LIED DER LYRIKER
(als schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts für Gedichte nichts mehr gezahlt wurde)
1
Das, was ihr hier lest, ist in Versen geschrieben!
Ich sage das, weil ihr vielleicht nicht mehr wißt
Was ein Gedicht und auch was ein Dichter ist!
Wirklich, ihr habt es mit uns nicht zum besten
aaaaagetrieben!
2
Sagt, habt ihr nichts bemerkt? Habt ihr gar nichts zu fragen?
Fiel’s euch nicht auf, daß schon lang kein Gedicht mehr erschien?
Wißt ihr, warum? Nun schön, ich will es euch sagen:
Früher las man den Dichter, und man bezahlte ihn.
3
Heute wird nichts mehr bezahlt für Gedichte. Das ist es.
Darum wird heut auch kein Gedicht mehr geschrieben!
Denn der Dichter fragt auch: Wer bezahlt es? Und nicht n u r: Wer liest es?
Und wenn er nicht bezahlt wird, dann dichtet er nicht! So weit habt ihr’s getrieben!
4
Aber warum nur? so fragt er, was hab ich verbrochen?
Hab ich nicht immer getan, was verlangt wurd von denen die zahlen?
Hielt ich nicht immer das, was ich versprochen?
Und jetzt höre ich auch von denen, die Bilder malen
5
Daß kein Bild mehr gekauft wird! Und auch die Bilder
Waren doch immer geschmeichelt! Jetzt stehn sie im Speicher…
Habt ihr was gegen uns? Warum wollt ihr nicht zahlen?
Wie wir doch lesen, werdet ihr reicher und reicher…
6
Haben wir nicht, wenn wir genügend im Magen
Hatten, euch alles besungen, was ihr auf Erden genossen?
Daß ihr es nochmals genösset: das Fleisch eurer Weiber!
Trauer des Herbstes! Den Bach, und wie er durch Mondlicht geflossen…
7
Eurer Früchte Süße! Geräusch des fallenden Laubes!
Wieder das Fleisch eurer Weiber! Das Unsichtbare
Über euch! Selbst euer Gedenken des Staubes
In den ihr euch einst verwandelt am End eurer Jahre!
8
Und nicht nur das habt ihr gerne bezahlt! Auch das, was wir denen
Sagten, die nicht wie ihr auf die goldenen Stühle gesetzt sind
Habt ihr sonst immer bezahlt! Dies Trocknen der Tränen!
Und dies Trösten derer, die von euch verletzt sind!
9
Vieles haben wir euch geleistet! Und nie uns geweigert!
Stets unterwarfen wir uns! Und sagten doch höchstens: Bezahl es!
Wieviel Untat haben wir so verübt! Für euch! Wieviel Untat!
Und wir begnügten uns stets mit den Resten des Mahles!
10
Ach, vor eure in Dreck und Blut versunkene Karren
Haben wir noch immer unsere großen Wörter gespannt!
Euren Viehhof der Schlachten haben wir „Feld der Ehre“
Eure Kanonen „erzlippige Brüder“ genannt.
11
Auf die Zettel, die für euch Steuern verlangten
Haben wir die erstaunlichsten Bilder gemalt.
Unsere anfeuernden Lieder brüllend
Haben sie euch immer wieder die Steuern bezahlt!
12
Wir haben die Wörter studiert und gemischt wie Drogen
Und nur die besten und allerstärksten verwandt.
Die sie von uns bezogen, haben sie eingesogen
Und waren wie Lämmer in eurer Hand!
13
Euch selber haben wir stets mit was ihr nur wolltet verglichen
Meistens mit solchen, die auch schon mit Unrecht gefeiert wurden von solchen
Die wie wir ohne Warmes im Magen Gönner umstrichen
Und eure Feinde verfolgten wir wild mit Gedichten wie Dolchen.
14
Warum also besucht ihr plötzlich nicht mehr unsre Märkte?
Sitzt nicht so lange beim Essen! Uns werden die Reste ja kalt!
Warum bestellt ihr nichts mehr bei uns? Kein Bild? Nicht ein Loblied?
Glaubt ihr etwa auf einmal, daß ihr so, wie ihr seid, gefallt?
15
Hütet euch, ihr! Ihr könnt uns durchaus nicht entbehren!
Wenn wir nur wüßten, wie euer Aug auf uns lenken!
Glaubt uns, ihr Herren, daß wir heut billiger wären!
Freilich können wir euch unsere Bilder und Verse nicht schenken
16
Als ich das, was ihr hier lest (ach, lest ihr’s?) , begonnen
Wollt ich auch jede dritte Zeile in Reimen verfassen.
Aber da war mir die Arbeit zu groß, ich gesteh es nicht gerne
Und ich dachte: wer soll das bezahlen? und hab es gelassen.
Gleich nach dem Reichstagsbrand verließ Brecht Deutschland. Im ersten Jahre des Exils, in Dänemark, stellte Brecht den zweiten Auswahlband seiner Gedichte, Lieder, Gedichte, Chöre, zusammen, der 1934 in den Editions du Carrefour, Paris, herauskam.
