STAR WARS, SOLO
Manchmal vermisse ich es sehr, in einer Sekunde weg zu sein, als wäre ich unsterblich,
müde vom ewigen Leben.
Doch ich weiß, dass niemand so viele Tode erleiden und so viele Gedichte erschaffen muss wie ich.
Deutlich steht zu dieser Zeit geschrieben am nächtlichen Himmel:
„Strahlende Wesen sind wir, nicht diese rohe Materie.“
„I am not a committee!“
Hier ist es, langer Arbeit Lohn –
das erste Foto des Web Space Telescope.
Ein heimeliges, nächtliches gläsernes Band von unbekannten Galaxien,
etwas, was nie jemand zuvor gesehen, nie jemand zuvor betreten hat.
„Great, Kid. Don’t get cocky.“
Wie kannst du, Mensch, deinem Schöpfer nicht vergeben,
dass in der Wüste von Galaxien eine Lebensform wie deine
nur hier es gibt, auf diesem blassen blauen Punkt.
Selbst wenn sie irgendwo existierte,
die langgesuchte „Alien-Zivilisation“, was würde das ändern?
Im höchsten Falle erobern sie uns – oder wir erobern sie.
Als ob dadurch irgendetwas besser würde!
Als ob jemals, wenn du neue Welten entdecktest,
ein höheres Ziel als Einverleibung dahinter steckte.
Ach, mit wieviel Freude entfachtest du die Star Wars!
„Do or do not. There is no try.“
Ich träumte des Morgens, ich hätte nur noch eine Minute, bevor ich sterben würde,
ein Unbekannter im blauen Sakko rief mir zu:
„Ich hab’s schon immer gesagt, du kannst es nicht ertragen, dem Leben Lebewohl zu sagen!“
Ich weinte und beschimpfte mich,
verfluchte diese naiven Momente,
als ich den Tod mir ersehnte.
Tag wie Nacht, müde und verbittert,
vor einer Deadline, nach einer nichtbeantworteten SMS,
wenn ich zum hundertsten Mal in der Stunde mein Baby stille,
wegen eines verpassten Flugs, wegen einem ungekochten Essen…
„A thousand generations live in you now. But this is your fight.“
Es macht dich verrückt! Ich vermisse den Tod wie die Khinkali-Pastete,
wenn er doch in mich bisse und mir den Saft aussaugte.
Wie egozentrisch ich doch bin!
Ich spuckte mir ins Gesicht, wieder und wieder, tut mir leid, tut mir leid, schrie ich,
und im Traum schlug ich mir die Fäuste an die Schläfen,
schrie: Was zum Teufel wollte ich?
Wasser nähme mich hinweg, Feuer ließe mich verbrennen,
Zu Asche würde alles, wenn ich stürbe!
Was bin ich für ein tumber Affe, dass ich die simple Wahrheit nicht sehe, dass
kein Gut kostbarer als der Atem ist,
kein Ruhm süßer als der Atem ist.
Eine Schande wäre es, einfach so zu gehen!
Wie kann man sich dergleichen erlauben!
Nein und nochmal Nein!
„These aren’t the droids you’re looking for!“
Denn was ist schon der Sinn der Welt,
der Große und der Kleine Bär, würden sie weiterleben ohne mich?
Ihr glaubt wohl, wir seien den Sternen egal.
Erzählt mir doch nichts von Weite und unserer Winzigkeit,
damit ich geboren werde,
damit ihr geboren werdet,
wurde all das erschaffen – die Sterne wie die Schwarzen Löcher,
Nur aus dem Grunde schrieb man diese glitzernde Odyssee auf schwarzes Palimpsest –
„Luminous beings are we, not this crude matter.“
Und weil niemand so lang zum Sterben braucht wie ich
und niemand so viele Gedichte ungeschrieben lässt wie ich,
muss ich also jemand finden,
der in seinem Gedicht „Mein Tod“
mich mit einem sterbenden Stern gleichsetzt. –
Ich will einen großen Abgang, ausgedehnt,
strahlend und schön.
Was unterscheidet das Gedicht vom Tod?!
Tun sie nicht Hand in Hand den selben Job?
Das Gedicht verschönert wie der Tod,
der Tod befreit den Menschen wie das Gedicht…
„Congratulations. You’re being rescued.“
Mein Ich, schau auf das Bild des sterbenden Sterns,
es ist, als bräche der Ozean aus einem Vulkan,
die Farbe des Wassers umrahmt von Feuer und Aschegrau.
