VIELLEICHT WERDE ICH PLÖTZLICH VERSCHWINDEN
Vielleicht, wie eine Tierspur in den Wäldern,
Werd ich auf einmal gänzlich verschwinden.
Eines Tages muß ich Rechenschaft ablegen.
Was ich besaß, verging mit den Winden.
Der Kinderleib, der einer Knospe glich,
Ward in bittrem Rauch gedörrt und ist verwittert.
Wenn ich zurückschau auf das, was mein Leben war,
Fühl ich, wie der Verstand mich verläßt und das Herz mir erzittert.
Die Gier hat ihren Reißzahn in mein Fleisch geschlagen.
Zu früh spürte ich sie in meinem Mark brennen.
Dann kam die Reue, und ich sagte mir:
Warum hast du nicht zehn Jahre warten können?
Meine Mutter redete mir zu, und ich wollte
Sie grad nicht verstehn und gab auf sie nicht acht,
Dann war ich Waise, schlecht oder gar nicht geliebt,
Und hab mich auch über meine Lehrer lustig gemacht.
Du, meine Jugend, bist wie ein grüner Wald gewesen,
Endlos schienst du zu sein und ewig zu dauern.
Jetzt hör ich weinend auf den Wind und hör ihn im
Trocknen Geäst, aus dem jedes Blatt fiel, schauern.
1937
Übersetzung: Stephan Hermlin
I
In einer Vorstadt von Budapest wurde Attila József am 3. April 1905 geboren. Seinen Vater, einen Seifensieder, hat er kaum gekannt. Aron József verschwand, als der Junge drei Jahre alt war; zunächst glaubte man, nach Amerika, später hieß es, er habe in Rumänien gelebt. Die Mutter, eine Waschfrau, versuchte jahrelang verzweifelt, drei Kinder und sich selber zu ernähren. Attila wurde aufs Land geschickt, um die Schweine zu hüten. Er war sieben Jahre alt, als die Mutter ihn nach Budapest zurückholte und in die Elementarschule brachte. Zwei Jahre später begann der Krieg.
Es kam vor, daß ich mich des Abends um neun Uhr vor dem Lebensmittelgeschäft anstellte und daß man mir, wenn ich um halb acht Uhr morgens an die Reihe kam, erklärte, es gebe kein Fett mehr. Ich half meiner Mutter, so gut ich konnte. Verkaufte Wasser im Kino, stahl Holz und Kohlen auf dem Bahnhof, damit wir etwas zum Heizen hatten. Ich machte farbige Papierwindrädchen und verkaufte sie an bessergestellte Kinder, trug Körbe und Pakete in den Markthallen und so weiter.
Die Räterepublik kam und wurde im Blut erstickt, flüchtige Vision der Zukunft, wie mit ihr und nach ihr die Kommunen von München, Essen, Hamburg und Kanton, mit ihren Bannern, ihren Meetings, ihren Straßenbällen. Niemals sollte Attila den Unbekannten vergessen, der ihm Lenins Staat und Revolution auf der Straße zusteckte. Die Mutter starb in einem Barackenhospital an Krebs, während der Junge auf einer Hamsterfahrt war. Er war vierzehn Jahre alt, bettelte, handelte mit Briefmarken und Banknoten, trieb sich auf den Straßen und in den Cafés umher, wo die elegante Pest geschnürter Offiziere und Huren den Sieg über die Revolution feierte.
Es gelang ihm, allmählich, mit Hindernissen, das Gymnasium zu absolvieren. Zwischendurch mußte er immer wieder arbeiten, um existieren zu können, einmal als Schiffsjunge auf Donaudampfern, einmal als Hauslehrer, einmal als Tagelöhner. Er war siebzehn Jahre alt, als die liberale Literaturzeitschrift Nyugat seine ersten Gedichte veröffentlichte.
Man hielt mich für ein Wunderkind, obwohl ich nur ein Waisenkind war.
Immerhin brachte ihm eines der Gedichte einen Gotteslästerungsprozeß ein, in dem er allerdings freigesprochen wurde. Sein erster Gedichtband erschien mit einem Vorwort des hervorragenden Lyrikers Gyula Juhász, als Attila noch Unterprimaner war; der Band trug den Titel Bettler der Schönheit. In ihm findet sich bereits ein so selbständiges, durchaus neuartiges Gedicht wie das Sonett „Der Hunger“.
Attila József versuchte als Bücheragent und Bankangestellter zu leben und ging dann an die Universität Szeged mit dem Ziel, Gymnasiallehrer für Ungarisch und Französisch zu werden. Der Plan mißglückte, da einer der Professoren erklärte, Leute dieses Schlags dürften die junge Generation auf keinen Fall unterrichten, wobei er Attila József eine Zeitung mit einem von Józsefs Gedichten vor die Nase hielt. József verbrachte ein Jahr in Wien, wo er mit Kommunisten in Berührung kam; dann ging er nach Paris, studierte an der Sorbonne, übersetzte Villon und Apollinaire, las zum erstenmal genauer Lenin. Seine Briefe aus Paris an die Schwester sind marxistische Lektionen. „Daß der Imperialismus zu keinerlei Freiheit führt“, heißt es da, „muß nicht bewiesen werden. Der Bolschewismus aber verheißt eine ganz andere Art von Freiheit, als wir sie bisher gekannt haben. Übrigens ist die ganze Menschheit so krank, daß es wichtig genug sein sollte, statt die vom Imperialismus unmöglich und zu einem abstrakten Begriff gemachte Freiheit zu bejammern, aktiv am Kampf gegen die eigentlichen Entzieher der Freiheit teilzunehmen.“
In den letzten Jahren vor der Weltwirtschaftskrise kehrte er nach Budapest zurück. Er schrieb sich wieder an der Universität ein, er versuchte wieder, einen Platz im Leben zu finden. Für kurze Zeit stieß er zu den bäuerlich-demokratischen Volkstümlern. Kommunist wurde er im Herbst 1930, als die illegale Partei, unter Donnerschlägen sichtbar werdend, aus dem Blutstrom der Jahre auftauchte und riesige Demonstrationen die Straßen und Plätze von Budapest füllten. Er gehörte der Partei bis 1934 an. Seine Kraft erlag dem Übermaß seines materiellen und moralischen Elends; sie war auch dem Unverständnis einiger Sektierer nicht gewachsen. Aber sein Kampf in den Reihen der Kommunisten prägte sein Werk und bereicherte es in unerhörtem Maße; bis zur letzten Stunde blieb er den Kommunisten und ihrer Sache treu.
