystisch-Okkulten aufgehoben wird.
Nicht alle surrealistischen Dichter wandten in ihrer dichterischen Praxis ausschließlich die Methode des automatischen Schreibens an; aber bei allen führt die Ausschaltung der Logik, die Hingabe an Traumzustände, in denen die Sprache ein Eigenleben entwickelt und die Wörter „Schöpfer von Kraft“ werden, zum syntaktischen Zerfall, zur Wortisolierung, zum assoziativen Spiel mit Klängen. Dreißig Jahre später hat Aragon in einem seiner großen autobiographischen Poeme diese Phase mit den Worten charakterisiert:
Hier beginnt die große Nacht der Worte
Hier trennt sich der Name von dem was er nennt
Dennoch hat er, auch aus der distanzierten Sicht der Reife, immer wieder betont, daß er vom Surrealismus mehr bewahrt hat als eine liebevolle Erinnerung an jene „pathetischen Kinder“, die Gefährten seiner Jugend. „Es ist unbestreitbar, daß meine Sprache nicht das wäre, was sie ist, wenn sie nicht aus dem Surrealismus hervorgegangen wäre… Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied: den Inhalt.“ Aragons lyrisches Werk beweist, daß er heute wie je die vollen Rechte der Phantasie für sich in Anspruch nimmt. Seine Vorliebe für Alliterationen, für überraschende Klänge und Reime, das virtuose Spiel mit dem Wort erinnern oft genug an seine frühen Gedichte. Doch während der Surrealist sich von den Impulsen des Unterbewußtseins treiben läßt, während er durch Absurdität schockieren, durch betonte Zusammenhanglosigkeit alle gewohnten Bindungen zerreißen will, wählt der reife Dichter aus dem Strom der poetischen Einfälle das aus, was der Idee seiner Dichtung dient.
Aragon hat einmal den Surrealismus als einen verzweifelten Versuch bezeichnet, die dadaistische Negation zu überwinden und eine neue Realität zu errichten. Es dauerte viele Jahre, bis ihm die Aufhebung der surrealistischen Negation in der „Wirklichen Welt“ gelang. Kaum eine Phase seines Lebens war so qualvoll und zerrissen, so reich an Widersprüchen, Rückschlägen und hartnäckigen Versuchen, sie zu überwinden, wie dieser Übergang vom Surrealismus zu einer sozialistischen Lebens- und Kunstauffassung.
Die Zuspitzung der Klassenkonflikte, die Verschärfung der internationalen Spannungen in den zwanziger Jahren hätte die Fragwürdigkeit einer rein geistigen Freiheitssuche deutlich machen müssen. Aber erst der emotionale Schock, den der kolonialistische französisch-spanische Krieg gegen die Rifkabylen bei den Surrealisten auslöste, vermochte ihre Haltung zu verändern. Ihre Empörung, geweckt durch die Erinnerung an die Schrecken des ersten Weltkrieges, geschürt durch chauvinistische Kundgebungen der intellektuellen Prominenz, macht sich in anarchisch-spektakulären Protesten Luft. Und plötzlich werden sie nicht nur von der Polizei gemaßregelt, sondern auch von der offiziellen Literaturkritik boykottiert, die ihren theoretischen Revolten bisher mit amüsiertem Interesse zugesehen hatte: eine praktische Lektion über die Wirksamkeit des Wortes und die Verantwortung des Schriftstellers. In den Proklamationen jener Zeit werden ganz neue Töne angeschlagen. Hatte man noch im Januar 1925 erklärt, die von den Surrealisten angestrebte Revolution sei „unbeteiligt, weltabgewandt und sogar verzweifelt“, so heißt es wenige Monate später: „Wir sind keine Utopisten: wir sehen diese Revolution nur unter ihrem gesellschaftlichen Aspekt.“ Hier ist ein Wendepunkt erreicht, nach dem es kein Verharren in der alten Zwiespältigkeit, im Nebeneinander von totalem Freiheitsstreben und Verachtung der materiellen Voraussetzungen echter menschlicher Freiheit mehr geben kann. Hier gabelt sich der Weg. Die einen, unter ihnen Breton, werden früher oder später in das idealistische Denken zurückfallen; andere werden in einem immer wieder durch innere Hemmnisse verzögerten Prozeß die Wirklichkeit erobern. Unter ihnen Aragon.
In einem Ende 1925 in Clarte veröffentlichten Aufsatz „Das Proletariat des Geistes“, der zweifellos unter dem Eindruck seiner ersten marxistischen Studien entstanden ist, spricht er vom konterrevolutionären Charakter der Anarchie und fordert die Schriftsteller auf, ihre Fähigkeiten in den Dienst des Proletariats zu stellen, doch ohne den „dummen Stolz“ jener Intellektuellen, die „sich mit dem Proletariat verbünden, ohne ein Teil des Proletariats zu werden“. Solche Erkenntnisse, so wichtig sie sind, genügen freilich nicht, um ein Leben zu verändern. Auch als Aragon im Januar 1927 Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs wird, ist das zunächst vor allem die Konsequenz aus theoretischen Einsichten, die nicht durch praktische politische Erfahrung ergänzt werden. Noch kann er die von ihm selbst geforderte Eingliederung in die Arbeiterklasse nur organisatorisch vollziehen, weil ihm die unmittelbare emotionale Beziehung zu den Menschen fehlt, die einmal seine Leser sein werden. Die Revolution ist ihm zwar nicht mehr identisch mit Anarchie, aber noch nicht Beginn eines Neuen – nur Negation, Zerstörung einer zum Tode verurteilten Gesellschaft. So können die in den Jahren 1927 und 1928 entstandenen, 1929 unter dem ironischen Titel Le Grande Gaîté (Die große Heiterkeit) veröffentlichten Gedichte nichts ausdrücken als Trauer, Überdruß und Spott:
Ich mag die Leute nicht, ich sage euch
Ich mag die Leute nicht, weil sie
So furchtbar borniert und dumm sind
Weil sie zu Zeiten, die ihnen ihre Eltern vorschreiben
Zu Mittag und Abend essen
Weil sie ins Theater gehen in die Schule…
Selbst die Stadt Paris, für die Aragon zu allen Zeiten seines Lebens Worte eines Verliebten gefunden hat, wird ihm jetzt zur „Wüste Gobi“. Dennoch ist in dieser extremen Negativität etwas Neues: Aragon vermag zwar die Realität noch nicht anders als hassenswert zu sehen, aber er weicht nicht mehr von ihr in die Innerlichkeit aus. Er greift sie an, und der ironische Spott erhebt sich zuweilen zur großen, unbarmherzigen Satire.
Der Fluchtweg ins illusionäre Wunderbare ist endgültig abgeschnitten. Aber:
Alles vorbei Wo bin ich
Meine Hand im Finstern
Stößt nur auf die stöhnende Mauer
Die Verse der Grande Gaîté, in denen Aragon sich seinem eigenen Inneren zuwendet, sind von einer abgrundtiefen Traurigkeit erfüllt, die sich in dem „Gedicht in den Ruinen zu schreien“ zu erschreckender Intensität steigert. Wie sehr das alles Ausdruck persönlichster Wirren des Gefühls gewesen sein mag, die ihn im Sommer 1928 in Venedig fast in den Tod getrieben hätten (Noch geringe Zeit / Und es war so weit / Daß das Sterben kam), es ist auch die Verzweiflung eines Menschen, der, entgegen seinem innersten Gesetz, in die Sphäre des Hasses und der Aggressivität verbannt ist, eines Schriftstellers, der die von seinen theoretischen Einsichten geforderten neuen Inhalte noch nicht gestalten kann. So muß ihm, der später sagte: „Wenn ihr wüßtet, wie ich die bedaure, die nicht lieben…“, der Schreiben und Leben immer gleichgesetzt hat, seine Existenz damals fragwürdig erschienen sein.
Nur wenn man von diesem Tiefpunkt seiner Lebenskurve weiß, kann man ganz ermessen, was die Begegnung mit Elsa Triolet für ihn bedeutete. Nichts konnte ihm helfen als das Beispiel eines Menschen, der sich eine natürliche, ungebrochene Beziehung zur Umwelt bewahrt hatte. Das Beispiel einer Frau, die bereit war, ihn mit Klugheit und Liebe aus der Wüste Gobi zu den Menschen zurückzuführen.