Die Lieder, Gedichte, Chöre stehen, Brechts Anweisung entsprechend, am Anfang des dritten Bandes der Gedichte. Die Originalausgabe enthält eine Notenbeilage mit Melodien Hanns Eislers, deren Veröffentlichung Brecht im Interesse der Verbreitung und Wirkung der Lieder für wichtig hielt.1
Der Band wird eingeleitet durch die „Legende vom toten Soldaten“, die Brecht bereits in die Hauspostille aufgenommen hatte und für die er schon sehr früh von den Nazis auf die schwarze Liste gesetzt worden war.
Dem Kinderbuch Die drei Soldaten waren im 6. Heft der Versuche Zeichnungen von George Grosz beigegeben.
Die Uraufführung des Balletts Die sieben Todsünden der Kleinbürger mit der Musik von Kurt Weill fand im Sommer 1933 in Paris statt.
Die unveröffentlichten und die nicht von Brecht selbst zusammengefaßten Gedichte aus den Jahren 1930–1933 sind wie die im zweiten Band der Gedichte von den Redakteuren chronologisch angeordnet.
Der Plagiatvorwurf eines Kritikers in bezug auf einige Dreigroschenoper-Songs und die daraus entstandene öffentliche Diskussion veranlaßten Brecht und den Gustav-Kiepenheuer-Verlag 1930, die Balladen Villons in der Ammerschen Übersetzung neu herauszugeben; als Einleitung schrieb Brecht das „Sonett zur Neuausgabe des François Villon“.
Das Gedicht „Lob des Dolchstoßes“ steht in engem Zusammenhang mit dem „Lied von der Suppe“ aus dem Stück Die Mutter, während „Das Lied der Obdachlosen“ und die „Ballade vom Tropfen auf den heißen Stein“ ursprünglich für den Film Kuhle Wampe bestimmt waren, an dem Brecht mitarbeitete (1931). Für die Berliner Aufführung von Paul Schureks Kamrad Kasper (1932) schrieb Brecht die drei Lieder: „Ach, des Armen Morgenstund“, „Lied der Kriegerwitwe“ und „Ich hatte eine liebe Frau“. Das „Lied von der Tünche“, ursprünglich für seinen Entwurf zu seinem Dreigroschenfilm Die Beule geschrieben, übernahm Brecht etwas erweitert in die endgültige Fassung seines Stücks Die Rundköpfe und die Spitzköpfe.
Elisabeth Hauptmann, Nachwort
Berlin heißt, Brecht direkt ins Auge zu blicken. Heißt dabei zu sein, nahe dabei zu sein, alles aus nächster Nähe zu erleben. Heißt sich einen Überblick zu verschaffen. Man spürt, man ahnt die Einheit von allem, aber begreift sie noch nicht. Es heißt, wer Berlin erobert, der erobert die Welt: London und Sezuan, Mahagonny und Babylon. Und Brecht mit eigenen Augen zu erfahren, heißt, vom Schreibtisch aufzublicken, die Tür zu öffnen, sich auf den Weg zu machen durch „das kalte Chicago“. So nannte der dreiundzwanzigjährige Brecht das Berlin der zwanziger Jahre:
In der Asphaltstadt bin ich daheim. Seit vielen Jahren
lebe ich dort als ein Mann, der die Städte kennt.
Was auf Brecht zwar nicht zutraf, was er aber 1924 mit Hilfe des Regisseurs Erich Engel und der Schauspielerin Helene Weigel zweifellos vorhatte: in der Asphaltstadt zu leben.
Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.
Also vergiß die Hauptstadtdebatte, die Baustellen vom Potsdamer Platz, die Reichstagskuppel von Norman Foster und ziehe los: Nach Osten mußt du dich wenden, dort wirst du ihn finden.
Berliner Neuankömmlinge wollen immer dazugehören. Wollen ein Teil dieser Stadt sein. Neulinge definieren Berlin, als wären sie die Alteingesessenen, die schon Jahrzehnte hier wohnen. Daran sind sie erkennbar. Also, was macht Berlin zur Stadt? Es sind die Zeitinseln, die Schichtungen. Es ist das dichte Netz der Gastronomie, in der die innerstädtischen Wanderungen meistens ihren Anfang haben oder zumindest ihr jeweiliges Ende finden. Für Grosz und Benjamin sind der Zwiebelfisch, Diener oder die Paris Bar die jeweiligen Ruhepunkte, für Brecht sind es Die ständige Vertretung, das Kellerrestaurant im Brecht-Haus, Obst und Gemüse oder Tacheles, S- oder U-Bahn Friedrichstraße oder Oranienburger Tor. Wir kommen vom Ernst-Reuter-Platz und fahren wieder die Straße des 17. Juni entlang: auf beiden Seiten der Tiergarten, die Siegessäule. Links das russische Ehrenmal mit seinen grüngestrichenen Panzern, in der Mitte der überdimensionale russische Soldat aus Bronze mit Helm und aufgepflanztem Gewehr. Das ist verräumlichte Geschichte, wie sie Stuttgart oder Krefeld nicht kennen. In der Ferne der Umriß des Brandenburger Tores, der Klinkerturm des Roten Rathauses und der Fernsehturm. Ein Schichtenbild, das zu erreichen und zu durchqueren, wir uns längst gewöhnt haben. Wie einfach es ist, die Gegenwart hinter sich zu lassen, den Krieg in Tschetschenien, den Krieg im Kosovo, und die Friedrichstraße entlangzugehen. Die Zeitzonen zu wechseln, Berlin als Bühne zu erleben.