Im Schatten der Galgen und Schafotte flüchtete die ungarische Revolution in Attila Józsefs Verse, die nicht mehr erscheinen konnten, aber im Gedächtnis revolutionärer Arbeiter und Intellektueller lebten. Durch Europa dröhnte der Faschismus. In einem Brief Józsefs, den er Anfang 1933 an den Lyriker Babits richtet, heißt es:
Seit längerer Zeit hungern wir, meine Frau und ich, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Wirtschaftsverband der Schriftsteller wies mir als Mittagessen einen Kaffee und eine Semmel im Café Club an; diese Hilfe nahm ich monatelang in Anspruch, sie hörte aber am 1. Januar auf. Mein Einkommen machte in diesem Jahr fünfzehn Pengő aus. Alle unsere Sachen, das Bettzeug einbegriffen, sind versetzt. Wir heizen nicht. Ich habe keine Schuhe, richtiger, ich trage ein Paar 43er; meine Schuhgröße ist 39. An den Hunger habe ich mich schon gewöhnt.
Die Schizophrenie, die sich in seinen Versen ankündigt, bricht aus, führt ihn in die Nervenheilanstalt. „Ich lausche den Nachrichten, die eine Stimme aus meiner Tiefe bringt“, lautet eine Notiz. Aber die grandiosen Verse, die in den letzten Jahren entstehen, sind nicht nur einfach Produkte der Krankheit; sie bäumen sich gegen die Krankheit auf, sie rufen nach Vernunft und Ordnung; und wo sie von Ängsten und Verzweiflung handeln, geht es stets auch um die Ängste aller, um die ungewisse Zukunft der Menschheit. Die wirkliche Krankheit, die ihn nicht aus den Fängen läßt, auch als die Anstalt schon hinter ihm liegt, das ist der „Dschungelstaat“, von dem in einem Gedicht die Rede ist. Attila József erliegt dem Faschismus, dem Hunger, einer wahrhaft mörderischen Einsamkeit. Er ist zweiunddreißig Jahre alt, als er sich im Winter 1937 in der Nähe eines kleinen Dorfes am Plattensee vor einen Güterzug wirft. Das Kreischen der Räder, die ihn zerfetzten, ging unter im Donner der Bomben, die auf Spanien fielen, im Versammlungsgebrüll der Neuordner Europas. Die Welt erfuhr vom Tode Attila Józsefs durch den Dorfidioten, der den Selbstmörder beobachtet hatte.
2
Zum erstenmal las ich Attila Józsefs Namen unter einem Gedicht, das ich, ich weiß nicht mehr in welchem Jahr des Krieges, in einer der zahlreichen illegalen literarischen Zeitschriften der französischen Widerstandsbewegung gefunden hatte. Ich entsinne mich, daß die Übersetzung eindrucksvoll war, ungewöhnlich eindrucksvoll in einer Sprache, die sich fremder Poesie gegenüber leicht spröde gibt. Aber das Gedicht selbst traf mich, wie es einem gelegentlich ergeht mit einem Gedicht: Es läßt einen erbeben, es ist etwas, wovon man geträumt hat, wovon man träumen wird, man hat es sofort eingereiht in die geheime Anthologie, die jeder Liebhaber der Dichtung für sich selber anlegt. Und man fragt sich: Wer ist der Unbekannte?… Die Antwort fand ich erst später, nach dem Kriege, als ich nach Budapest kam und schon durch eine Attila-József-Straße fuhr, ehe ich die Zeit zu einer Wiederholung meiner Frage gefunden hatte.
Aus den Abgründen eines Volkes ist diese Dichtung aufgestanden, und vom Volk stammt nicht nur ihre Stofflichkeit, ihre Farbe, ihr Abendhimmel, der Rauch ihrer Dörfer, sondern auch ihr Übermut und ihre Verzweiflung, ihre Sinnlichkeit und Keuschheit, ihre Naivität, ihre Weisheit. Und dann: Dieser Sohn einer Waschfrau hatte unleugbar eine Vorliebe für die vertrackte Vielfalt der Formen der Poesie, die ja erst dem, was da gesagt wird, seinen Gebrauchswert geben. Attila József hat sich umgetan und die klassischen griechischen Metren so gut wie die französisch-italienischen Formen des späten Mittelalters und natürlich auch freie Rhythmen beherrscht. Ich erfuhr, er habe eine Menge Theoretisches über Metrik geschrieben – aber diese Dinge sind außerhalb Ungarns noch unbekannt. Eingeschmolzen in Józsefs Dichtung sind die entscheidenden poetischen Bewegungen der Moderne: Man findet natürlich den Einfluß Adys, den er ganz früh gelesen hatte, aber auch Baudelaire und Poe, die französischen Surrealisten so gut wie Majakowski und ebenso Becher, Weinert, Brecht. Wie unbequem ist der Fall dieses Plebejers, unbequem vor allem für jene, welche die Existenz großer proletarischer Dichtung leugnen möchten, unbequem aber auch für solche, die das Kriterium für die Bedeutung proletarischer Dichtung nur unter dem Aspekt des Agitatorischen sehen. Wir erwähnten Einflüsse; viel wichtiger ist, was Attila József in die Weltlyrik brachte: einen Ton, der zwar schon früher aufgeklungen ist, den Anruf der Zukunft (der sich auch als Anruf an Vergangenes geben kann), einer Zukunft, die Güte und Schönheit verheißt, jenen Ton, den man bei Hölderlin wie bei Keats, bei Eichendorff wie bei Apollinaire hatte vernehmen können, hier aber merkwürdig verwandelt in einer Zeit, in der die Menschheit bewußt Geschichte macht. Immer hatte Attila József ein besonderes Interesse für Philosophie gehabt. Seine Dichtung ist eigentümlich von Philosophie geprägt. Gewiß handelt es sich hier nicht um in Verse gebrachten Marxismus, aber ich kenne keine andere Dichtung, in der so kühn und subtil subjektive Bewegung und marxistischer Gedanke ineinandergefügt sind.