Du fandest mich im Dunkel wie ein Wort das nicht vergeben wird
Wie einen Vagabunden der zur Nacht durch Stall und Scheune irrt
Wie einen Hund dem an den Hals man hängte fremde Initialen
Ein Mann vom schrillen Zorn vergangner Zeit gezeichnet wie mit Malen
Am 6. November 1928 lernten sie einander kennen, „in einem jener Cafés des Montparnasse, die groß sind wie Bahnhöfe“. Elsa Triolet war zu dieser Zeit eine Schriftstellerin, die ihre autobiographischen Bücher in russischer Sprache schrieb. Aragon nannte sie später eine „geborene Romanschriftstellerin“, der sich jedes Erleben in Figuren umsetze. Er hätte auch sagen können, sie sei eine geborene Realistin. Diese natürliche Disposition wurde verstärkt und gefestigt durch die Verbundenheit mit den großen Traditionen der russischen Literatur von Puschkin bis Gorki, in denen Elsa Triolet aufgewachsen war. Schon als Kind hatte sie mit begeisterter Hingabe die Dichtungen Puschkins und Lermontows gelesen. Aber sie erkannte auch mit klarerem Instinkt als manche Literaturkritiker die Genialität der futuristischen Verse, die der junge Majakowski auf Spaziergängen für die sechzehnjährige Schülerin rezitierte. Lange Zeit konnte sie seine komplizierte Entwicklung aus nächster Nähe beobachten (Lili Brik, durch viele Jahre Majakowskis Gefährtin, war Elsas Schwester). Sie wußte besser als viele andere, wie schwierig und widerspruchsvoll der Weg eines echten Dichters sein kann, und dieses Wissen verlieh ihr Ausdauer und Geduld in dem Kampf gegen Aragons anarchistische Vergangenheit. Sie bestand diesen Kampf, weil sie ihn in der selbstverständlichen, unerschütterlichen Überzeugung führte, daß ein Schriftsteller ebenso wie sich selbst auch seinen Mitmenschen verantwortlich ist – mehr aber noch, weil sie dem emotionalen Nihilismus Liebe und Menschlichkeit entgegenzusetzen vermochte.
Du hast mir den Himmel der Güte wieder geöffnet
Durch dich weiß ich von den menschlichen Dingen
Und seitdem sehe ich die Welt auf deine Weise
Mein wirkliches Leben begann
An dem Tag da ich dir begegnete
Du nahmst mich an der Hand in dieser modernen Hölle
Wo der Mensch nicht mehr weiß was das heißt Zu zweit sein
Zum ersten Mal ist die Liebe zur Frau nicht Expansion des Ich, Suche nach dem Absoluten als Kompensation für das existentielle Unbehagen, sondern Gemeinschaft und Auseinandersetzung von zwei starken Persönlichkeiten, ebenso faszinierend und geheimnisvoll wie das „Wunderbare“ traumhafter Begegnungen.
Im Oktober 1930 reisten Elsa Triolet und Aragon nach Moskau, um Lili Brik zu besuchen. So wichtig die unerwartete Teilnahme an der Internationalen Schriftstellerkonferenz von Charkow und den dort geführten Diskussionen für Aragon gewesen sein mag – das entscheidende Erlebnis war die Konfrontierung mit dem ersten sozialistischen Land und seinen Menschen. „Bei meiner Rückkehr“, schrieb er in einer späteren Einschätzung dieser Zeit, „war ich nicht mehr derselbe, nicht mehr der Autor des Paysan de Paris“ (ein 1926 veröffentlichtes Prosawerk, Höhepunkt der surrealistischen Phase), „sondern der Verfasser von Front Rouge.“
„Rotfront“ – als Titel wählte Aragon den Kampfgruß der deutschen Genossen, den er in Charkow gehört hatte – ist ein Übergangswerk. Dem Virtuosen der poetischen Introspektion, zu dem Aragon in zehn Jahren geworden ist, fehlen die künstlerischen Mittel für die Bewältigung seines Themas: die anfeuernde Wirkung des sowjetischen Vorbildes auf die Arbeiterbewegung in allen Ländern der Erde. Die Gestaltungskraft hält nicht Schritt mit dem Enthusiasmus, der Ton schlägt ins Deklamatorische um. Die Bedeutung dieses Poems liegt vor allem darin, daß Aragon hier zum ersten Mal den poetischen Gegenstand in der Außenwelt findet, daß er nicht nur sich selbst ausdrücken, sondern Wirkungen erzielen will. Die in „Rotfront“ enthaltenen heftigen Ausfälle gegen den Staatsapparat trugen ihm eine Anklage wegen Mordhetze und Aufwiegelung des Militärs zum Ungehorsam ein.
Eine zweite Reise in die Sowjetunion führt ihn im Sommer 1932 nach dem Ural, zu den großen Baustätten des Sozialismus, nach Magnitogorsk und Tscheljabinsk. Er erlebt den hartnäckigen Optimismus der sowjetischen Menschen, die einer kargen Wirklichkeit in zähem Kampf das Neue abringen, und die Revolution, die ihm immer nur die große Zerstörerin war, trägt jetzt die Züge der Hoffnung:
Der ganze Himmel gehört der Jugend
Und die Jugend der Zukunft
Mit jedem Augenblick zwingt Zukunft die Gegenwart
Sich in Erinnerung zu verwandeln
heißt es in Hourra l’Oural, einer 1932 entstandenen Gedichtsammlung, die von den gigantischen Veränderungen inspiriert ist, deren Zeuge er sein durfte. Durch häufige Verwendung der Alltagssprache, Assonanzen, hämmernde Reime und einen suggestiven, zuweilen oratorischen Tonfall erinnern diese Verse an Majakowski, dessen Bedeutung für seine Entwicklung Aragon oft genug hervorgehoben hat. Die Gleichheit des Anliegens: die engen Grenzen der fachlichästhetischen Rezeption zu durchbrechen und von vielen gehört zu werden, bedingt eine Verwandtschaft der Grundhaltung und Diktion. Aber um die spezifischen Mittel für eine echte Kommunikation zu finden, muß Aragon, ebenso wie Majakowski, an die im Gedächtnis des Volkes aufbewahrten Überlieferungen der eigenen Nationalliteratur anknüpfen, sie im Geist des Neuen, das er zu verkünden hat, lebendig machen. So ist es symptomatisch und bedeutungsvoll, daß er in balladesken Gedichten des Bandes Hourra l’Oural eine klassische Form der französischen Lyrik mit bewußtem Nachdruck verwendet: knappe, achtsilbige Zeilen, nach einem strengen Reimschema zu vierzeiligen Strophen zusammengefügt.