Fast sieht es aus wie das Schwimmen in den Pupillen
der Neugeborenen, bevor sie ihre Farbe finden.
Wie kannst du, mein Ich, es nicht verstehen,
dass diese Welt unaufhörlich expandiert,
damit sich des Wissens Flügel nicht an der Kerze verbrennt
der störrische Falter im Kosmos – der Mensch.
„You must unlearn what you have learned.“
So sehr vermisse ich, was mich lebendig hält,
als wäre ich sterblich und von der Traurigkeit des Vergehens entsetzt.
Egal, wir haben bereits den Fotobeweis,
Strahlende Wesen sind wir, nicht rohe Materie.
„May the force be with us!“
2022
Tamar Zhghenti
Übersetzt von Bela Chekurishvili
Nachdichtung: Mario Pschera
„Bruce Lee und Mickey Mouse gab’s selten, nur zum Ostertag“, schrieb der Dichter Giorgi Bundovani vor einigen Jahren. Sein Gedicht „Gastspiel für Mickey Mouse“ verfasste er im heutigen Georgien. Heute überrascht die westliche Popkultur niemanden mehr, im Gegenteil, sie ist bereits zu einem festen Bestandteil des soziokulturellen Lebens, des Alltäglichen geworden. Das Gedicht führt uns jedoch in das spätsowjetische Georgien der 1970er und 1980er Jahre, in seine Hauptstadt Tiflis zurück: hier lebten die Menschen einfach ihr Leben. Es war ihnen gelungen, sich ihr Land, ihre Städte und Dörfer innerhalb der Grenzen des großen und fremden Sowjetstaates als eine Komfortzone, eine Welt familiärer menschlicher Beziehungen mit einem gewissen Maß an Sicherheit einzurichten. Ein Garant für Sicherheit ist ihnen die georgische Nationalkultur: Sie lieben ihre Vergangenheit, die Geschichte und ihre jahrhundertealte Literatur. Sie lieben aber auch die zeitgenössische georgische Kultur, die bereits deutliche Formen des Widerstands gegen die sowjetische Ideologie und Ästhetik und der Anpassung an jene entwickelt hatte. Hier konnten sie sich von der russisch-sowjetischen Propaganda und Massenkultur abgrenzen. Natürlich drangen sowjetische Ideologie und Kultur auch in den georgischen Raum ein – durch den zentralen Moskauer Fernsehkanal, durch Zeitungen und Zeitschriften. Allerdings stießen diese weniger auf Interesse als vielmehr auf eine spöttische Haltung. Sowjetrussische Werke wurden – ebenso wie die unumgänglichen georgischen Adaptionen – als aufgezwungen und unerwünscht empfunden. Die moderne westliche Kultur hingegen war damals in Georgien sehr gefragt und anziehend. Nur war sie kaum zugänglich. Gab die georgische modernistische Kunst der Gesellschaft zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch das Gefühl, Teil der damaligen westlich-europäischen Kultur zu sein, wurde das Streben nach Europa bald darauf zu einer Art Sehnsucht nach einem Phantom, da niemand wirklich wusste, was hinter dem Eisernen Vorhang vor sich ging.
Warum aber nun Mickey Mouse und Bruce Lee und warum zu Ostern? Für jemanden, der in diesen Worten seine eigene Erfahrung wiedererkennt, ist alles verständlich und nostalgisch konnotiert. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit noch an das Zimmer, in dem wir am Vorabend von Ostern, wenn es bereits Mitternacht war, darauf warteten, dass ein besonders berühmter ausländischer Film auf dem wichtigsten georgischen Fernsehkanal (es gab nur zwei georgische Kanäle) gezeigt wurde. In einer konzertierten Aktion des Senders und natürlich auch der Partei (es gab nur die eine, die Kommunistische Partei) sollte der westliche Film die Menschen vor den Fernseher locken, sie fesseln und dazu bringen, es sich noch einmal zu überlegen, ob sie in die Kirche gehen wollten. Das war vielleicht der einzige Abend im ganzen Jahr, an dem die Funktionäre der Kommunistischen Partei etwas als Instrument benutzten, dessen Popularität sie nur zu gut kannten und das sie die übrige Zeit erbittert bekämpften – die westliche Kultur.