Józsefs Jahrhundert brauchte nicht mehr zu entdecken, daß es in der Gesellschaft wie in der Natur dialektisch zugeht; es lebte bereits mit dieser Entdeckung. Die Landschaften Józsefs, seine Tages- und Jahreszeiten, sein Regen und seine Dürre sind die poetischen Äußerungen eines solchen Mitlebens.
„Süße Heimat“, steht in einem seiner Gedichte, „nimm mich an dein Herz. Laß mich dein treuer Sohn sein.“
Was ist das für eine Heimat, was ist das für eine Welt, die ihre Kinder nicht treue Söhne sein läßt? lautet die furchtbare, die verändernde Frage. Attila József steht in der langen Reihe ermordeter Dichter, die als Opfer der zeitgenössischen Gesellschaft bezeugen, daß die Dichtung sich nicht mit dieser Gegenwart abfinden kann, daß sie immer und überall ein Stück vorweggenommener Zukunft ist, daß ihre Heimatlosigkeit erst in der Begründung der großen Menschenheimat ihr Ende findet.
3
Zu diesen Übersetzungen: Ich hatte vor einigen Jahren bei zwei Gelegenheiten Gedichte von Attila József deutsch in der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlicht. Mir schien es geboten, einen Dichter dieses Formats endlich in einem Buch bei uns herauszubringen; in anderen Ländern ist das seit langem geschehen.
Da ich mir selber weitere Übertragungen von einigem Umfang nicht zutraute, appellierte ich an einige Freunde und Kollegen. Dieses Buch ist das Ergebnis unserer gemeinsamen Bemühungen.
Keiner der Nachdichter besitzt irgendwelche Kenntnisse des Ungarischen, dieser merkwürdigen, isolierten Sprache, die seit jeher Dichter hervorbrachte, welche zu den größten zählten, aber außerhalb Ungarns kaum zu wirken vermochten. Wir arbeiteten mit Hilfe von Rohübersetzungen und wurden von ungarischen Freunden beraten. Der Band enthält nur einen geringen Teil von Attila Józsefs poetischem Werk, das etwa sechshundert Seiten umfaßt. Er enthält einige der berühmtesten Gedichte, aber entscheidend für die Aufnahme eines Gedichts in dieses kleine Buch war nach unserer Meinung weniger der Platz des einzelnen Gedichts im Werk Attila Józsefs als vielmehr in welchem Maße die Übertragung gelungen war. Wir nahmen nur solche Übertragungen auf, die wir für lesbar hielten und von denen wir glaubten, daß sie Attila Józsefs Bild in Deutschland sichtbar machen könnten – wenn nicht getreu in jedem Zug, so doch als das Bild eines großen und unglücklichen Dichters, wert aller Liebe und Ergriffenheit.
Stephan Hermlin, Mai 1960, Vorwort
In der ungarischen Dichtkunst nimmt Józsefs Werk eine spezifische in sich geschlossene Stellung ein. Die ihm eigene Totalität gründet sich auf der Tatsache, daß der Dichter der Arbeiterklasse die Welt mit deren Augen sah. Er bediente sich der Worte, Bilder und Emotionen des armen Mannes, des körperlich arbeitenden, unterdrückten und sich nach Liebe sehnenden Menschen und vergaß niemals seine Herkunft. Zugleich aber suchte er das Bild der ganzen Nation, ja der ganzen Welt zu umfassen, wurde er Sprecher einer Klasse und der Nation, der ungarischen Arbeiter und zugleich der Arbeiterklasse der Welt; aus dieser dialektischen Einheit resultiert die Spezifik seiner Dichtung. Diese doppelte Bindung: einerseits die Verwurzelung im Alltag der armen Leute und die Solidarität mit ihnen, andererseits der stets perspektivisch ausgerichtete Blick, also die Einheit der Sicht von unten und von oben, verleiht seiner Dichtung ihre bis auf den heutigen Tag wirksame Gültigkeit.
Die wichtigsten Faktoren dieser Einheit und ein Wesenszug der Józsefschen Dichtung überhaupt sind das Wissen um die Dinge und der Glaube an Vernunft und Ordnung. In einer Zeit, als die herrschenden Klassen die Massen manipulierten und auch die Intellektuellen verblendet in irrationalen Philosophien ihr Heil suchten – da vertraute der Dichter auf die ordnende Kraft der Vernunft und klammerte sich bis zum letzten an seinem Wissen fest. Dieser Rationalismus ist mit einer gewissenhaften Erkundung der Wirklichkeit, mit einem Mikro-Realismus gepaart, der nicht allein für Józsefs Realismus kennzeichnend ist. Doch die Exaktheit in den kleinsten Details ist ein wesentlicher Zug seiner Dichtung. Auf diesen Tatbestand verwies einer seiner Zeitgenossen, als er feststellte, daß es in diesen Gedichten nichts Erlogenes gibt; und ist irgendein Schauplatz darin beschrieben, kann man ihn anhand der Landkarte auffinden und identifizieren. Liebevolle Vergegenwärtigung der Details Identifizierung auch mit den kleinsten Objekten, vor allem jedoch mit den Menschen, Pflanzen und Gegenständen – aus diesem gründlichen Erfassen der Welt und aus der Weite der Komposition resultiert jene unverwechselbare Balance von Disziplin und Leidenschaft, die Józsefs Gedichten eigen ist. In seiner Dichtung spiegelt sich die Totalität aller Komponenten der menschlichen Persönlichkeit: des Intellekts und der Empfindung, des Instinkts und des Bewußtseins, der Rührung und des Kämpfertums. József stieg in die Tiefen seiner eigenen Persönlichkeit und die seiner Zeit hinab und summierte das Gesehene und Erfahrene auf der Höhe des Gedankens, auf der Höhe der marxistischen Philosophie. Nicht zuletzt deswegen konnte er einerseits die volle und tatsächliche Wirklichkeit darstellen und vermochte andererseits mit der überlegenen Vernunft und dem klaren Sinn dessen, der an der Bewußtheit leidenschaftlich festhält und dem historischen Materialismus treu verbunden ist, all die Fragen der inneren Zerrissenheit und Verzweiflung, der Einsamkeit und Krankheit sowie der Liebe und Angst als auch quälende Kindheitserinnerungen und Schuldbewußtsein zu durchdringen und zur Dichtung zu erheben.