Wir sagen Berlin, und Berlin ist die Mehrheit, die von Berlin erzählt. Aber ich kann meine Figuren nicht ad hoc erfinden, wie Ralf Bönt in seinem neuen Berlin-Roman Gold: Die Daten, Namen, Straßen und Hausnummern meiner Biographie müssen genau sein. Alles muß stimmen, der Wahrheit entsprechen, selbst meine Gedanken dazu, meine Handlungen. Anders bei Bönt, seine Figuren sind frei erfundene Spielpuppen, für die „Berlin in jedem Fall eine Party ist“:
Keinem verpflichtet außer uns selbst.
Ihm „geht es nicht darum, eine Geschichte zu erzählen, sondern ein stimmiges Bild zusammenzufügen“, schreibt Eva Leipprand in ihrer Kritik. Da gibt es die Integrierten, die Gewinner des Goldes, die ein Programm haben, und die orientierungslose Gruppe der Außenseiter, für die es darin keinen Platz gibt. Und wen es darin auch nicht gibt, ist Bertolt Brecht. Ist der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Die Goldstadt Mahagonny, die dem heutigen Berlin so ähnlich ist. Und daran solltest du dich zurückerinnern, wenn du über die Spreebrücke zum Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm gehst: Du mußt dir Berlin einfach zusammenfügen, wie es dir paßt.
Man kommt vom S-Bahnhof Friedrichstraße, geht am Tränenpalast vorbei, überquert die Weidendammer Brücke und sieht auf der linken Seite den Bertolt-Brecht-Platz mit dem Gebäude des Berliner Ensembles. Auf dem Gebäude ein riesiges herabhängendes Transparent, das offensichtlich zum Auftakt der Peymann-Ära hier befestigt wurde:
Wenn Deutschland einmal vereint wird – jeder weiß, das wird kommen, niemand weiß, wann –, wird es nicht sein durch Krieg.
Es ist ein Zitat von Brecht aus dem Jahre 1956. Hier standen sie also und erwarteten, daß der einstige Herr des Berliner Ensembles, Brecht, am vergangenen Samstag zur Wiedereröffnung in Person des Schauspielers Peter Fitz auf die Bühne zurückkehrte. Diesmal in George Taboris neuem Stück Die Brecht-Akte, das am 8. Januar 2000 Premiere hatte. Ein ausverkaufter, triumphaler Berlin-Abend. In ihrer Mitte der kleine Peter Fitz als Brecht verkleidet. Mit seiner schäbigen Drahtbrille und der Zigarre. Ein lebendig gewordener Theater-Mythos. Was er einmal wollte, war ein gewöhnliches Theater mit Brettern und einem Papiermond, keine naturalistische Bühne:
Selbst die kleinste Handlung… betrachtete er mit Mißtrauen… Besonders das Übliche… das immerfort Vorkommende… damit nichts unveränderlich gelte.
Aber mit dem Mahagonny-Stück wurde aus dem sozialkritischen Brecht ein marxistischer Brecht. Ein dogmatischer Brecht.
Und hier am Vorplatz des Theaters kannst du ihn sitzen sehen: den überdimensionalen Brecht, von Fritz Cremer zum Denkmal umgewandelt. Ein alles erduldender, entindividualisierter Arbeiter der Sprachkunst. Zu seinen Füßen vereinzelte Rosen, die Claus Peymann am Eröffnungsabend seinen Besuchern in die Hand gedrückt hatte. Jetzt liegen sie hier, weggeworfen oder niedergelegt in wahrer Bewunderung. Der Platz kein reales wirklichkeitsnahes Terrain, auf dem die Menschen ihr blauäugiges Glück erleben könnten: eher ein Andachtsplatz, ein Ermahnungsplatz des schweigenden Wegbereiters. Statt seiner sprechen seine geschriebenen Worte, die die ehemalige DDR in die dunklen, glattpolierten Steinsäulen meißelte, die ihn schützend umgeben. Darunter der Satz:
Krieg wird sein, solange auch nur ein Mensch am Krieg verdient.
Und Brecht läßt sich von niemandem dreinreden, besonders dann, wenn es die Wahrheit betrifft. Die Eingangshalle des Theaters hat vier Türen, drei Lüster und einen schön gekachelten Boden. Über der Theaterkasse liest man ein Brecht-Zitat vom 19. März 1954:
Theater spieltet ihr in Trümmern hier. Nun spielt im schönen Haus, nicht nur zum Zeitvertreibe. Aus euch und uns ersteh ein friedliches Wir, damit dies Haus und manches andere stehen bleibe.
Anschließend geht man die Spreeseite entlang und blickt in die Fenster von Ganymed, van Gogh oder Engelbrechts hinein und landet am Ende doch in der Ständigen Vertretung, eines der interessantesten Berliner Restaurants, von Rheinländern, die sich in Berlin niederließen, entwickelt. Für das wiedervereinigte und ausgenüchterte Berlin eine gastronomische Herausforderung.