Die Surrealisten hatten in anarchischem Radikalismus jede Art von traditioneller Bindung verworfen. In ihrem ahistorischen Bezugssystem war kein Raum für die großen revolutionären Taten und die aus ihnen geborene realistische Kunst der französischen Nation. Außer dem Rebellen Rimbaud (den Aragon auch noch 1947 in einem Essay aus historischkritischer Sicht den „vielleicht größten Dichter der Moderne“ nennt) erkannten sie nur einige von der offiziellen Literaturkritik halb oder gänzlich vergessene Einzelgänger als ihre Ahnen an. Selbst in der Zeit der engsten Verbundenheit mit der surrealistischen Bewegung hatte Aragon sich bisweilen von den ihm auferlegten und damals im wesentlichen von ihm akzeptierten Normen zu distanzieren versucht, am deutlichsten in einer skeptischen Einschätzung des automatischen Schreibens. Viel schwieriger war die Loslösung von einem auch in ihm tief verwurzelten Vorurteil des Surrealismus, von der Nichtachtung aller nationalen Traditionen, die aus der Gleichsetzung von chauvinistischem Großmachtstreben und Nationalgefühl, von Bourgeoisie und Nation resultierte. Dieser für den Schriftsteller Aragon höchst gefährliche nationale Nihilismus konnte nur durch reale Erfahrungen widerlegt werden – durch den Kontakt mit den Schichten des Volkes, in denen die wahre Größe der französischen Nation, das Erbe der Commune lebendig war. Um 1931 tritt in Aragons politischer Tätigkeit eine folgenschwere Wendung ein. Paul Vaillant-Couturier stellt ihn Maurice Thorez vor, der ihm rät, die verhältnismäßig unwichtige Mitwirkung an einer antireligiösen Zeitschrift aufzugeben und zu operativeren Formen der Parteiarbeit überzugehen. Aragon spricht jetzt vor Fabriktoren und in Versammlungen. Er lernt die täglichen Nöte und Sorgen der Arbeiter kennen, aber auch ihren Mut und ihre Ausdauer. Er sieht, daß sie bereit sind, nicht nur für ihre unmittelbaren materiellen Interessen einzutreten, sondern sie aufs Spiel zu setzen, indem sie streikend gegen die Drohung des erstarkenden Faschismus protestieren. Er hört ihre vitale, präzise, noch nicht durch gesellschaftliche Konventionen ausgelaugte Sprache, die er wie kaum ein anderer Schriftsteller in sein literarisches Werk einbeziehen wird. Die französischen Arbeiter seien seine Sprachlehrer, sagt er später, von denen er großartige Lektionen erhalten habe: nicht im Stil schulmeisterlicher Pedanterie, sondern im Geist der geschichtlichen Erfahrung.
Mit leidenschaftlicher Intensität beginnt Aragon die in Jahrhunderten vollzogene Formung des französischen Nationalcharakters und seine literarischen Manifestationen zu studieren: von den gesellschaftskritischen mittelalterlichen Fabliaux bis zu den großen Romanciers des 19. Jahrhunderts. „Man gelangt zum Realismus nur über den Weg des Nationalen… Jedes Mal, wenn ihr euch von der Realität abwendet, wendet ihr euch von Frankreich ab. Ich habe diese Krankheit gekannt…“
Ich wußte nicht einmal was weiß ein jedes Kind
Daß rot mein Blut daß Herz und Sinn französisch sind
Ich wußte nur Schwarz senken sich die Nächte nieder
Erst die Partei gab Blick mir und Gedächtnis wieder
Wenn Aragon sich in diesen ersten Jahren des aktiven politischen Kampfes plötzlich ausschließlich dem Roman zuwendet, diesem von den Surrealisten wegen seiner realistischen „Banalität“ verachteten Genre, so ist das mehr als eine Reaktion auf einengende Vorurteile der Vergangenheit oder programmatische Anknüpfung an eine der wichtigsten Traditionslinien der französischen Literatur. Die poetischen Ergebnisse der Reisen in die Sowjetunion hatten ihm gezeigt, daß die in hohem Maße subjektive, emotionale, verschlüsselnde und verkürzende lyrische Aussage keine volle Gültigkeit erreicht, solange der Dichter die Wirklichkeit, die er gestalten will, nicht als sicheren Besitz in sich trägt. Erst wenn er den poetischen Gegenstand ganz in sich hineingenommen hat, kann er, auf einer höheren Stufe der Erkenntnis, zur lyrischen Spontaneität zurückkehren. Die Konzentration auf den Roman entspricht dem bewußten Bemühen des Marxisten Aragon, die komplexe nationale Realität, die er als den natürlichen Nährboden seines Schaffens erkannt hat, mit ihren historischen Voraussetzungen und ihrer historischen Perspektive zu seinem Eigentum zu machen, indem er sie mit immer differenzierteren Mitteln künstlerisch zu bewältigen versucht. Als 1939 das große Unheil über das Land hereinbricht, ist dieser Aneignungsprozeß so weit vorangeschritten, daß persönliches und kollektives Schicksal für ihn zusammenfallen. In jedem Vers, den er in den Jahren des Krieges schreibt, auch wenn er persönlichste Gefühle ausdrückt, ist das Leid des ganzen Volkes gegenwärtig. Und die Strophen, die er an das gequälte und geschändete Frankreich richtet, klingen wie die zärtliche Klage eines Liebenden.
Der junge Aragon hatte den ersten Weltkrieg als ein unheimliches Geschehen hingenommen, dem er sich zumindest innerlich durch individualistische Evasion zu entziehen versuchte. Dieses Mal fühlt er sich als Bruder von Millionen Franzosen, die von unfähigen oder verräterischen Regierungen, zuerst in der Farce des „Seltsamen Krieges“, dann in der Schmach der Kollaboration, dem Feind preisgegeben werden. Dieses Mal will er handeln und helfen. Das Gedicht, rascher entstehend, rascher wirksam als der Roman, wird zur Waffe des Widerstandes, die er mit List und Leidenschaft einsetzt.
In einem 1945 verfaßten Vorwort zu dem zwei Jahre zuvor illegal veröffentlichten Musee Grévin hat Aragon das Wesen einer Dichtung definiert, die in Zeiten der Heimsuchung Anspruch erheben kann, die Nation zu repräsentieren, und die er epische Dichtung nennt. „In diesem Sommer 1943, da unsere jungen Leute sich in Massen dem Maquis anschließen, wird der Sinn für das Epische wiedergeboren, dessen Wurzeln tief in den Humus der Jahre hinabreichen bis in das Jahr 1941, als Gabriel Péri und die siebenundzwanzig Geiseln von Châteaubriant ermordet wurden, bis in die Tage des Spanischen Bürgerkrieges. Eine „epische“ Situation, die der Nation große Entscheidungen und Taten abverlangt, fordert vom Dichter den Atem der Epopöe, die Rückkehr zum Geist des Rolandsliedes, der Chansons de Geste. Doch Aragon will das Epische nicht formal, nicht in der Begrenztheit des Genres, verstanden wissen. „Das Wesentliche der epischen Dichtung ist nicht der Umfang…, sondern die Intensität des epischen Gefühls“, das sich, in immer neuen, dem Charakter der Epoche angepaßten Formen, manifestiert, „wenn die Umstände des nationalen Lebens episch sind“. Durch ihre unlösbare Verknüpfung mit historischen Prozessen wird jede echte epische Dichtung zur Gelegenheitsdichtung, die das üblicherweise so bezeichnete Genre ebenso überragt wie der geschichtliche Anlaß den zufällig banalen.
Man könnte, der Chronologie und Thematik von Aragons Dichten zwischen dem September 1939 und der Befreiung folgend, den Weg nachzeichnen, den das französische Volk in diesen Jahren gegangen ist. In jeder Phase hat er mit höchster poetischer Intensität das ausgedrückt, was zahllose Menschen dachten und fühlten – aber immer hat er ein Stück über die unmittelbare Gegenwart hinausgeführt und Hoffnung geweckt, nicht durch pathetischen Appell oder irreale Versprechungen, sondern indem er an die Größe Frankreichs und die Kraft seines Volkes erinnert.
In der Zeit der Verwirrung, des passiven Erleidens, macht er sich zum Sprecher der Liebenden, die durch den Krieg auseinandergerissen wurden – Le Crève-Cœur (Das Herzeleid) nennt er den schmalen Band, in dem er die Gedichte der Jahre 1939 und 1940 sammelt. Aber schon in der tragischen Würde des unmittelbar nach dem Waffenstillstand geschriebenen Gedichts „Der Flieder und die Rosen“, kündigt sich jener epische Geist an, der in der Resistance-Dichtung zur vollen Entfaltung kommen wird:
O Mond der Blütenfülle Mond der Metamorphosen
Mai wolkenlos und Juni von scharfem Dolch durchwühlt
Nie werd ich dies vergessen den Flieder und die Rosen
und jene die der Frühling in seinem Schurz behielt
Nie werd ich je vergessen die Gärten Frankreichs Fluren
wie strahlende Missale vergangner Alter glühn
und Sträuße ihr des Rückzugs Rosen und Rosen wieder
wie ferne Feuerbrände die Rosen von Anjou
Und in der empörten Klage über die Leiden der Unschuldigen, die, von ihren Heimstätten vertrieben, im Chaos des Rückzuges sinnlos gehetzt werden, steht die Gestalt des künftigen Widerstandskämpfers auf:
Er war schwarz wie die Bergwerke
Dieser Riese der heimkehrte
Nach Méricourt oder Sallaumines
Noch ist es Wut und Verzweiflung, die die „St. Christophore der Landstraße“ in ihre Dörfer zurücktreibt, „ohne Tränen, ohne Hoffnung, ohne Waffen“ – aber man fühlt: bald werden sie Waffen und Hoffnung haben, diese „Riesen vor dem weißen Himmel des Zorns“.