Mit den Worten: „Komm, Freiheit! Ordnung sollst du mir gebären“,1 rief er den Sozialismus, eine vom Humanismus tief durchdrungene sozialistische Gesellschaft herbei. „Nimm dich in acht!“2 so mahnte er sich. Er erschloß Tiefen und wurde doch nie Irrationalist wie so viele seiner in Ungarn und im Ausland lebenden Zeitgenossen; er kämpfte für die Ziele der Arbeiterbewegung, aber nicht schreiend und lärmend; er nutzte alle großartigen poetischen Errungenschaften der zwanziger Jahre, wie z.B. die freie Bildschöpfung, die auflockernden Assoziationen und die sprunghafte Gedankenführung, ohne jemals zusammenhanglos und bizarr zu werden; mit großer Genauigkeit und Präzision beschrieb er die Verwirrungen seiner Psyche, wurde aber nie weinerlich und erbärmlich. József setzte die Anfänge der ungarischen proletarischen Lyrik fort und brachte sie zur ersten Vollendung. Sein Platz ist in der Reihe der großen Repräsentanten der sozialistisch-realistischen Lyrik, neben Becher, Neruda, Lorca, Guillén, Aragon und Eluard, die unter den Bedingungen des Kapitalismus eine von den Ideen des Sozialismus durchdrungene, zutiefst realistische Dichtung auf höchstem künstlerischem Niveau schufen. Wie sie zeigte auch er die großen Probleme des Jahrhunderts und führte sie auf marxistische Weise zu einer Lösung, wie sie kämpfte er bis zuletzt an der Seite der Arbeiterklasse und ihrer Partei. Die Befreiung seines Volkes erlebte er nicht, doch er sehnte und rief sie herbei. Sein Optimismus war nicht oberflächlich, sondern gründete sich auf eine tiefe Kenntnis der Wirklichkeit und der Gesetze der Geschichte. Die Haltung und die Art, mit der er die Not des Menschen in der Zeit des Faschismus beschwor und aus der Finsternis der Barbarei zum Licht der Menschlichkeit hinstrebte, erinnern in vielem an den um eine Generation älteren, von József verehrten und geliebten Bela Bartók. Doch indem er den Ausweg in der Besitznahme der Macht durch die Arbeiterklasse sah, war er zugleich Schüler und Lehrer der internationalen kommunistischen Literatur.
Und doch wäre all das ein leeres Gerüst und nicht mehr als bloße Programmatik, stünde dahinter nicht eine außergewöhnliche Persönlichkeit. „Du harte Seele, du sanfte Phantasie.“…3 – so sehnte er sich nach Reinheit, Freude und Sanftheit. Es wäre ein Irrtum zu glauben, aus jener harten, ernsten Zeit habe das Spielerische, der unbeschwerte Zauber und die Lust an der Spöttelei gefehlt; gerade der Charme und der mozartisch geschlossene Bogen des Tanzes über dem Abgrund verleihen dem zu einer Melodie von Bartók geschriebenen Gedicht „Bärentanz“4 oder dem Gedicht „Der kleine Schweinehirt“5 die erschütternde Wirkung. Hinter diesen Gedichten steht ein versonnener und gedankenvoller, der Freude zugetaner und sich unendlich nach Liebe sehnender, ein ernster und dem Spiel geneigter Mann, der wußte: „Schenk dein Vertrauen nicht so einem Mann, / willst du im Kampf um das Leben was taugen!“,6 der zugleich aber selbst in den schwersten Augenblicken mozartisch heitere Töne fand. Es könnte gefragt werden: Ist das Gefühl der Einsamkeit, diese Art des Einsamkeitserlebnisses, nicht geradezu ein Kennzeichen der bürgerlichen Lyrik des 20. Jahrhunderts? Und wird durch dieses tiefe Erleben der Einsamkeit, des Hölleerduldens und der Schrecken der Zeit Józsefs Dichtung nicht zu einem Teil der bürgerlichen Lyrik? Dazu schrieb István Király:
Attila József wußte, daß dem Menschen Güte, Liebe und Schönheit wesenseigen sind. Er wußte, daß den Menschen die Fähigkeit zu einem integren, schöpferischen und friedlichen Leben wahrhaft zum Menschen macht. Die Liebe zum Menschen und das Beschwören der Güte waren unverrückbare Bestandteile seines Humanismus. „Ich vertrau unbedingt auf den Menschen“,7 schrieb er stolz zu Beginn seiner Laufbahn. Es war sein fester Glaube, daß im Menschen der Friede und die Stille eines „Dörfchens in der Morgenfrühe“8 wohnen. „Ihr allesamt seid gut, warum also verübt ihr Böses“,9 heißt es in einem seiner Lehrgedichte. Und er bekannte sich zur erlösenden, befreienden Kraft der Liebe; in einem seiner frühen Gedichte formulierte er die trotzige Losung: „Ein zärtlich Streicheln ist meine Fahne“.10
Später, in den düsteren Jahren illusionsloser Rechenschaft, wußte er zwar bereits, daß „Die Wolkenkette unterm Himmel schwankt, / darüber gleißt ein Streicheln, unverlangt“,11 daß „im Astgewirr der Welt“12 das Lächeln und die Umgebung hängenbleiben. Und dennoch: Die Hoffnung der frühen Jahre hatte sich nur gewandelt, weiter in die Tiefe zurückgezogen, aber niemals aufgehört dazusein. Der Dichter blieb sich selbst bis ins Innerste treu. Eines der Leitmotive seines Lebenswerkes war bis zuletzt der Glaube an den Menschen, die tiefe Achtung vor dem Leben und dem Menschen. Erbittert klagte er in einem Gedicht: „und daß mir nichts gegeben ist / als lieben…“,13 und ob in der Schönheit der Liebe geborgen, ob in die Zukunft projiziert, der Traum lebte fort. Deswegen vermochte er in seinen Liebesgedichten wie durch einen Zauber den Frieden und die Stille von Weizenfeldern, Wolken und über den Himmel hinziehende Sternenheere zu beschwören, und daher kam es, daß bei ihm individuelles Empfinden und gesellschaftliche Aussage ineinander aufgingen.14