Als erstes siehst du die fünfzehn mit rotem Samt überzogenen Barhocker, die in der ehemaligen Frontstadt-Idylle eine Neuheit sind. Als nächstes bewunderst du die Fotografien von Willy Brandt und Adenauer, von Heuss und Schmidt, von Grass und Beuys, von Gorbatschow und dem Dalai Lama, von Vopos und Kölner Karnevalsprinzen. Eine visuelle Mischung, die in rheinischer Fröhlichkeit die sozialistische Revolution mit der kapitalistischen verbindet und eine wohltuende Wirkung besitzt. Du stehst an einem der sieben Stehtische und bestellst dir Rheinischen Reibekuchen, Himmel und Erde, Eifeler Kartoffelsuppe mit Blutwurst, Pfälzer Saumagen und Rheinischen Sauerbraten. Dazu trinkst du ein Pittermannchen für 1,25 Mark oder ein kleines Kölsch für 2,70 Mark. Und derart gestärkt gehst du die Friedrichstraße entlang. Sie ist eine der Gedächtnisstraßen der eingeebneten DDR, und du registrierst die politischen und geologischen Verschiebungen unter den Füßen: Verwerfungen von Ost nach West und umgekehrt: von der besseren Stadthälfte in die schlechtere. So einfach ist das: Die einen besitzen ein Programm, und die anderen sind die Ausgeschlossenen, wie es Brecht und Bönt in der Goldstadt Mahagonny beschrieben haben. Und natürlich wird nicht die DDR wegrestauriert, sondern nur die graue Ödnis des Sozialismus übertüncht. Also, wir sind im Berlin von Kathrin Röggla angekommen. Und einmal in Fahrt, entdeckst du diesen unverwechselbaren Sound Berlins, den du nur in ihren Büchern liest.
Und auch die Augen erleben ihren Tanz der Dinge. Die irre Makellosigkeit von frisch erblühten Fassaden. Ungehemmte, ungebremste Abbilder von Ost und West. Die Stadt erhält ein neues Gesicht, eine neue Identität, obwohl die alte noch immer nicht verbraucht ist. Worauf es ankommt, ist die jeweilige Sicht des Betrachters. Ist der einzelne Impuls, der durch Zufall, Assoziation und Subjektivität wie ein Kartenspiel immer wieder neu gemischt und wie bei Ralf Bönt neu „zusammengefügt wird“. Was zählt, ist das stimmige Bild, das du dir selbst von der Hauptstadt machst! Im Gegensatz zu dem südlichen Teilstück der Friedrichstraße mit seinen neuen Marmor- und Glasfassaden à la Lafayette ist die nördliche Hälfte jenseits der Spree die Straße der alten, übriggebliebenen Häuser. Hier überwiegen die Altbaublöcke, die das triste Milieu der DDR und die Sanierungspläne des Westens überlebt haben. Und das alles ein paar Fußminuten vom neugestalteten Bahnhof Friedrichstraße entfernt, der in der Mauer-Zeit von 1961 bis 1989 der wichtigste innerstädtische Grenzübergang zur sozialistischen Utopie war. Einmal, ja einmal hatte „ein geheimes Feuer im Innern der Stadt geglüht“, schreibt Christa Wolf in der 1990 veröffentlichten Erzählung Was bleibt. Eine Autorin, die den Tränenpalast, das ehemalige Abfertigungsgebäude, und Wolf Biermanns „preußischen Ikarus“ im Geländer der Spreebrücke am besten kennt, denn sie wohnte in der Friedrichstraße 133.
Das alles sind harte Schnittstellen, die beim Weiterwandern die Gemüter der Touristen und Nachgeborenen schnell in Wallung bringen. Man geht und schaut, und Gehen ist ein Aufsammeln von Bildern. „Wer Jahre nicht hier war, müßte denken, in einem Traum aufzuwachen“, schreibt die FAZ. Und rechts der Friedrichstadtpalast, in dem die SED 1966 mit dem Brecht-Motto „Vorwärts und nicht vergessen“ ihr zwanzigstes Jubiläum feierte. Kurz darauf entdeckt der träumende Fußgänger eine riesige Baulücke, in der die Tacheles-Leute ihre größten und verrücktesten Graffiti auf die Brandmauer pinselten. Es ist die große, mythengetränkte Freifläche, die bis zur Oranienburger Straße reicht und auf der das legendäre Tacheles steht: Die weltweit berühmteste Berliner Ruine, die angeblich noch bekannter als die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche sein soll. Ein Widerstandsnest, das sich seit der Besetzung des alten Passagen-Kaufhauses am 13. Februar 1990 gegen alle Räumungskommandos und Investoren hartnäckig zur Wehr setzte. Eine künstlich am Leben erhaltene Ruine, die im Laufe der Jahre zur puren Kulisse verkam und von der Berlin-Werbung gnadenlos als Mahnmal des Aufbruchs verheizt wird. In Wirklichkeit ein Stück Selbstbehauptung der jüngeren Generation, die an der Schwelle unseres strahlenden Zeitalters noch einen Rest ihrer sozialkritischen Botschaft behalten will: frei sein! Und wenn es notwendig ist, sich mit allen unterdrückten Randgruppen solidarisiert. Ein Stück Überlebenskampf, der die letzte authentische Kriegsruine bisher vor dem Abriß rettete. Auf der Rückseite des ausgeschlachteten, mit Graffiti überwachsenen Gebäudes eine Biergarten-Wildnis, die jeden Bayern vor Neid erblassen läßt: vollgestopft mit zusammengeschweißten, verrosteten, bemalten Schrott-Skulpturen, die die kunstfeindliche Subkultur als Bürger-Schock vor Ort geschaffen hat.