Etwa zwei Jahre lang nützt Aragon die Möglichkeiten der legalen Publikation. Einzelne Gedichte und der Band Les Yeux d’Elsa (Elsas Augen) werden in der Schweiz und in Algier gedruckt, können aber ohne Behinderung in der „nicht-okkupierten Zone“ verbreitet werden. Aragons poetische Konterbande, von den meisten Lesern mühelos gedeutet, bleibt den Zensoren der Petain-Regierung unverständlich, da sie die gedanklichen und emotionalen Assoziationen der aufrechten Franzosen nicht teilen. So vermögen sie in den „Toten des Mai“, die sie für die Gefallenen des Krieges halten, nicht die im Mai 1941 hingerichteten Kommunisten zu erkennen oder die Opfer der „blutigen Maiwoche“ des Jahres 1871. Nicht immer freilich gelingt die List. Findige Prüfer, durch das Wort Rußland aufgeschreckt, entdecken hinter der antiken Maske des Gedichtes „Nymphée“ die Aktualität.
Nymphaion – so hieß im Altertum die Stadt Kertsch. Und es geht in diesen Strophen nicht um den König Mithridates und die Römer… Unbegreiflich bleibt, daß die Zensur die grandiose Symbolik des Brocéliande-Zyklus nicht durchblickte. Rückkehr zu den keltischen Mythen – das war für sie wohl ästhetisierende Spielerei oder Ausweichen in die Historie. Aragons Leser aber erkannten in den Hexenmeistern und Drachen dieses Zauberwaldes die Herren von Vichy und die Gestapo. Und der große Regen, auf den sie warteten, war die zweite Front.
In einigen den Gedichtbänden der Kriegszeit beigegebenen Essays, die in ihrer Gesamtheit eine Ars poetica des Realismus ergeben, hat Aragon die tieferen Gründe für die Wiederbelebung mittelalterlicher Themen und Formen in seiner Lyrik enthüllt. In der Zeit der nationalen Erniedrigung, der Vergewaltigung seines Landes durch ein kulturloses, barbarisches Regime, will er daran erinnern, daß in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in einem politisch zerrissenen, entzweiten Frankreich die französische Nationalliteratur geboren werden konnte, daß die von dieser Dichtung gesetzten Maßstäbe revolutionierend und veredelnd auf alle Nachbarländer wirkten. Die Chansons de Geste, vor allem der „Perceval“ des Nordfranzosen Chrétien de Troyes, in dem die höfische Sitte ihren reinsten Ausdruck fand, weckte in ganz Europa „die Liebe zur Gerechtigkeit, den Sinn für Ritterlichkeit, für die Verteidigung der Schwachen, für die Lobpreisung hoher Gedanken“. Dieses sittlich fundierte Ideal des Heldentums, das die Kämpfer der Resistance mit den Gralsrittern teilen, stellt Aragon dem nazistischen Pseudoideal heldischer Männlichkeit entgegen. Und indem er den Geist der nationalen Mythen heraufbeschwört, die „auf die Füße gestellt, nicht nur zum Träumen, sondern zum Handeln anregen“, will er den Ungeist des rassistischen Mythos widerlegen. Den gleichen Bezug zur Gegenwart hat seine Verteidigung des oft verspotteten Frauenkults der provenzalischen Troubadours, in dem er, trotz mancher Ausartungen, eine „erstaunliche Reaktion auf die feudale Barbarei“, auf die unmenschliche Behandlung der Frau und auf die Verherrlichung der brutalen männlichen Kraft sieht. „Diese Moral der Liebe ist eindeutig das Präludium jener Ideen, die später Frankreich zur Leuchte der Welt machen werden.“ Aragons intensives Studium des „trobar clus“, des „verschlossenen Dichtens“, und der provenzalischen Verstechnik ist ebensowenig das Produkt einer Laune wie die Beschäftigung mit den großen Themen und Gestalten der mittelalterlichen Romanzyklen. Er hat die Hinwendung zu altertümlichen Strophenformen und vor allem zum Reim in einigen Aufsätzen ausführlich begründet: im Nachwort zu Le Crève Cœur (Der Reim im Jahr 1940), im Vorwort zu Les Yeux d’Elsa und im Nachwort dieses Bandes (Die Lehre von Ribérac), einer Würdigung des kunstvollen, originellen und von der Nachwelt zu wenig gewürdigten Troubadours Arnaud Daniel, der von der Burg Ribérac stammte.
Daß die moderne französische Lyrik sich immer mehr vom Reim abwandte und ihn schließlich gänzlich verwarf, erklärt Aragon als Reaktion auf ein erstarrtes System pedantischer Regeln, das sich in Frankreich bis tief ins 19. Jahrhundert unangefochten behaupten konnte. Die durch bestimmte Eigenheiten des Französischen geförderte formalistische Degeneration des Reims ließ vergessen, daß mit seiner Einführung (und dem gleichzeitigen Übergang zu den romanischen Volkssprachen) die Emanzipation von den lateinischen Vorbildern und die Entwicklung einer eigenständigen französischen Literatur begann. Durch die Rückkehr zum Reim und zu strengen metrischen Formen will Aragon sich „in die große Bewegung der französischen Poesie einordnen“ – nicht etwa indem er das Vergangene als unveränderliches Vorbild aufrichtet. „Wir leben im Jahr 1940. Ich erhebe meine Stimme und sage: Es ist nicht wahr, daß es keine neuen Reime gibt, wenn es eine neue Welt gibt.“ Er fordert von der modernen Dichtung das Vokabular der Gegenwart. „Dann erlangt der Reim seine Würde wieder, weil er neue Dinge in die alte und erhabene Sprache einführt…, die man Poesie nennt.“ Und weil er „das Bindeglied zwischen den Dingen und dem Lied ist“, weil er die „Dinge zum Singen bringt“. Aragon verwahrt sich entschieden gegen primitive populistische Tendenzen, diese auf Reim und Rhythmus beruhende Sangbarkeit als folkloristische Imitation des Volksliedes zu deuten. Der durch den „formalen Individualismus“ und die Originalitätssucht der modernen Lyriker verschuldete Kontaktverlust kann nur gutgemacht werden, wenn der Dichter die im Volk lebendigen Erfahrungen aller seiner poetischen Vorfahren bewußt nutzt und sie im Geist der Gegenwart erneuert. Das erfordert unermüdliche Arbeit und jene strenge Disziplin, in der Aragon die echte Freiheit des Dichters sieht.
Seine Auffassung vom Wesen einer nationalen Dichtung, sein Vertrauen in die Fähigkeit des Volkes, auch schwierige, anspruchsvolle Lyrik zu verstehen, wenn ihr Autor sich nicht von der Tradition loslöst und verstanden sein will, ist von seinem Publikum selbst bestätigt worden: eine unübersehbare Anzahl seiner Gedichte, von den bekanntesten Chanson-Komponisten vertont und auf Platten aufgenommen, wird überall in Frankreich gesungen – nicht nur die schlichtesten, melodiösesten, sondern auch gedankenschwere Verse mit überhöhter Metaphorik.