Mit der gleichen Frage setzte sich József Révai wie folgt auseinander:
… Zur Zeit Attila Józsefs war diese Einsamkeitsdichtung ein notwendiges Moment. Es war die Aufgabe und Verpflichtung des sozialistischen Dichters, die Welt, den Menschen und die Gefühle des Menschen in ihrer Totalität und Gesamtheit zu widerspiegeln… Der historische und gesellschaftliche Boden für die individualistische Einsamkeitslyrik ist die Trennung von Stadt und Land, von körperlicher und geistiger Arbeit. Solange dies so ist, bleibt das Gefühl der Einsamkeit für den städtischen Intellektuellen ein typisches Empfinden, das sich notwendigerweise von Zeit zu Zeit einstellt und dessen Eliminierung auch aus der sozialistischen Lyrik nicht erwartet und gefordert werden kann… Ein Dichter, der zur Zeit der Erfolge des Faschismus nicht imstande war, die abgründige Tragödie widerzuspiegeln, von der die fortschrittlichen Kräfte der Gesellschaft, das Volk, das Vaterland, die Menschheit und der einzelne Mensch betroffen waren, der schmälerte den eigenen Humanismus, verflachte die eigene Dichtung und engte die Skala des eigenen Instrumentariums ein. Der Ausdruck der Isoliertheit und Einsamkeit des Menschen in der antifaschistischen Lyrik der dreißiger Jahre erwies sich bei Attila József als ein Mittel zur Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, des gesellschaftlichen Seins…15
Als József 1935 in diesem Zusammenhang um eines der wenigen Interviews seines Lebens von einer Zeitung, die außerhalb Ungarns erschien, gebeten wurde, sagte er:
… Jedes gute Gedicht ist eine Erfindung, und die Dichtung führt näher an das heran, was die Leser nicht wissen. Der Dichter ist ein Mensch, der weder allein bleiben noch sich mit den pseudomenschlichen Beziehungen abfinden will. En schreibt nur dann, wenn er sich einer Sache verbunden weiß. Die Dichter der Einsamkeit fühlen sich mit den anderen Einsamen gemeinschaftlich verbunden. Wer tatsächlich völlig einsam ist, d.h. auch zu seinen Leidensgefährten keinen Kontakt findet, der schreibt keine Gedichte.16
In der künstlerischen Formgebung schuf József Synthesen und eröffnete gleichzeitig neue Wege. Seine Aussage band er – abgesehen von der kurzen Zeitspanne seines Schaffens, in der er expressionistisch freie Verse schrieb – in disziplinierte Versformen. Dieses Ringen um die bewußte ordnende Disziplin resultierte aus seiner individuellen Psyche und seinem Programm als Dichter. Nicht nur die von Bela Bartók inspirierten Verse belegen seine außerordentliche musikalische Aufnahmefähigkeit; hinter zahlreichen Gedichten lassen sich Melodien erahnen. In Aufsätzen zur Verskunst befaßt er sich systematisch mit spezifischen Fragen und Möglichkeiten der ungarischen Versform; in unterschiedlichsten Versformen und im Strophenbau wechseln bei ihm ungarische Formen, französische Melodien und klassische Distichen ab. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für die intellektuelle und disziplinierende Kraft der regelmäßigen Form, für ihre Widerstandskraft gegen den Irrationalismus; in seinem letzten Lebensjahr stieß er in einem Gedicht über sein Krankheit den Seufzer aus:
Nur gut, daß es noch Jamben gibt und etwas da ist,
dran ich mich klammern kann. Laufen lernt so das Kind.17
In seiner Sprache faßte er die Errungenschaften der Vergangenheit zusammen und brachte zugleich zwanglos die Bilder des Proletariats und der Arbeiterbewegung in die Dichtung ein. Eine Reihe seiner Bilder sind Motive aus dem Leben der werktätigen Menschen, der Arbeiter und der Bauern. Beweise für Józsefs intellektuelle Kraft sind jene starken Verdichtungen, geschlossenen Gefüge, aphoristisch gefügten Zeilen, die Gemeingut geworden und zu einem großen Teil nicht nur in die dichterische, sondern auch in die Umgangssprache eingegangen sind.
Eine unverwechselbare Verbindung von Phantasie und Ordnung verleiht seinen Formen hochgradige Präzision, Dichte und Geschlossenheit. Hinzukommt, daß bei ihm die Dinge der Welt, die Erscheinungen der Natur wie der Gesellschaft anthropomorphisiert werden und dadurch an Lebensfülle und innerer Spannung gewinnen: Welt, Natur und Gesellschaft sind von Leben durchdrungen; Unterdrückung und Revolution erscheinen gleichsam personifiziert. Dieser erstaunliche Grad von Anthropomorphisierung und Identifikation mündet jedoch nie in eine Unverständlichkeit, sondern fügt sich im Zeichen einer strengen Komposition und eines starken Formwillens stets zu einem einheitlichen Ganzen.