Aber für viele Berlin-Besucher, die hier nach Brecht suchen, ist es das niederträchtige, verwahrloste Sinnbild jugendlicher Selbstgewißheit: ein aggressiver Abenteuerspielplatz, der aus dem Neuen Berlin verschwinden sollte. Ein Symbol, das von der Aura der Zerstörung und des Verfalls zehrt. Und gewiß ist, daß es nicht bleiben wird, wie es ist. Daß die beschlossene Sanierung für fünfhundert Millionen Mark es so verfälschen wird, daß die endgültige Zerstörung fast noch besser wäre. Eine Begehung des Gebäudes macht deutlich, daß das Charisma dieser Ruine den lokalen Bezug zum umliegenden Viertel benötigt. Und ist dieser beseitigt, wird Tacheles eine isolierte Touristen-Insel der Berliner Republik. Aber wir wollen weiter zum nahegelegenen Brecht-Haus in der Chausseestraße 127. Bald nach der Torstraße beginnt die Ziegelmauer des Friedhofs der Dorotheenstädtischen und Friedrich-Werderschen Gemeinde: Berlins berühmtester Friedhof.
Hier kommt die beschleunigte Zeit endlich zum Stillstand. Hier wird sie angehalten, hier werden die deutsch-deutschen Befindlichkeiten einfach vergessen. Und hingegeben an die Stille, könntest du sie zeitlebens lieben! Im endlosen Labyrinth der Gräber wird jeder Spurensucher zum Selbstsucher, zum Visionär des Unwirklichen. Ein solcher Aufenthalt läßt Unschärfen zu, halbbewußtes Dahinsehen, Dahinträumen, einen Voyeurismus des Schweigens. Gleich am Anfang die beiden Gräber von Bertolt Brecht und Helene Weigel. Die frischen Blumen darauf. Hier bist du ihm nah, authentisch, ohne künstliches Zutun. Dein Auftritt bedarf keiner Inszenierung. Du kannst dich an eine Zeitung klammern, an eines seiner Bücher erinnern. Plötzlich sehe ich die frischen roten Nelken auf dem Grab von Stephan Hermlin. Nicht weit davon entfernt das Grab von Heiner Müller: auf seiner viereckigen Bronzestele liegen Steine, Erdnüsse, eine Zigarre und zwei kleine Schweine aus Plastik. Auf seinen Rasen hat jemand vier gelbe Äpfel und eine Rose gelegt. Ihm gegenüber das Grabmal von Karl-Friedrich Schinkel. Und wie immer suche ich nach Fichte und Heartfield, nach Anna Seghers und Arnold Zweig oder Hanns Eisler, aber ich finde sie nicht. Vereinzelte Sonnenstrahlen berühren die Spitzen der Kreuze und einen Teil der Fenster, durch die einmal Brecht auf den Friedhof blickte.
Wer ahnungslos die Räume von Brecht betritt, könnte zunächst annehmen, er lebe noch. Wohne noch heute in dieser Wohnung, so lebensecht und unmuseal wird sie uns vorgeführt. Die Dinge erwarten den Augenkontakt. Erwarten, daß sie noch weiter benutzt, von den gleichen Händen ergriffen, betastet und verwendet werden. Die unveränderte Wohnung eines Menschen, eines Dichters zu betreten, ist eine Grenzüberschreitung besonderer Art. Alles ist sichtbar, nichts bleibt ungezeigt. Die sonst rechtlich geschützte Privatsphäre ist für jedermanns Auge zugänglich. Tausendfach betrachtet, beschrieben und fotografiert. Stühle, Tische und Regale, Bücher und Zeitungen sind planvoll entblößt – Brecht wird nur selten allein gelassen.
Keiner von uns will wahrhaben, daß wir allesamt ungebetene Gäste sind, die, ohne anzuklopfen, sein stillhaltendes Mobilar betasten, sein Telefon begutachten, sein Schreibpult erproben, die Titel seiner Bücher und die Datierungen seiner Zeitungen notieren. Wir kommen vom kleinen Arbeitszimmer und gelangen ins große Arbeitszimmer. Ich registriere das Mao-Gedicht und die No-Masken, sehe den großen runden Tisch, den Divan und den darüberhängenden Konfuzius. Am Stehpult erblicke ich Marx und Engels und am kleinen Arbeitstisch am Fenster seine Reiseschreibmaschine Royal. Nicht weit davon entfernt die Olivetti. Auf der Schreibtischplatte die Petroleumlampe und dahinter seinen Lehnstuhl. Seine Kriminalromane, seinen Manuskriptschrank, die chronologisch geordneten Jahrgänge der Zeitschrift Die Neue Zeit. Das Auge sieht nichts, es beobachtet, erkundet, dringt ein, wo das Leben eines anderen beginnt. Eine solche Begehung ist eine Reise in das fremde Ich eines berühmten Stars, und der Besucher besucht dieses Ich, obwohl er nicht eingeladen wurde. Besonders begehrt ist der Fensterblick auf den tiefergelegenen Dorotheenstädtischen Friedhof, den Brecht immer wieder beschrieb.