Mit der Souveränität des großen Dichters, der die Preisgabe seiner Geheimnisse, die Enthüllung seines Reichtums nicht zu scheuen braucht, hat Aragon seine Verstechnik analysiert. Sie beruht, auf eine sehr verknappende Formel gebracht, auf der Fortführung der von Apollinaire eingeleiteten revolutionierenden Umwandlung des optischen Reims in den akustischen, auf der extensiven Verwendung des Binnenreims und auf einer nach Aragon benannten Neuerung, der „rime aragonienne“, die durch die Verbindung des letzten Wortes einer Zeile mit dem ersten Buchstaben der folgenden Zeile zustande kommt und unbegrenzte neue Reimkombinationen ermöglicht. Die geradezu verblüffende technische Virtuosität erinnert an das „trobar clus“, aber sie ist niemals Selbstzweck, bloßes Spiel. Der Reim dient der Intensivierung des Sinns. „Er verbindet die Worte auf unzerstörbare Weise und läßt eine Notwendigkeit ihrer Anordnung erkennen, die… dem Geist ein Vergnügen, eine wesentlich rationale Befriedigung verschafft.“ Man muß hinzufügen, daß diese geistige Freude an der Sinngebung nie durch Vernachlässigung des spezifisch Poetischen, sondern gerade durch die völlige Verschmelzung von Gedanken und Melodie bewirkt wird.
Aragon hat zu keiner Zeit auf die Vielfalt der Formen und Symbole verzichtet. Aber es ist nicht zu verkennen, daß die Diktion der in der vollen Illegalität geschriebenen Gedichte direkter und schlichter wird. Von den Fesseln der Zensur befreit, gibt er rückhaltlos, was die geschichtliche Situation „im vierten Sommer unserer Apokalypse“ fordert, beißende politische Satire, die Petain, Mussolini und Hitler beim Namen nennt (Le Musée Grévin). Und endlich darf er offen die Opfer und Helden besingen: die zahllosen anonymen Kämpfer und Gabriel Péri, den das Volk ehrte, indem es eine Legende über seinen Tod dichtete. Diese bereits klassisch gewordenen Balladen der Resistance, die in den letzten Jahren des Zorns und der Revolte im ganzen Land heimlich gesungen wurden, hat Aragon in die 1945 veröffentlichte Diane Française (Französische Reveille) aufgenommen.
Das Glück der Befreiung (Was wogen Ruinen und Schmerzen / Die Luft war uns so leicht so leicht) währt nicht lang. Gleichgültigkeit und Verrat machen sich breit – der „Bauernfang“ von MCMXVI. Le Nouveau Crcève-Cœur (Das neue Herzeleid) ist der Titel des 1948 veröffentlichten Gedichtbandes. Aber keinen Augenblick erstickt die Bitterkeit das „Lied für die Leute ohne Dach“, das Lied, „das dem Menschen seinen Traum wiedergibt“, das „Lied für euch und für mich“.
Ich singe gegen den Sturm und was kümmern mich
Jene die im blonden Weizen nicht
Das künftige Brot erkennen
Verstand und historische Einsicht allein vermöchten diese unbeirrbare Zuversicht nicht zu erzeugen. Sie wird genährt durch die Liebe zum Menschen, die sich in der Liebe zu Elsa ständig erneuert:
Es gibt keine Liebe die nicht unsere Liebe ist
Die Spur deiner Schritte erklärt mir den Weg
Die Geschichte und unsere Liebe haben den gleichen Atem
Dich singe ich MIT dem Sturm
Solche Zeilen, in denen das Ideal einer modernen erotisch-geistigen Beziehung von Mann und Frau sich als Wirklichkeit darstellt, erhalten in der dritten Phase von Aragons lyrischem Schaffen eine wörtlich-konkrete Bedeutung. In den großen Dichtungen, die während der nächsten zwei Jahrzehnte entstehen, gibt es zahllose Bezüge zum literarischen Schaffen Elsa Triolets: von poetischen Bildern, die auf Personen und Situationen in ihren Romanen anspielen, bis zur Identität des Grundthemas. Aragon erkennt als Ursache dieser freiwilligen Abhängigkeit dankbar ihre weiblich-divinatorische Fähigkeit, in der Imagination vorauszunehmen, was sich bald darauf als historische Problemstellung von bestürzender Aktualität erweist.
Les Yeux et la Mémoire (Blick und Erinnerung), niedergeschrieben in der Zeit des kalten Krieges, zwischen dem 15. November 1953 und dem 25. Juli 1954, bezeichnet er als Kontrapunkt zu Elsa TrioIets Roman Le Cheval Roux (Das rote Pferd, Oktober 1953). In fünfzehn Gesängen, fast möchte man sagen, Kapiteln, handelt er das in dem Roman vorgegebene bipolare Thema ab: die apokalyptische Bedrohung durch den Atomtod und die Gewißheit des Sieges über die Unmenschlichkeit. Dieses Poem, aus Furcht und Mitleid geboren, ist dennoch eine Botschaft der Hoffnung. Schon im zweiten Abschnitt wird die kreatürliche Angst, von der die Introduktion beherrscht ist, durch wertende Rückschau auf das eigene Leben korrigiert:
Und das im Grunde ists was niemals ich versteh
Die Ängste vor dem Tod die mancher in sich trug
Als wär es nicht des Wunderbaren schon genug
Wenn ich sekundenlang den Himmel blauen seh
Aragon weiß, daß „Ein Gedicht in der dritten Person geschrieben / Niemals der Schrei aus Eingeweiden ist dem man glaubt“. Doch der Hinweis auf die individuelle Erfahrung, daß selbst bittersten Erlebnissen und einer melancholischen Grunddisposition immer wieder ein intensives Glücksgefühl abgerungen werden kann, würde nicht genügen, um Menschen zu der Gesinnung zu bekehren, die er einmal „historischen Optimismus“, einen „Optimismus auf lange Sicht“ genannt hat. Die emotional aufrüttelnde und zugleich klärend-beruhigende Wirkung dieses „Lehrgedichts“ beruht darauf, daß Aragon sein eigenes Leben zum Modell einer Entwicklung macht, die von der Geschichte gefordert wird. Aus der Vereinzelung findet er in das „riesige Laboratorium der Klasse“, die ihm das Bewußtsein der Kraft und Verantwortung gibt. „Die Zukunft das sind die anderen“; „Sterben ist nicht mehr Sterben“ für jene, die dem „großen Traum“ dienen, die nicht „Streikbrecher“ beim Bau der Zukunft sind. Vor diesem gemeinsamen Willen muß die luziferische Gegenfigur verstummen, der „Schatten“, der immer wieder den Gesang mit dem zynischen Rat unterbricht, in vernünftig-egoistischer Beschränkung nur dem Augenblick zu leben. Der Dichter verschweigt nicht die Größe der Gefahr, er weiß, „Alles ist noch zu tun / In dem Jahrhundert wo der Tod kampiert“. Aber er fordert das „Recht an der Wegbiegung zu träumen“ – einen Traum, der nicht von vagen Illusionen, sondern von seinem historischen Optimismus genährt wird. Für Les Yeux et la Mémoire” gelten die Worte, die Aragon für ein Poem von Paul Eluard geprägt hat: „Lest das wie eine Zeitung. Die Poesie, unsere Poesie, muß man lesen wie eine Zeitung. Die Zeitung der Welt, die kommt.“
In einem Gespräch, das Aragon im März 1960 führte, charakterisierte er sich als einen „Gegner des Individualismus, der ICH sagt“. Aus diesem Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Einzelschicksal und Menschheitsgeschichte, resultiert jede Seite, die er schreibt, sei es Prosa oder Lyrik. Doch die Relation ist nicht statisch, das Maß an Subjektivität, das der Dichter beanspruchen darf, wird bestimmt durch jene „unvergleichliche Empfindlichkeit für die historische Bewegung“, die er Victor Hugo zuspricht und die er mit ihm teilt. Das Jahr 1953 verlangte gebieterisch die politische Autobiographie, den kämpferischen Appell. Le Roman Inachevé (Der unvollendete Roman, 1956), ist eine monologisierende Selbstüberprüfung, die sich vor allem dem persönlichen Erlebnisbereich zuwendet, ohne das Thema der öffentlichen Verantwortung völlig zu eliminieren. Aber Ober- und Unterstimme sind vertauscht, der Hymnus weicht der Elegie. Böswillige Kritiker, die Aragon nie verzeihen konnten, daß er von der Literatur politische Parteilichkeit fordert, haben versucht, aus der gewollten thematischen Begrenzung und aus der tiefen Trauer, die lange Strecken dieses Poems beherrscht, einen weltanschaulichen Widerruf herauszulesen. Sie gingen bis zur Fälschung, indem sie Passagen, die sich eindeutig auf die surrealistische Phase und ihre Überwindung beziehen, als Absage an den Kommunismus deuteten. Kein Zweifel, daß die dunklen Töne überwiegen. Konfrontation mit der Vergangenheit als Akt der Selbstbesinnung, Rückschau auf eigenes Verschulden und unverschuldetes Leiden ist bitter und qualvoll, um so mehr, wenn die von einem Dichter von äußerster Sensibilität vollzogen wird, in einer Epoche geschichtlicher Überprüfungen und Neubewertungen. Es genügt, einige Zeilen zu zitieren, die sich auf den letzten Seiten des „Roman Inachevé“ finden, um die These von einem Gesinnungswechsel zu widerlegen:
Mag ich mich hunderttausendmal im Weg geirrt haben…
Was tuts wenn am Ende die Nacht sich teilt
Im tiefsten Dunkel des Unglücks hör ich den Schrei des Hahns
Wenn der Nacken des Menschen für die Faust des Henkers gemacht ist
Wenn seine Arme dem Kreuz verschrieben sind
Es gibt das Glück und ich glaube daran
Diese Auffassung des Glücks als Spannungszustand zwischen Trauer und Hoffnung ist nicht Ausdruck einer plötzlichen Verzweiflung. Schon in einem Gedicht des Jahres 1945 läßt Aragon, dessen Werk ein einziger großer Liebesgesang ist, dennoch jede Strophe in den Kehrreim münden: „Es gibt keine glückliche Liebe.“ Das persönliche Glück bleibt zerbrechlich und unvollständig, solange ungezählte Millionen Not leiden, solange die Menschheit durch die Möglichkeit der Selbstzerstörung bedroht ist, solange die Beziehung des Menschen zum Menschen, des Mannes zur Frau durch Gewalt, Brutalität und Zynismus entstellt ist. Eine Liebe wie die seine, die sich der Vollkommenheit nähert, steigert die Empfindlichkeit für die Unzulänglichkeiten menschlichen Zusammenlebens aufs äußerste, um so mehr, wenn der unmittelbare Wahrnehmungsraum eine der Humanisierung feindliche Gesellschaft ist. Aber immer und überall kann echte Liebe zur Keimzelle einer über die Enge des Ich hinausweisenden Lebensform werden, die das Bild der künftigen Menschengemeinschaft enthält. „Für mich ist innerhalb der Grenzen, der Dimensionen eines Menschenlebens die Liebe die einzig mögliche Umsetzung des historischen Optimismus. Mit anderen Worten: das Glück in dieser Form ist die einzig mögliche Vorausnahme des historischen Glücks. In der Liebe stellt jeder den anderen über sich selbst.“
Und so klingt auch der Roman Inachevé in einen Hymnus auf Elsa aus.
Seit Aragons Dichtung durch ihre Persönlichkeit inspiriert wird, hat er sich gegen den „ewigen Platonismus“ von Interpretationen verwahrt, die Elsas Gestalt und die an sie gerichteten Verse symbolisch zu deuten versuchen. Nirgends wird der menschlich-konkrete Charakter dieser Liebe so deutlich wie in dem poetischen Porträt „Elsa“ (1959), wo, wohl zum ersten Mal in der Geschichte der Liebeslyrik, intellektuelle Bewunderung als wesentliches Element des Liebesgefühls erscheint. Der Mann hat begriffen, daß er sich „den Geist der Frau nicht unterwerfen kann“. Dennoch bekennt er in barocker Selbstironie die quälende Eifersucht, die ihn überfällt, wenn die Geliebte sich in Phasen intensiver künstlerischer Produktivität vor ihm verschließt, Traumgeschöpfe zur Welt bringt, an denen er keinen Anteil hat. Der wissende Mut, mit dem hier menschliche Widersprüchlichkeit bis in ihre tragischen Aspekte preisgegeben wird, erhebt dieses von der Melancholie des Alters gezeichnete Poem zu einem document humain höchsten Ranges.
Die unbehinderte Entfaltung des Emotionalen, die sich in Le Roman Inachevé und Elsa durchsetzt und eine notwendige Stufe in Aragons unbeirrbarem Ringen um menschliche und künstlerische Totalität bezeichnet, löst eine neue Variabilität der Form aus. In ständigem Wechsel passen sich Strophe, Metrum und Zeilenlänge der Stimmung an, krisenhafte Ausbrüche werden durch ein plötzliches Umschlagen in Prosa markiert. Häufiger als sonst begegnet man freien Rhythmen (deren Existenzberechtigung neben anderen Formen Aragon nie bestritten hat). Der Anspruch auf alle, auch entlegene Möglichkeiten des lyrischen Ausdrucks, deren Verwendung er freilich immer der Analyse und Kontrolle unterwirft, ist im Grunde der Gegenstand des Poems Les Poètes (Die Dichter, 1960), eines imaginären, nicht aufführbaren Theaterstücks, in dem die Schatten von Majakowski und Lorca, Nezval und Apollinaire liebevoll heraufbeschworen werden. Provozierende Bizarrerie, die Erinnerungen an Aragons früheste literarische Experimente weckt, und leidenschaftlicher Ernst gehen eine faszinierende Verbindung ein; dem „Spiel der Laterna Magica“ folgt der erschütternde Monolog der „Ansprache in der ersten Person“.
Die in Les Poètes gestellte Frage: „Aber was denn was denn ist Poesie“ hatte Aragon Jahre zuvor in seinem Essayband Chroniques du Bel Canto so beantwortet:
Ich glaube, die Poesie fängt genau dort an, wo wir auf Wegen, die nicht unbedingt die des alltäglichen Begreifens sind, zu verstehen beginnen. Durch die Poesie gelange ich direkter zur Wirklichkeit, auf einer Abkürzung, die überraschend zur Lichtung führt. Die poetische Ergriffenheit zeigt an, daß Erkenntnis erreicht ist, eine Bewußtheit, die Zwischenstufen überspringt. Nicht umgekehrt… Deshalb fordere ich von der Poesie… historische Genauigkeit, die, weit davon entfernt, mich am Träumen zu hindern, meinem Traum das riesige Feld der Wirklichkeit öffnet.
Aragons letztes Poem, Le Fou d’Elsa (Elsas Narr, 1963), ein riesiges Freskogemälde von mehr als 400 Seiten, ist die kühnste, souveränste und umfassendste Synthese von Traum und Wirklichkeit, die er bisher geschaffen hat. Den Hintergrund bildet die Stadt Granada der Jahre 1489 bis 1492, das islamische, noch nicht von den katholischen Majestäten eroberte Granada mit seinem letzten Emir Boabdil. Aragons Wissen, ob es sich um die schlichtesten Lebensgewohnheiten des Volkes oder die Sitten am Hofe des Emirs, um die kunstvollen Formen der andalusisch-arabischen Dichtung oder die sublimen Spekulationen der zeitgenössischen Philosophen handelt, ist imponierend. Aber wie in seinem Roman Die Karwoche ist die Geschichte „Sprungbrett für die Phantasie“. Die räumlich-zeitliche Ansiedlung des Poems im Schnittpunkt zweier Kulturen, im Augenblick ihrer endgültigen Auseinandersetzung, erlaubt ihm die Entfaltung einer historischen Dialektik, die, ohne das Faktische zu mißachten, zu menschlich-philosophischen Verallgemeinerungen aufsteigt. In immer neuen Brechungen und Spiegelungen erscheint eines der Grundthemen seines Werkes: das Verhältnis von individueller und geschichtlicher Zeit, Gegenwart als Verbindung von Vergangenheit und Zukunft. Mittler zwischen den Epochen ist ein arabischer Straßensänger, Medjnoûn, der Narr, genannt und von allen verspottet, weil er in leidenschaftlicher Liebe eine Frau besingt, die erst vierhundert Jahre später leben wird – Elsa. In visionärer Verzückung verkündet er das Glaubensbekenntnis seines geistigen Schöpfers: „Die Zukunft des Menschen ist die Frau.“ Erst wenn der Mann in der natürlichsten menschlichen Beziehung seinen alten Herrschaftsanspruch aufgegeben hat, kann das Paar zur „Grundzelle“ einer von der Gewalt erlösten, vom Geist der Liebe gelenkten Menschengemeinschaft werden. „Es kommt der Tag da diese Vollkommenheit die Paar heißt unzählbarer König der Erde sein wird.“
Nach den Ursachen der Faszination befragt, die ihn jahrelang in Andalusien gefangenhielt, nannte Aragon die innere Verwandtschaft der spanisch-arabischen Dichtung mit der provenzalischen Troubadour-Lyrik. Aber seine Vertiefung in die Geheimnisse der islamischen Kultur war auch ein Akt der historischen Gerechtigkeit. Der algerische Krieg hatte ihm bewußt gemacht, welche Barriere von traditioneller Überheblichkeit und Ignoranz selbst den wohlmeinenden Westeuropäer von den afrikanischen Völkern trennt. Einer „humanistischen Tendenz“ folgend, die hinter allen Unterschieden der Lebensformen die menschliche Gleichheit sucht, hat er für sich und damit für zahllose andere diese Gewissensschuld getilgt.