Das übrige Jahr über wurden westliche Filme nur einmal wöchentlich in einem Sonderprogramm des georgischen Fernsehkanals gezeigt, einmal pro Woche wurde auch westliche Musik gespielt – immerhin ein Zeichen dafür, dass Georgien dem russischen Zentrum voraus war. Die Übersetzung ausländischer Literatur des 20. Jahrhunderts war allerdings erst erlaubt, wenn diese bereits ins Russische übersetzt worden war. (Eine einzige Ausnahme war der Ulysses von James Joyce.) Westprodukte wie Zigaretten, Kaugummi und auch Kleidung (nicht aber Coca-Cola) gelangten in kleineren Mengen auf den Schwarzmarkt. Es entstanden auch georgische Adaptionen westlicher Pop-, Rock- und Jazzmusik. Ebenso wurden Aufnahmen westlicher Popmusik vertrieben (Nino Gugeshashvili verweist in ihrem Gedicht „Children of the Milky Way“ von 2023 darauf). Es gab sogar Jazzfestivals. Nicht selten kamen ausländische Jazz- (nicht aber Rock-)Stars für eine Tournee, ein Ereignis, an das man sich bis heute gerne erinnert. Der Ästhetik der modernen Avantgarde begegneten wir – ein wenig unerlaubt – auch bei georgischen Künstlern. Die georgische Kunst und Literatur versuchte langsam, aber stetig die vom politischen Zentrum gesetzten Grenzen zu erweitern, wozu auch der Zugang zur westlichen Kultur und deren Interpretation gehörte.
Die Wahrnehmung Georgiens als ein vom sowjetischen Raum separiertes Gebiet wurde geprägt durch die georgische Kultur, das Narrativ vom georgischen Freiheitswillen und dem Interesse an westlicher Kultur. In den letzten Jahrzehnten der Sowjetära, in den 1970er und 1980er Jahren, war die georgische Realität autark und lokal geprägt, auch wenn sich die Codes der Globalkultur dieser Zeit hier und da wiederfinden lassen. Dabei konnte es sich sowohl um kulturelle Codes der westlichen Hoch- als auch der Populärkultur handeln. Alle diese Codes waren attraktiv. Viele Angehörige der jüngeren und etliche der älteren Generation interessierten sich für sie gerade wegen ihres westlichen Charakters, weil sie ein Gefühl von Freiheit vermittelten. Die Codes der Populärkultur verstärkten dieses Gefühl noch, weil sie, und sei es nur flüchtig, mit dem Unerreichbarsten assoziiert wurden: mit einem offenen und schrankenfreien, ungesicherten wie gesicherten Leben. Tariel Chanturia und Vakhtang Javakhadze waren die ersten Dichter, die damals am deutlichsten zum Ausdruck brachten, dass Poesie auch anders sein könne. Sie brachten Leichtigkeit, Ironie und Experimentierfreude in die streng standardisierte georgische Poesie, und sie brachten die Zeichen westlicher Kultur ein, wie sie im Westen existierten und von den Georgiern adaptiert wurden. Tariel Chanturia nennt in seinem Gedicht „Tanz im Café Ambassador“ sogar eine der Quellen für den Zugang zu diesen Codes: Etwas geschieht „nachts am Transistorradio“. Für jene, die diese Erfahrung gemacht haben, ist diese Anspielung leicht verständlich. Wir erinnern uns, dass die Älteren nachts vor dem Empfänger saßen und Radio Liberty hörten (also die Sendungen der europäischen Programme des amerikanischen Senders in München); die Radiosignale aus dem Westen überwanden die Abwehr der sowjetischen Störsender, und die Klänge der freien Welt drangen in unsere Wohn- und Schlafzimmer.