Aus der heutigen historischen Distanz wäre zu fragen, welcher Richtung oder Strömung das Gesamtwerk Attila Józsefs zuzuordnen ist, inwiefern es sich hier um „Arbeiterdichtung“, „sozialistische Dichtung“ bzw. „sozialistisch-realistische Dichtung“ handelt. Ein Teil der Zeitgenossen Józsefs siedelte sein Werk zwar außerhalb der damaligen Arbeiterdichtung und jenseits der Traditionslinie der proletarischen Lyrik an, für uns ist Józsefs Dichtung jedoch moderne sozialistische, sozialistisch-realistische Lyrik. Zu ihrer Genese bemerkt József Révai u.a.:
Erst als sie sich durch Überwindung retrograder Tendenzen in der proletarischen Dichtung ihren Platz erkämpft hatten, wurden solche Gestalten der proletarischen Dichtung wie Majakowski, Becher, Wolker, Aragon, Eluard, Neruda und Attila József wahrhaft Dichter ihrer Nation. Sie verkörpern den Dichter neuen Typs, der fähig ist, die Freuden und Leiden, Ziele und Bestrebungen, Leben und Kämpfe der Arbeiterklasse und der Menschheit als Einheit emotional zu erleben und zu besingen.18
Und István Király merkt zur Bestimmung der Position Józsefs an:
Ein wahrhaft parteilicher Dichter – Attila József sei das Beispiel dafür – ist weder Frontsoldat noch Partisan; er ist kein Musterschüler oder einsamer Kämpfer, sondern einer, der sich selbst zu disziplinieren, verantwortlich zu leben und zu denken weiß. Mit der Partei ist er nicht auf Grund des Gehorsams und kindlichen Glaubens unzertrennlich verbunden, sondern durch das Gebot der Wirklichkeit, für die Befreiung des Menschen mit Herz und Verstand einzustehen. Daher ist er der selbst auferlegten Abhängigkeit zum Trotz ein unabhängiger Geist, ein wahrer Künstler. Pionier und Entdecker ist, wer nicht nur bekannte Thesen verteidigt und illustriert, sondern – den schweren Spuren der Wirklichkeit folgend – zuweilen auch über den Umweg von Irrtümern stets seine neuen parteilichen künstlerischen Wahrheiten zu erringen vermag. Attila József ist solch ein Dichter gewesen.19
Wo also ist die reife Lyrik Józsefs in die Weltliteratur des 20. Jahrhunderts einzuordnen?
Zunächst ganz allgemein formuliert: József steht im Kampf zwischen dem Absterbenden – das auch in seinem Verfall noch Strahlungskraft besitzt – und dem zuweilen noch rohen und unausgereiften Neuen auf der Seite des welthistorisch und weltliterarisch Neuen. Als Dichter der Arbeiterbewegung verkündete er den gesellschaftlichen Kampf für die neue Welt und trat im Namen aller Menschen für das wahrhaft menschlich Schöne im vermutlich finstersten Dezennium dieses Jahrhunderts ein. Seine Gedichte schrieb er in der Sprache eines der Völker, die sich in einer äußerst schwierigen Lage befanden. Auch darin erwies sich József als ein Vertreter des Neuen, daß er für ein Volk sprach, das erst kurz zuvor, mit großem Verzug, die welthistorische und weltliterarische Szene betreten hatte. Sein Platz ist unter den sozialistischen Dichtern Europas, aber nicht gemeinhin in einer Reihe der mit den linken Kräften kämpfenden Künstler anzusiedeln. Dies wäre zu allgemein, denn links standen – auch in der antifaschistischen Front – Vertreter unterschiedlichster ideologischer und künstlerischer Auffassungen. Was József von diesen unterschied, war eben die Tatsache, wie er die quälenden Konflikte, die Einsamkeit und die Nöte seiner Zeit – des Einzelnen, der Klasse, der Nation und der Menschheit – zutiefst erlitt und erlebte und zugleich dieser Einsamkeit und all der Schrecknisse Herr zu werden vermochte. Darauf gerade gründet sich sein überzeugender historischer und persönlicher Optimismus.
Erleben, übernehmen und bewahrend aufheben – dies bestimmte auch sein Verhältnis zur literarischen und ideologischen Avantgarde. József war mit seiner Dichtung in den Entwicklungsprozeß der europäischen Lyrik seiner Zeit fest eingebunden: Indem er sich zahlreiche Errungenschaften des Expressionismus, des Surrealismus und Konstruktivismus zu eigen machte, formte er seine moderne dichterische Sprache, seine kühne Bildtechnik und neuartigen Kompositionen. Er integrierte diese Mittel in eine eigenständige feste Struktur, in eine harmonische, sinnvolle und zielbewußte Ordnung und gelangte damit zu einer gedanklich präzisen Aussage. Unter den europäischen Dichtern seiner Zeit hatte sein Gespür für die Form und die Vielfalt der Melodien und Rhythmen wohl kaum seinesgleichen. Nach den Ismen der Avantgarde schien es, als seien die regelmäßigen klassischen Formen an reaktionäre Inhalte gebunden; so pflegten die Versemacher in Hitlers Umkreis einen Neoklassizismus. József überwand diese falsche Alternative: Er sprach die revolutionären Inhalte und Tendenzen seiner Zeit aus und wies zugleich die Existenzberechtigung und Wichtigkeit von Melodie, Rhythmus, straffer Komposition und der sowohl regelgebundenen als auch variablen Versform nach. Damit schuf er auf höherer Stufe eine spezifische Synthese neuen Typs: die moderne klassische Dichtung.