„Ich wohne jetzt in der Chausseestraße, neben dem ,französischen Friedhof‘, auf dem die Hugenottengeneräle und Hegel und Fichte liegen, meine Fenster gehen alle auf den Friedhofspark hinaus. Es ist nicht ohne Heiterkeit“, schrieb Brecht am 8. März 1954 an Peter Suhrkamp. Und so erproben wir diesen Blick und wiederholen seine Heiterkeit, als wäre es völlig normal, in beliebigen Kleidungsstücken und ungesäuberten Schuhen in die Empfindungswelt eines fremden Menschen einzudringen.
Diese Skrupel stellen sich spätestens in seinem Schlafzimmer ein, wenn wir vor seinem Bett stehen, in dem Brecht am 14. August 1956 um 23 Uhr 45 infolge eines Herzinfarkts gestorben ist. Die Vorhänge des Hoffensters sind zugezogen. Auf den Holzdielen des Fußbodens hört man das Geräusch der eigenen Schuhe. An der Stirnwand hängt ein altes Rollbild. Auf dem Tischchen neben dem Bett liegen die Herald Tribune und die Frankfurter Allgemeine vom 11./12. August 1956. An der Tür des Badezimmers hängen sein Bambusstock und seine Mütze, als würden die Gegenstände die Rückkehr ihres ehemaligen Besitzers erwarten. Mich Siebzigjährigen überrascht, daß Brecht nur achtundfünfzig Jahre alt wurde und ich um so vieles älter bin.
Du vergißt, daß draußen die Welt ist: die Welt mit Bundeskanzler Schröder, der Reichstagskuppel, der Parteispendenaffäre, dem Krieg in Tschetschenien. Am Ende der Führung wird uns noch die Wohnung von Hene Weigel gezeigt, die jetzt, im Gegensatz zu früher, unter der von Brecht liegt: im Flur die riesigen Bücherschränke. Im Wohnzimmer die Sammlung ihrer altdeutschen Tonkrüge, ihrer alten Porzellanteller. Im Schlafzimmer ein Ost-Fernseher, Theater-Manuskripte, drei Parfumflaschen ,Blue grass‘, die Fotografien ihrer Kinder und Enkelkinder, ihre Handtasche, eine Holztruhe. Im Bad eine Sitzbadewanne. Das Auge observiert. Alles und jedes ist zum Gedächtnisträger mumifiziert. Was peinlich berührt, ist die freie Verfügbarkeit des Menschen, seine bemühte Wiederbelebung mit Hilfe seiner banalen Gebrauchsgegenstände. Im Gegensatz zur Werkstatt-Wohnung von Brecht sind diese Räume pure Privatwelt. Alles gepflegter Mittelstand, ohne politische oder künstlerische Ambitionen. In der Küche ein rotgekachelter Boden, weiße reichverzierte Stühle und ein kleiner Tisch, ein Kühlschrank und ein Gasherd mit vier Flammen. Darüber die Kochbücher der Weigel. Ein Knoblauch-Buch. Ein weißes Buffet, darin das Geschirr mit Zwiebelmuster. Das Fenster geht zur Garage, in der das Auto von Bertolt Brecht stand. Am schönsten der kleine Garten mit seiner Steinbank und der Japanischen Kirsche: Zeitzeugen, die er zu schätzen wußte.
Je nach Zeit oder Gemütsverfassung verbringt der Besucher nach der Begehung der Brecht-Wohnung die anschließenden Stunden im Kellerrestaurant des Brecht-Hauses, wo nach Rezepten von Helene Weigel gekocht wird. Ein gemütlicher Umschlagplatz der literaturinteressierten Stadtflaneure, die hier ihre handschriftlichen Eintragungen ergänzen. Sich der geistigen Topographie des Autors zuwenden. Was für ein Irrtum von Brecht, die Menschen mit Worten formen, verbessern, ändern zu wollen. Brecht wollte ein Weltanschauungstheater für das Kollektiv: Die „gesellschaftliche Umfunktionierung des Theaters in eine pädagogische Disziplin“. Was er forderte, war die Unterordnung der Massen, ihre Hinwendung zur sozialistischen Revolution. Ein Lehrtheater, das auf die Auslöschung des Individuums zugunsten seiner gesellschaftlichen Brauchbarkeit zielte: Forderungen, wie sie zur gleichen Zeit auch Grosz und Tucholsky formulierten. Ein jeder sollte nützlich sein! Brecht war damit einverstanden, „daß alles verändert wird / Die Welt und die Menschheit / vor allem die Unordnung / Der Menschenklassen, weil es zweierlei Menschen gibt / Ausbeutung und Unkenntnis“. Und seine Forderung gipfelte in der Provokation des beständigen Weiter-Denkens, des Weiter-Lernens, bis diese Klassenaufteilung der Menschen ein Ende hätte:
Habt ihr die Welt verbessert, so verbessert die verbesserte Welt.