Le Fou d’Elsa ist das letzte große Poem, das Aragon veröffentlicht hat, Wohl erschien 1964 ein schmaler Gedichtband, Le Voyage de Hollande (Holländische Reise), 1966 eine Elegie an Pablo Neruda; aber man fragt sich, ob vielleicht wieder eine jener Schaffensperioden begonnen hat, in denen er sich vorwiegend dem Roman zuwendet. Oder verstärkt sich – manche Anzeichen sprechen dafür – eine in seinem Werk seit jeher nachweisbare Tendenz, die bei anderen Schriftstellern scharf gezogene Trennungslinie zwischen Prosa und Lyrik zu durchbrechen? In allen seinen Romanen und sogar in den Essays gibt es Passagen, die eindeutig der Lyrik zuzuordnen sind, während Poeme wie Le Roman Inachevé und Les Yeux et la Mémoire ihrem eigentlichen Wesen nach Entwicklungsromane sind. Es wäre sinnlos und vermessen, Prophezeiungen zu wagen. Aragons Phantasie, sein Wille und seine Fähigkeit zum Neubeginn sind unerschöpflich. Aber welchen Themen er sich in der Zukunft zuwenden, mit welchen künstlerischen Mitteln er sie bewältigen mag, sicher ist, daß jeder Vers, den er schreibt, der immer neuen, immer gleichen Aufgabe der Dichtung dienen wird, „Herausforderung des Menschen an sich selbst“ zu sein:
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaadennoch vielleicht
Wenn Radar den Menschen ablöst
Wird es keine Automation des Gedichts geben…
Wir werden die letzten Handwerker sein wenn längst
Der Nagel nichts mehr ist als Erinnerung aus der Vorgeschichte…
Wir werden nicht aufhören jedes Wort mit unserem Blut zu bezahlen
Wir werden die Pechfackel sein in der elektrischen Zentrale
Das unlösbare Problem inmitten von Rechenmaschinen…
Singe Gesang wie die Flamme von Baum zu Baum
Wie der Blitz von Kirchturm zu Kirchturm…
Gesang der der Liebe gleicht
Marianne Dreifuß, Sommer 1967, Nachwort
Es geht mir unter meinen Landsleuten merkwürdig mit dem Dichter Aragon, dem ich über alle Zeitgenossen stelle – ich sage „über alle“ und meine nicht nur Franzosen. Ich habe einmal einen der großen Romane Aragons übersetzt, dagegen von seinen vielen hundert Gedichten nur zwei, das ist lange her, und seitdem befinde ich mich in der Lage eines Menschen, der seinen Freunden und Bekannten bei jeder Gelegenheit von einer Landschaft spricht, die sie nie gesehen, von einem Wein, den sie nie gekostet haben, wobei er ihnen zuredet, sie beschwört, sie mögen ihm doch ja glauben, diese Landschaft, dieser Wein sei mit nichts anderem vergleichbar. Ich rede natürlich von dem Lyriker Aragon, der bisher in deutscher Sprache so gut wie nicht vorhanden war.
Das ist nun, nach Jahrzehnten, anders geworden. In der schönen Lyrikreihe des Verlags Volk und Welt, in der bisher einige der bestimmenden Dichter des Jahrhunderts wie die Achmatowa, Radnóti, Arghezi erschienen sind, gibt es jetzt einen Aragon, zweisprachig wie die meisten Bände der Reihe, die erste Buchausgabe Aragonscher Gedichte in deutscher Sprache.
Die Tatsache muß vermerkt werden. Vermerkt werden soll die Beharrlichkeit und der Mut der Herausgeberin Marianne Dreifuß, die eine Aufgabe in Angriff nahm, vor der andere; ich zum Beispiel, zurückschreckten; und die überdies, man mag sagen, was man will, die selbstgestellte Aufgabe auf respektable Art löste. Man kannte Marianne Dreifuß als eine sehr gebildete und sensible Lektorin; hier macht sie in einer von ihr zusammengerufenen Schar von Übersetzern ihr Debut als Nachdichterin. Sie kommt zu eindrucksvollen Ergebnissen. Außerdem hat sie ein Nachwort zu dem Buch geschrieben, das dem deutschen Leser viele Zugänge zu dem wahrscheinlich doch kompliziertesten, ich möchte sagen abenteuerlichsten Werk moderner Poesie erschließt; nicht, daß dieses Nachwort nicht manche Wünsche offenließe, auch behandelt es die letzte Periode dieser Dichtung etwas summarisch und geht auf manches Wichtige nicht ein wie etwa auf das schon vor zehn Jahren erschienene Buch J’abats mon jeu (Ich decke meine Karten auf), in dem Aragon wesentliche Gedanken zum eigenen Werk und seinen Voraussetzungen äußert; dennoch bleibt das Nachwort der Herausgeberin die bisher beste Einführung in Aragons Dichtung in deutscher Sprache. Daß dem so ist, bezeichnet allerdings auch den Skandal einer Vernachlässigung.
Ich habe oft genug das Abenteuer des Übersetzens zu beschreiben versucht, jenes Wagnis, das ich die Eroberung des Gedichts, die Integrierung des Gedichts in die eigene Sprache nenne. Natürlich bietet da jeder Dichter dem Übersetzer ein neues, sein eigenes Problem. Ich habe aber bisher keinen gefunden, bei dem die Summe zu überkommender Schwierigkeiten höher läge als bei diesem. Die Entsprechungen, die sich dem Übersetzer Aragons anbieten, ja aufdrängen, enthüllen sich schon beim zweiten Blick allzuleicht als Fälschungen. Die Intonation bekommt im Deutschen gern einen süßen, um nicht zu sagen süßlichen Klang, den das Original nicht besitzt. Der Aragonsche Stil, ein sehr merkwürdiges Amalgam aus Alltags- und Kunstsprache, klingt deutsch unversehens hochgestochen und manieriert, wo er doch in Wirklichkeit den Leser durch Einfachheit, Intelligenz und die Fülle ebenso unvorhersehbarer wie schlagender Einfälle überwältigen müßte. Ein Aragonscher Vers entzückt noch den Verstand, wo er einem schon das Herz stocken läßt. Ich will gleich ein Beispiel anführen, um zu erklären, was ich meine.