Und schließlich erinnert auch unsere heutige Welt, in der der Mensch im Großen wie im Kleinen sich der eigenen Fesseln und Fehler zu entledigen sucht, um mittels seiner Vernunft und mit Hilfe der Wissenschaft immer neue Bereiche zu erobern, unwillkürlich an Józsefs Lyrik. Denn in ihr wird dieses Zeitalter beschworen: der Weg zu den Sternen, der unendliche Glaube an die Kraft des „Geistes und der Liebe“20 und – trotz der eigenen finsteren Zeit – der Glaube an den Menschen, an seine Fähigkeiten und Größe. Und wäre nichts anderes, so doch dieser auf die Zukunft gerichtete Humanismus, der József den großen Gestalten der Weltliteratur seiner Zeit zur Seite stellt. Dieser sozialistische Humanismus ist vermutlich die wichtigste Botschaft unserer Zeit, deren Größe wir gerade in unseren Tagen zu begreifen beginnen.
In der ungarischen Literatur stand József in der revolutionären Tradition Petőfis und Adys und entwickelte dieses Erbe weiter, indem er eine Synthese der besten Bestrebungen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen schuf. In seiner Zeit war er einsam; heute sehen wir ihn in einer Reihe mit den Großen seiner Zeit. Doch auch in der ungarischen Kunst hatte er Geistesverwandte, wie am Beispiel des großen ungarischen Komponisten Bela Bartók und eines herausragenden Vertreters der ungarischen sozialistischen Malerei, Gyula Derkovits, belegt wurde.
Für die heutige ungarische Literatur ist Attila Józsefs Lebenswerk von entscheidender Wichtigkeit. Das neue Ungarn bekennt sich zu ihm; seine Isolation ist aufgehoben, die Verbreitung, wissenschaftliche Aufarbeitung und Wertung seines Lebenswerks verhalfen ihm zur Anerkennung im In- und Ausland. Die Fortsetzung seines Werkes ist in vielen Richtungen möglich. Beispielhaft ist und bleibt es für jene künstlerische Bestrebung, hinter der Kompliziertheit und den Disharmonien der Oberfläche das Gesetz, das Wesentliche zu erkennen und Harmonien der Wirklichkeit nachzugehen. József verkörpert die Haltung eines Dichters, der denen die Treue hält, aus deren Mitte er gekommen ist: dem Volk der Straße und der Erde.21 Er stellte an sich den Anspruch, Vaterland und Welt gleichzeitig im großen gedanklichen Zusammenhang zu sehen; sein Beispiel ermutigt Ungarns Dichter, die volle Entfaltung der Freiheit und des ganzen Menschen von der Arbeiterklasse zu erwarten und mit ihr gemeinsam zu verwirklichen.
Miklós Szabolcsi, aus Miklós Szabolcsi: Attila József, Akademie Verlag, 1981
22. Mai 1936, Freitag, acht Minuten vor Mittag. In den Kaffeehäusern läßt um diese Zeit der Verkehr nach. Die Frühstücksgäste sind schon weg, die nur einen Mokka trinken wollen, kommen zwischen eins und zwei. Nur einige Stammgäste kleben an ihren Plätzen wie Schnecken und Polypen der Tiefsee an ihrem Felsstück. Da hocken sie allein, verschlossen und unnahbar. Auf ihrem Tisch stehen drei Gläser Wasser, davor Papier und Tinte.
Es ist nicht schwer, ihren Beruf festzustellen. Unausgesetzt schreibt einer, der sich um eine Stelle bewirbt oder ein Vertreter, der seinen Reisebericht macht. Wer eine halbe Stunde lang in die Luft starrt, nervös etwas kritzelt, was er dann wieder ausstreicht, ist Schriftsteller.
Eine Stille herrscht wie auf dem gründlich dämmernden Meeresgrund. Die Kellner wechseln mit der Würde von Zeitlupenfilmen die Zeitungen.
Ein magerer, düster dreinschauender junger Mann mit gestutztem Schnurrbart und hervorspringendem Adamsapfel taucht auf; er trägt eine bis zum Bersten vollgestopfte Mappe unter dem Arm. Er blickt weder nach links noch nach rechts, geht durch den ganzen Raum und setzt sich hinten, in der Nähe der Kartentische, auf seinen gewohnten Platz.
Sein Gesicht sieht noch sorgenvoller aus als sonst. Er kommt von der Analyse, um vier ist er beim Zahnarzt angesagt. Vor einiger Zeit hat er es sich in den Kopf gesetzt, daß er sich körperlich und seelisch in Ordnung bringen lassen will. Zorn und Unmut brodeln jedoch in seinem Inneren. Er ist nicht zufrieden, weder mit sich noch mit den Ärzten; die basteln nur an ihm herum und machen, was schlecht ist, noch schlechter. Zähneknirschend sitzt er beim Frühstück.
Dann schließt er die Mappe auf und zieht ein dickliches Heft heraus. Es hat die Größe eines leeren Buches – das will er heute vollschreiben. Jetzt macht er sich daran und steht nicht auf, bis er das Heft nicht vollgeschrieben hat. Die Seiten sind im vorhinein numeriert – 1–170. Jetzt wird er mit seiner Vergangenheit abrechnen, jedes Gefühl und jeden Gedanken hemmungslos niederschreiben, Grund und Ursprung der vielen Unbillen aufdecken. So aufrichtig sich selbst gegenüber wie noch nie.
Und er hat das Heft vollgeschrieben, bis zur letzten Seite. Ein gespenstisches Geschreibsel. Er hat es zu Lebzeiten niemandem gezeigt, wollte aber, daß es erhalten bleibt, er hätte ja die Gelegenheit gehabt, es zu vernichten. Auch die Schrift bezeugt, daß er bei der Arbeit an Leser dachte. Er schrieb kalligraphische Buchstaben mit weiten Zwischenräumen, als wollte er dem zukünftigen Verfasser der Monographie die Arbeit erleichtern. Auf der ersten Seite steht der nachträgliche Vermerk:
Verzeichnis freier Einfälle in zwei Sitzungen.