Das war seine Vision, mit der er sich aus der realen Welt in die irreale hineinkatapultierte:
Vervollständigt die vervollständigte Welt!
Ihm erschienen die Verhältnisse niemals genügend und endgültig richtig verändert. Denn jede Vollständigkeit und Endgültigkeit erforderte für ihn ein neues Nachdenken. Und jedes Denken verändert aufs Neue die Welt.
So sitzen wir da, zwei erschöpfte Kaffeetrinker, die ihren Apfelstrudel essen, während Brecht inzwischen in unseren Köpfen hockt und agitiert. Berlin, am 30. Januar. Einer Spur folgen, heißt, die eigene Erkenntnissuche auch auf die nebensächlichen und unbedeutend erscheinenden Wege auszudehnen. Dazu gehört auch das Kellerrestaurant in der Chausseestraße 125. Es hat keine Fenster und ist mit alten Berliner Möbeln des Berliner Ensembles ausgestattet. An den Wänden die vielen Brecht-Fotos, Plakate und Bühnen-Modelle seiner Aufführungen. Fern von der Unruhe des Berliner Kulturbetriebs. Wenige Häuser von der Nr. 131 entfernt, in der bis zu seiner Ausbürgerung 1976 Wolf Biermann wohnte. „Der Riß zwischen den Protestierern und parteitreuen Schreibern sollte sich nie mehr schließen“, heißt es in der Autobiographie von Günter de Bruyn. Ein Riß, der schon in den dreißiger Jahren sichtbar wurde, als Brecht die Bühne in einen Diskussionsort umwandelte, wo jede Bühnenhandlung untersucht und definiert werden mußte. Denn er war „Einverstanden mit dem Vormarsch der proletarischen Massen / Aller Länder / Ja sagend zur Revolutionierung der Welt“, wie es in seinen Lehrstücken Der Jasager und Der Neinsager heißt.
Grundlage für die Veränderung der Welt war für Brecht „der Zweifel am Bestehenden, ein Zweifel, der vom Grundsätzlichen bis in die verästelten Details der Darstellung ging. Mit jeder Geste auf der Bühne wurden Gewohnheiten durchbrochen, eingeschliffene Klischees fragwürdig gemacht, gewöhnliche Dinge in ungewöhnlicher Beleuchtung gezeigt. Es war ein großes, kräftiges Aufräumen“, schreibt Marianne Kesting in ihrer Rowohlt-Bildmonografie von 1959. In ihren Augen war Brecht ein „Einsamer auf einer Insel, der das Bedürfnis hatte, eine ganze Welt zu seinen Mitarbeitern zu machen“. Ein Wunsch, den sich der Stückeschreiber Brecht weder damals noch später verwirklichen konnte, obwohl sein „kräftiges Aufräumen“ vieles zur Seite fegte, viele begeisterte Anhänger fand. Die Geschichte des Theaters ist keine Geschichte des heroischen Klassenkämpfers geworden, obwohl sich Armut und Unwissenheit der Welt nicht verringert haben. Brechts Verdienst ist, daß er die Theaterpraxis mit seiner gesellschaftskritischen Theorie neu analysiert und verändert hat und sich so zum konsequentesten Kritiker der Bourgeoisie entwickelte. Die Mehrheit der Menschen ist heute nicht mehr bereit, sich im Sinne Brechts erziehen zu lassen, weiter zu denken, weiter zu kämpfen und sich in irgendeiner Weise für die Allgemeinheit einzusetzen. Heute beklagen die Kritiker das allgemeine Desinteresse der deutschsprachigen Öffentlichkeit, ihre mangelnde Erregung, ihre Gleichgültigkeit. Um das „Berliner Theatertreffen“, eine stets heftig umstrittene und folglich höchst lebendige Kultureinrichtung der Stadt, ist es still geworden. Die erwartete Standortbestimmung mit verbindlichen Maßstäben ist ausgeblieben.
Heute, wo nicht einmal das Holocaust-Thema die Menschen anrührt, die vier Millionen Arbeitslosen gleichgültig lassen und die täglichen Börsenberichte aufregender erscheinen als die Toten in Tschetschenien, ist das Theater oder die Literatur, die Kunst schlechthin fast nur das eitle Spiel einer privilegierten Minderheit geworden. „Wie soll man da leben?“, fragte Benn. Man lebt. Nach Einstein ist die Imagination des Menschen wichtiger als sein Wissen. Auch wenn diese Imagination nicht die „Ausbeutung und Unkenntnis“ beseitigt, ist sie doch ungeheuer nützlich, um beides besser ertragen zu können. Also:
Es wird besser mit uns. Und ich frage nicht: Wann?!