Shota Iatashvili ist ein Dichter der folgenden, bereits postsowjetischen Generation. Sein Gedicht „Allen und Bob in Tbilisi“ (1993) entstand in der frühen nachsowjetischen Ära und versucht, die georgische Kultur der Sowjetzeit und ihr Verhältnis zur westlichen Kultur zu verstehen. 1985 kamen unerwartet verschiedene Amerikaner nach Tbilisi. Zwar war es bereits früher vorgekommen, dass ausländische Künstler oder auch Politiker, die die UdSSR besuchten, einen Abstecher nach Georgien ins Auge fassten, doch dieser Besuch war fast spontan und für Bob Dylan fast inkognito. Es hieß, er wolle die Heimatstadt seiner Großeltern, Odessa, besuchen und hätte sich deshalb einer Delegation amerikanischer Schriftsteller angeschlossen, die zu Beginn der „Perestroika“ die UdSSR besuchten. Ein Teil dieser Delegation traf also in Tbilisi ein, und die Anweisung aus Moskau lautete, dass sie vom georgischen Schriftstellerverband betreut und empfangen würde. Folgerichtig landeten die Amerikaner im georgischen Schriftstellerhaus, einer offiziellen Institution, deren Geschichte eine sowjetische war. Bob Dylan schuf sich selbst den Inkognito-Status, indem er es vermied, auf Versammlungen, Dinnerpartys oder vor allzu vielen Menschen auf der Straße zu sprechen. Zugleich war er auch für den georgischen Schriftstellerverband ein Inkognito – die dort organisierte Generation kannte Bob Dylan schlichtweg nicht. Doch in der Nähe des Schriftstellerhauses und vor dem Hotel Iveria, wo er gastierte, versammelten sich etwa hundert junge Leute, echte Fans von Bob Dylans Schaffen. Nur wenige hatten die Gelegenheit, ein paar Minuten mit Dylan zu sprechen. Die Geschichte dieses Besuchs ist durch ein Amateurfoto eines georgischen Rocksängers, einige Autogramme belegt und in mündlicher Überlieferung erhalten, der Shota Iatashvili die Version entnommen hatte, dass der amerikanische Beat-Dichter Allen Ginsberg ebenfalls Tbilisi besucht haben soll. Diesen Besuch gab es 1985 tatsächlich, nur war es noch inoffizieller, dass Ginsberg eine Gedenkveranstaltung für den 1937 ermordeten Dichter Titsian Tabidze besuchte. Bemerkenswert ist, dass zwischen dem Besuch von Bob Dylan und dem Gedicht von Shota Iatashvili nur wenige Jahre liegen, in denen sich alles verändert hatte. Es war unglaublich, dass das Sowjetimperium so plötzlich zusammenbrach und eine neue georgische Gesellschaft entstand, die sich ihrer Vergangenheit zu stellen hat. In seinem Gedicht spricht Shota Iatashvili offen über den Unterschied zwischen der freien und der sowjetisch-georgischen Welt, über Unterschiede in der Einstellung zur Lebensrealität, über das Kuriose des georgischen Daseins und seiner Alltagskultur, über den Unterschied zwischen georgischen und amerikanischen Zigaretten (Letztere sind einer der Codes für die Begehrlichkeit und Unerreichbarkeit der westlichen Welt). Letztlich handelt das Gedicht von der Unmöglichkeit und Möglichkeit eines Kulturkontakts, vom Mangel an Sein. Auch ist dieser Kontakt eine Art Absurdität, denn zwischen Bob Dylan, dem freisinnigen amerikanischen Dichter, und einem georgischen Dichter, der die sowjetische Intelligenz repräsentiert, wird er tatsächlich nicht stattfinden. Natürlich gab es in Georgien auch andere Dichter, doch zu dieser Gelegenheit dürfen nur Schriftsteller, die „Anzüge und Krawatte tragen und die Haare mit ordentlichem Mittel- oder Seitenscheitel tragen“, die amerikanischen Gäste treffen. Den offiziellen georgisch-sowjetischen Schriftstellern steht der postsowjetische Autor zynisch gegenüber, tragen sie doch, und gerade sie, Verantwortung für die Verfälschung der Sprache und der Werte in Georgien, darunter der nationalen, familiären und schöpferischen Werte, für Doppelzüngigkeit und Doppelmoral.
Im Georgien des ersten postsowjetischen Jahrzehnts ist augenscheinlich, dass sich niemand an die offizielle sowjetische Kultur, Politik oder Vergangenheit erinnern will, und doch ist sie präsent und bringt sich immer wieder selbst ins Spiel. Schon in den ersten Jahren der Unabhängigkeit war das Land mit militärischen Auseinandersetzungen konfrontiert, die damals noch als innere ethnische Konflikte verstanden wurden. Heute steht außer Zweifel, dass diese von Russland gesteuert wurden und als russisch-georgischer Konflikt in Abchasien und Südossetien bezeichnet werden müssen. In der Folge sind beide Regionen bis heute von russischen Truppen besetzt. Etwa dreihunderttausend Georgier, die von dort vertrieben wurden, warten seit mehr als dreißig Jahren darauf, wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Es war zudem nicht einfach, an die Stelle der zusammengebrochenen Sowjetwirtschaft eine freie Marktwirtschaft zu setzen. Die wirtschaftlichen Bindungen aus der Sowjetzeit waren gekappt, einflussreiche Georgier konnten sich unbehelligt Ressourcen aneignen und dem allgemeinen Zugriff entziehen. Die Anbindung an die westliche Welt war prinzipiell nun möglich, doch die Isolation hielt an, nunmehr aufgrund der postsowjetischen ökonomischen Probleme und bis heute widersprüchlicher politischer Beziehungen.