Das Buch, um das es hier geht, trägt den Titel Zu lieben bis Vernunft verbrennt. Ich gebe zu, daß der Titel mir beim ersten Lesen sogleich unbehaglich ist, weil er, ohne weiteres als Gedichtzitat kenntlich, dem Leser etwas als Poesie suggeriert, das in Wirklichkeit unter dem Zwang der Umstände an die Stelle der Poesie getreten ist. Das Gedicht, aus dem die Zeile stammt, besteht aus regelmäßigen gereimten Sechszeilern, deren vierte Strophe, prosaisch übersetzt, so beginnt: „Lieben, daß man den Verstand verliert – lieben, daß man nicht mehr weiß, was man sagen soll – daß man nur noch dich als Horizont hat“ und so weiter… Hier wird unter dem Zwang des Reims also jenes gar nicht außergewöhnliche Bild von der Liebe, die einen den Verstand verlieren läßt, ein Bild, das seine poetische Kraft aus dem Kontext bezieht, in dem es steht, in das „seltenere“, in Wahrheit aber pseudopoetische, schwächliche „Zu lieben bis Vernunft verbrennt“ umgebogen; pseudopoetisch, weil die Findung dieser verbrennenden Vernunft nicht einmal auf den ersten Blick als genuine Neuentdeckung empfunden wird, sondern nur als mühsame Kontorsion. Ich habe hier ein beliebiges Beispiel angeführt, um zu zeigen, wie leicht der deutsche Übersetzer eines Aragon-Gedichts aus echter Originalität in eine falsche einschwenken kann, wobei es sich übrigens gerade bei dem hier gemeinten Übersetzer um einen hervorragenden Dichter handelt. Das Beispiel zeigt die wirkliche Problematik der Aragon-Übersetzung: an die Stelle der Integration, des Einschmelzens in die eigene Sprache tritt vorgebliche Poetisierung, die im Original immer wieder zur Bewunderung herausfordernde Mühelosigkeit muß Wendungen weichen, deren artifizieller Anspruch eigentlich unbegründet ist.
Auch hier, in dieser Zusammenstellung, finden sich, was noch ärgerlicher ist, gelegentlich schlichte Übersetzungsfehler oder auch, meist ebenfalls durch Reimzwang verursachte, Freiheiten, die das zulässige Maß überschreiten. Wenn Klaus Möckel den Titel eines Gedichts, das „La Beauté du diable“ heißt, wörtlich mit „Die Schönheit des Teufels“ übersetzt, so irrt er. Als Beispiel für die andere Versündigung sei das folgende erwähnt: wenn es bei Aragon irgendwo „In der Dämmerung des Blutes“ („Dans ce crépuscule de sang“) heißt, macht der Nachdichter, weil es ihm besser paßt, daraus „Blut der Dämmerungen“, was ein durchaus mögliches Bild ist, auch nicht einfach das Gegenteil des erstgenannten Bildes, sondern etwas ganz anderes. Das eben nenne ich eine unzulässige Freiheit. Ich kann als Nachdichter, besonders dann, wenn Metaphern sich häufen, zu einem Verzicht gezwungen sein, ich kann eine Wahl zu treffen haben, aber ich habe nicht das Recht, die Teile einer Metapher zu vertauschen.
Dennoch gibt es dann wieder erstaunlich Gelungenes. Marianne Dreifuß selber hat sich an eines der ergreifendsten und zugleich schwierigsten Gedichte aus dem Kriege gemacht, jenes „Elsa vor dem Spiegel“, das nichts weiter zeigt als eine Frau, die sich kämmt, endlos, schweigend, während sie im Spiegel die Visionen des Schreckens zu erblicken scheint, ein Gedicht, in dem sich immer wieder die schöne Zeile wiederholt:
C’était au beau milieu de notre tragédie.
Die Nachdichterin hat dafür eine richtige und wohlklingende Entsprechung gefunden:
Das Trauerspiel war bis zum dritten Akt gediehn.
Es gelingt ihr auch weiter, dem Leser eine Vorstellung von dem wundervollen Gedicht zu geben, obwohl sie ihre eigenen Möglichkeiten selber eingeschränkt hat.
Eine der schönsten Übersetzungen des Bandes, zugleich eine der ältesten, stammt von Friedhelm Kemp. Das Gedicht „Der Flieder und die Rosen“ beschreibt eine Episode des Krieges, die deutsche Offensive im Mai 1940, den Vormarsch der französischen Truppen über die belgische Grenze, den Jubel der Bevölkerung, die sich geschützt und befreit meint, das darauffolgende Debakel.
O Mond der Blütenfülle Mond der Metamorphosen
Mai wolkenlos und Juni von scharfem Dolch durchwühlt
Nie werd ich dies vergessen den Flieder und die Rosen
und jene die der Frühling in seinem Schurz behielt
Nie werd ich dies vergessen die tragische Verblendung
den lauten Jubelzug das Volk die Sonne groß
die Panzer Belgiens Gaben und liebende Verschwendung
der Straßen grellen Flimmer in summendem Getos
den Taumel des Triumphes voran ob Schlacht und Stürmen
das Blut das im Karmin der Küsse schon erglänzt
und jene Todgeweihten aufrecht in ihren Türmen
die ein berauschtes Volk mit Flieder rings umkränzt
Ungleichmäßiges findet man dann wieder unter den späten Gedichten, von denen einige wundervolle Beispiele abgedruckt sind – aber die Übersetzung läßt uns im Stich. Klaus Möckel übersetzt einen Vierzeiler so:
So viele Menschen sah ich gehn
Ein Funke hätte schon genügt
Zu rasch verzagt zu schnell begnügt
Ihr Zorn war schwacher Winde Wehn
Was da im Original steht, will ich wörtlich wiedergeben:
So viele hab ich gehen sehn – sie haben nur um Feuer gebeten – mit so wenig waren sie zufrieden – so gering ist ihr Zorn gewesen.
Man wird bemerken, daß hier wie so oft bei Aragon die erschütternde Wirkung einer Strophe aus ihrer Anspruchslosigkeit kommt. Das einzige Bild, das im Original unvergeßlich auftaucht, ist das Bild des Passanten, der auf der Straße im Vorbeigehen jemand um Feuer bittet und verschwindet – er hat wie Millionen anderer nur Feuer verlangt, und sonst nichts im Leben. Was der Übersetzer uns anbietet, ist ein ganz anderer, dafür aber auch sehr banaler Gedanke:
Ein Funke hätte schon genügt.
Auch er tats um des Reimes willen. Um uns zu entschädigen, denkt er sich für die letzte Zeile („so wenig Zorn war in ihnen“) etwas aus, das nicht dasteht, das Aragon übrigens auch nicht zuzutrauen ist.
Der gleiche Nachdichter findet übrigens an anderer Stelle bessere Lösungen; noch bessere findet Paul Wiens, der ein Stück aus Les Poètes übertragen hat. Dennoch muß man sich im klaren darüber sein, daß man es bei vielen Stücken in diesem Band nur mit Anläufen zu tun hat, mit Stufen, die einem größeren, vielleicht einem endgültigen Gelingen entgegenführen. Der Leser, der auch nur geringe Kenntnisse des Französischen besitzt und den Urtext im Blick behält, wird einen Teil wenigstens der originalen Schönheit dieser Dichtung begreifen und sich gleichzeitig ein Bild von den enormen Schwierigkeiten der Übersetzung machen können. Natürlich kann man es sich leichtmachen und konstatieren, daß eine Übersetzung, die das Original nicht erreicht, besser unterblieben wäre. Gerade ernsthaften Übersetzern ist dieser Gedanke, der sich auf die eigene Arbeit bezieht, nicht fremd. Ich bin dennoch, gerade hier, anderer Ansicht. Herausgeberin und Nachdichter haben Beachtenswertes, manchmal sehr Schönes erreicht. Sie verdienen unseren Dank. Ist das also der Dichter Aragon? Noch nicht ganz. Aber seines Geistes hat man einen Hauch verspürt…
Stephan Hermlin, Sinn und Form, Heft 4, 1969
LOUIS ARAGON
Deine kleinen Freundinnen tanzen im Kreis herum
Sie haben dir Kränze geflochten
aus deinen kleinen Lügen
Ich habe dir Papier
und eine sehr gute Feder gebracht
Du wirst die Ewigkeit lang Gedichte schreiben
Dein Schutzengel tröstet dich
Er knüpft dir die große Schleife am Hals
Und lehrt dich lächeln
Mich hast du schon vergessen
Gott ist viel schöner als ich
Philippe Soupault
Louis Aragons Gedicht l’affiche rouge gesungen von Léo Ferré.
Ich suche eine Deutsche Übersetzung des Gedichts von Louis Aragon
C’est une chose étrange à la fin que le monde……….
(vollständiger Text gerne nachgeliefert)
Könnt Ihr mir weiterhelfen?
Dank im voraus – hs
Hans von Schack
Hansegarten 18
78464 Konstanz