(…)
Nur einige Monate muß ich zurückblicken, und schon steht er vor mir und ist aktiv. Zu dieser Zeit erntete er die größten Erfolge: ein im ganzen Land bekannter Dichter, Herausgeber von Szép Szó. Er beträgt sich außerordentlich selbstbewußt. In der Redaktion ist er streng, beinahe unfreundlich. Junge Dichter legen ihm zitternd ihre Gedichte vor. Mit gerunzelter Stirn liest er die Manuskripte, seine Mappe ist gesteckt voll von ihm zur Beurteilung vorgelegten Gedichten und Abzügen. Auch in seiner äußeren Erscheinung ist er gemessen und verschlossen, mit ausgeprägtem Selbstgefühl. Er mißachtet aus vollem Herzen die dichterische Lebensform, er hält sich für einen Ingenieur, einen Planer, auch Gedichte liest er mit dem Ohr des Technikers. Er ist zwar bereit, den seelischen Hintergrund zu erörtern, doch fordert er von jedem jungen Dichter eine fehlerlose Metrik. Seine Gedichtsanalysen sind kompliziert, wichtigtuerisch. Das Gedicht ist für ihn ein geschlossenes Universum, ein Kristall, ein im Bernstein erstarrtes Erlebnis.
Jetzt, nachträglich scheint es mir, als habe er um diese Zeit nur aus Pflichtbewußtsein die Beschäftigung mit der Lyrik, hauptsächlich mit der Lyrik anderer, forciert. Er selbst war damals schon über die Periode seines Lebens hinaus, in der die in Worte verzauberten Beklemmungen die Ruhelosigkeiten einzuschläfern vermochten. Die Disziplin, die er mit seiner äußeren und inneren Haltung geradezu demonstrativ betonte, war eine Zwangsjacke. In Gesprächen kam immer öfter die Mama vor und in seinen Überlegungen eine sonderbare, selbstgebildete Wortzusammensetzung: Weltmangel. Die beiden Wörter, das konkrete und das abstrakte, weisen nach innen, degradieren die äußere Welt.
Jeder von uns trägt seinen dem Körper angepaßten Manieranzug bis zum Verschleiß. Die starre Strenge, mit der sich der Dichter-Redakteur von Szép Szó brüstete, ist die zur Haltung erstarrte Erkenntnis seiner früheren Periode. Ich denke an die Periode, in der er die Lage und Aufgabe eines Dichters, der die sozialen Gärungen fühlte und begriff, bewußt auf sich nahm. Er ermaß ohne Sentimentalität und Empörung die Lage und die Möglichkeiten der Arbeiterschaft und machte sie in düsteren, würdevollen Bildern bewußt. „Wir sind eine andere Schar“, heißt es bei ihm, „wir reden anders, und anders klebt / auf unsern Schädeln das Haar… / Dem Eisen, der Kohle, dem quellenden Öl. / Das goß uns, unbändig und heiß / in die schrecklichste Gesellschaftsform / und gab uns dem Leben preis, / daß wir stehn wie der Fels auf dem ewigen Boden / für die Menschheit und ihren Schweiß. / Nach Priestern, Soldaten und Bürgern sind wir / die Hüter der Tradition, / in uns ist erstanden und lebt und wirkt / der Gesetze getreuer Sohn, / in dem der Sinn allen Menschenwerks braust / wie tiefer Orgelton… / Der Dichter – auf seinen Lippen noch klingt / das Wort, der trunkene Laut, / während er, Ingenieur der bezaubernden Welt, / die bewußte Zukunft erschaut / und die Harmonie in sich selbst konstruiert, / wie ihr sie draußen erbaut.“
Eine ideologische Vision inspiriert den Dichter um diese Zeit: die wunderbare Fähigkeit des Geistes, die endliche Unendlichkeit zur Kenntnis zu nehmen, die Produktionskräfte draußen und die Instinkte drinnen. Dieses Gedicht ist zweifellos die reinste und reifste Schöpfung des Dichters, geschrieben im harmonischsten Augenblick seines Lebens, auf dem Kreuzweg. Er kam von der erkannten Gesellschaft her, deren Unterdrückungsbestrebungen er überlegen die Welt der ruhigen und geläuterten Vernunft gegenüberstellt; doch statt hier zu verweilen, ging er schon der inneren, verworrenen Welt der Instinkte entgegen.
In dieser Periode versuchte er, soweit es seine Umstände zuließen, sein Leben mit seinen Überzeugungen in Einklang zu bringen. Er hörte auf, die Kaffeehäuser „Abbazia“ und „Japan“ zu besuchen, übersiedelte an den Rand der Stadt und litt Not in stabilem Rahmen.
Er war stolz auf seine Zimmer-Küche-Bodenwohnung, auf seine Möbel, sein Geschirr, auf seine sich unter ihrer Last biegenden Bücherregale. Er wohnte in der Gegend der äußeren Thökölystraße, nahe der berüchtigten Eisenbahntodesschranke, und wenn Gäste von ihm weggingen, begleitete er sie bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle, damit sie sich nicht zwischen Gleisen verliefen. Ich erinnere mich an den Abend, als wir zusammen den hinter der Schranke vorbeiratternden Lastzug beobachteten. Mit unterdrückter Erregung verfolgte er die Lichter der dürftig beleuchteten Wagenreihe, den unförmigen Schatten der Waggons und zog mit einer umfassenden Umarmung die kohlschwarze, verdammte Gegend an sich. Nach solchen Spaziergängen schrieb er „Nacht in der Vorstadt“, „Winternacht“ und die Stücke der „Besinnung“.
Andor Németh, aus Attila József. Leben und Schaffen in Gedichten, Bekenntnissen, Briefen und zeitgenössischen Dokumenten, herausgegeben und eingeleitet von Miklós Szabolcsi, Corvina Verlag, 1978
Miklós Szabolcsi: Attila József
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