Die westliche Popkultur gehörte, gerade wegen ihrer Popularität, zu den ersten Phänomenen westlicher Strukturen, die ungehindert in das postsowjetische Georgien drangen und einem breiteren Publikum zugänglich wurden. Noch bevor teure Lifestyle-Produkte für die georgische Bevölkerung erschwinglich wurden, war ihr billigerer Abklatsch bereits verfügbar. In der georgischen Kultur gab es die Befürchtung, dass wir niemals eine gemeinsame Kultursprache entwickeln und im Verhältnis zur realen, der globalen Welt nur eine untergeordnete Rolle spielen würden. Genau davon spricht Shota Iatashvili 1997 in seinem Gedicht „Zum Gedenken an John Lennon“. Er sagt aber auch:
Und schließlich Imagine: die Erde wäre irgendwie noch lebendig und rund…
Es scheint, dass auch wir Teil dieser Welt sind. Vielleicht ist es tatsächlich der Einfluss solcher Selbstvergewisserungen, der das Land an Stärke gewinnen ließ und die georgische Gesellschaft den Weg der Selbstorganisation wählen ließ. Seit 2003 leitete Georgien rasche Reformen ein und erklärte kühn seinen Wunsch nach einer euroatlantischen Integration. (Darauf folgte ein weiterer Krieg von russischer Seite im August 2008, nur wenige Jahre vor der Annexion der Krim und dem russisch-ukrainischen Krieg griff Russland Georgien an. Aber das ist ein Thema für eine andere Diskussion und eine andere Literatur.)
Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte hat sich der westliche Lebensstil in den staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen Georgiens mehr oder weniger etabliert. Auf der Ebene der Alltagskultur haben westliche Produkte bereits ihren früheren Reiz verloren und werden als banaler, wenn auch notwendiger und begehrter Bestandteil des Lebens wahrgenommen. Genau dies thematisiert Eka Kevanishvili in ihrem Gedicht „Brot und Coca-Cola“ von 2019. In Giorgi Shonias Gedicht „Über einen Tag“ von 2017 ist das Leben grau und passiv, die Bar als Topos hat ihren Glanz, Charme und ihr Mysterium verloren, den sie für die georgische Jugend der späten Sowjetzeit noch ausstrahlte. Die Bar wurde als symbolischer Ort eines nichtsowjetischen, eines westlichen Lebens wahrgenommen. Gleichzeitig wird auch Georgien zum Schauplatz der globalen technologischen Revolution. Informations- und Kommunikationstechnologien wirken als Gleichmacher und überwinden geografische und kulturelle Barrieren. In der virtuellen Welt sind alle Menschen und Kulturen gleich. Davon schreibt Zaza Bibilashvili 2011 in seinem Gedicht „Banal Game“. Eine neue Schriftstellergeneration versucht nun, der Popkultur und deren Produkten, die früher mit dem westlichen Leben assoziiert wurden und nun auch in der georgischen Vorstellungswelt zur Massenkultur gehören, den gleichen Platz einzuräumen, den ihnen die westliche Hochkultur zuerkannt hat. Die Gedichte von Zaza Koshkadze („Der Spätkapitalismus“, 2021) und von Rati Amaglobeli („Das zwanzigste Jahrhundert“, 2022) erfüllen diese Aufgabe. Obwohl die sozioökonomische Realität Georgiens seine Bewohner noch nicht in die einer Konsumgesellschaft verwandelt hat, versucht die georgische Kultur bereits, die Erfahrungen der postindustriellen westlichen Kulturen aufzugreifen und nach der Rolle hochkultureller Codes im Zeitalter der kulturellen Kommerzialisierung zu suchen. Hier kommt es zu einer Unterscheidung zwischen dem Massencode und dem elitären Code der doppelt codierten Populärkultur. Die westliche Populärkultur kann sowohl in der georgischen als auch in der europäischen Poesie selbst zum Thema des elitären Codes werden. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht „John!“ von Nino Darbaiseli Straughn. Die zeitgenössische georgische Poesie erkennt auch an, dass der elitäre Code immer noch eine geistige Mission der zeitgenössischen Kunst zu entwickeln vermag. Sie hilft Menschen in Krisenzeiten. „Tag vier: We all live in a yellow submarine“ (2020) von Maka Ldokonen etwa ist ein paradigmatischer Text vom Beginn der Pandemiezeit. Die zeitgenössische Kunst hilft dem modernen Menschen, Antworten auf spirituelle und existenzielle Fragen zu finden, sie lässt ihn die Ganzheit der Welt spüren. Dies ist auch der Fall in Sophiko Kvantalianis Gedicht „Andy Warhols ,Diptychon Marilyn‘, 1962“ von 2018, in Irma Beridzes „Marilyn Monroe Metamorphose“ von 2023, in Tamar Zhgentis „Star Wars, Solo“ von 2022, in Nato Ingorokvas „L’Amore“ von 2023 und Nino Gugeshashvilis „Gedicht 26. Juli“ (2023) mit dem Zitat:
Wüsste ich, wo dein Grab ist,
Käme ich und würde dir sagen,
Dass heute, am 26. Juli,
Mick Jagger seinen 80. Geburtstag hat,
Sinéad O’Connor mit 56 gestorben ist.
Ich weiß nicht, was ihr dort hört, wie es euch dort geht,
Doch wäre diese Welt nur ein bisschen wie diese,
Würdest du wahrscheinlich sagen:
„Die darf rein, die weiß, wie man singt,
und hat ’ne hübsche Visage!“ – und dazu den Daumen recken.
So konnte sich Georgien trotz des permanenten politischen Drucks aus Russland in den postsowjetischen Jahrzehnten rasant entwickeln und – wenn auch spät, aber immerhin – zu einem demokratischen Land mit einigen sozialen, kulturellen und politischen Ambitionen werden. In der Nachbarschaft Russlands sind die Dinge jedoch nicht so einfach. Im Rahmen des hybriden Krieges, den Russland führt, sind die Demokratie und die europäische Entwicklung des Landes gerade heute wieder in Gefahr. Das ist nicht nur ein Thema theoretischer Diskussionen, das ist heute die Frontlinie des georgischen Volkes. Georgien möchte ein Land bleiben, in dem das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt ist und in dem neben vielen anderen Möglichkeiten auch die Unabhängigkeit der Kultur Ausdruck individueller und gesellschaftlicher Freiheit ist.
Dr. Bela Tsipuria, Staatliche Ilia-Universität Tbilisi, Nachwort
hatte Löcher: Auch ins sowjetische Georgien tröpfelten die Lieder der Stones und Sinead O’Connor, der Sex Pistols und Jethro Tull, Bilder von Wolkenkratzern und Marilyn Monroe auf Reklametafeln, Filmschnipsel und ein Hauch der Konsumwelt. Die offizielle Kulturpolitik versuchte den dekadenten Westen aus dem Leben ihrer Bürger fernzuhalten, gleichzeitig kam man nicht umhin, wenigstens in homöopathischen Dosen den westlichen Glamour zuzulassen, eine generöse Weltläufigkeit zu simulieren. Dieses dialektische Kulturdiaphragma hatte eine ganz eigenartige Wirkung auf die junge, widerspenstige Literatur: Wurde Pop aus ästhetischen und eskapistischen Gründen akzeptiert und geliebt, stand er gleichzeitig unter Verdacht, nur Beruhigungspille und ein neues falsches Versprechen (wie die frühsowjetische Avantgarde) einer vereinnahmenden Macht zu sein. Letztlich steht er aber bis heute – wenn junge Menschen mit Europafahnen auf den Straßen von Tblisi demonstrieren – für ein Gegenmodell zum sowjetisch-russischen Zwangssystem, das sich als Utopie längst erschöpft, das sich ebenso lange vom Versprechen einer materiell besseren Zukunft gelöst hat und nur noch von einer chauvinistischen nationalen Erzählung und deren lokalen Ablegern lebt. Die in Deutschland lebende georgische Lyrikerin Bela Chekurishvili hat 45 Gedichte zeitgenössischer Dichterinnen und Dichter unterschiedlichster Generationen ausgewählt, die dieses Spannungsfeld west-östlicher Begegnung vor der Folie des gewalttätigen 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts kritisch reflektieren.
Bela Chekurishvili liest aus ihrem Gedichtband Wir, die Apfelbäume.
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