Hier in Berlin, am 30. Januar, im Jahre 2000. Wir sind inzwischen wieder unterwegs und fahren die Invalidenstraße entlang, die Kastanienallee empor und weiter zur Schönhauser Allee und von dort nach Weißensee, um nach der Berliner Allee 185 zu suchen: Die frühere Klement-Gottwald-Allee, in der Bertolt Brecht nach dem Krieg seine erste Berliner Wohnung, das heißt sein „Neues Haus“ erhielt:
Zurückgekehrt nach fünfzehnjährigem Exil
Bin ich eingezogen in ein schönes Haus…
Immer noch liegt auf dem Schrank mit den Manuskripten
Mein Koffer.
Heute das Brecht-Haus-Weißensee, in dem ihn 1949 Max Frisch besuchte und zeitweise Anna Seghers ein Zimmer hatte. Am schönsten der Blick durch die hochgewachsenen Bäume zum See hinab. Und nicht zu vergessen: Wie die Sonnenstrahlen schräg in die leeren, braungestrichenen Räume fielen und die Bilder von Marwan berührten.
Was für ein Abenteuer, die Ideen aus dem Kopf auf die Bühne zu bringen! Auch wenn mir heute die existentiellen Emotionen wichtiger erscheinen als zum wiederholten Male der vorgespielte Klassenkampf. Und trotzdem: seine Gedichte sind mir lieber als die Theaterstücke. Der weise, listige, entkrampfte und sanftmütige Jargon seiner Lyrik näher, als das ritualisierte Rollenspiel marxistischer Weltbilder. Aber auch in seinen Gedichten „werden, sieht man von den ersten Jahren ab, in jedem Fall Lehren erteilt, Nutzanwendungen gezogen, Fragen aufgeworfen, die dann der Adressat beantworten mag“, schreibt Walter Jens im Nachwort der ausgewählten Brecht-Gedichte, die 1960 im Suhrkamp-Verlag erschienen. Für Brecht hatten große Gedichte den Wert von Dokumenten, auch wenn er sich in ihnen ein größeres Maß an „Freundlichkeiten“ zubilligte als in seinen Lehrstücken. Und trotzdem mußte für ihn Lyrik „zweifelsohne etwas sein, was man ohne weiteres auf den Gebrauchswert untersuchen muß.“ Auch wenn es darin nicht um die blutbefleckte Weltgeschichte, sondern nur um die kleinen Dinge des alltäglichen, privaten Lebens ging.
Berlin, die Werkstatt der Einheit. Die beiden wiedervereinigten Stadthälften erleben jetzt ihren Mischprozeß. Das „Planwerk Innenstadt“ beginnt zu funktionieren: Die „neue Generation Berlin“ zieht nach Mitte oder zum Prenzlauer Berg, und die dortige Szene wandert weiter nach Friedrichshain ab. Und die Kreuzberger bleiben, wo sie sind. Die Charlottenburger sowieso. Am Dienstag, den 25. Januar, fahren wir zur Lesung von Christoph Ransmayr in die Probebühne des Berliner Ensembles: Er sitzt auf einem mit weißem Stoff bezogenen Podest und liest aus seinem Buch Die letzte Welt. Der Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann, bringt persönlich die fehlenden Stühle herbei. Am Mittwoch, den 2. Februar sitze ich zum ersten Mal im prunkvollen Zuschauerraum des Theaters am Schiffbauerdamm und sehe Die Brecht-Akte von George Tabori. Was für ein Prunk-Theater! Unbegreiflich, das hier 1928 die Dreigroschenoper uraufgeführt wurde und sich die Zuschauer mit dem Bettlerelend von Brecht identifizierten! „Es war eine raffinierte Aufführung, kalt berechnet. Es war der genaueste Ausdruck dieses Berlin. Die Leute jubelten sich zu, das waren sie selbst und sie gefielen sich“, erinnerte sich Elias Canetti, der die Premiere gesehen hatte.
Die Wiederkehr der Metropole: Vermischungsprozesse. Auslöschungsprozesse. Die großstädtische Gesellschaft von Berlin ist keine „gute“ oder „wohlerzogene“, dafür aber eine sehr bewegliche, reflektierende und widerstandsfähige. Und wer schreibt, der beschreibt sowieso seine eigene Clique. Denn das Leben auf der Benutzeroberfläche ist schick, aber langweilig, Bühne und Szene. Das alles entdeckst du auch im neuen Buch von Rainald Goetz, das den Titel Dekonspiratione trägt: die Party am Wannsee, der Schweiß im Fitness-Center und drei Dichterlesungen, darunter Durs Grünbein. „Das alles wird notiert in einer Folge von Naheinstellungen, rasch und flach. Nur ja nicht auf Abstand gehen und dem raunenden Imperfekt des Erzählens verfallen“, registriert Reinhard Baumgart enttäuscht in der ZEIT. Was der Kritiker will, ist kein Erzählmaterial, sondern die Erzählung selbst. Was der Kritiker (noch immer) wünscht, ist die Geschichte, nicht die „Treue zum Sound“, nicht den „Tanz auf den Müllhalden“, sondern die gut erzählte Geschichte mit Anfang und Ende. Statt dessen:
Als wäre der Text eine Handkamera, als ließe sich der Abstand zwischen Sprache und Welt so bis zur Unkenntlichkeit verringern, daß der Satz schließlich die Sache selbst scheint.
Es ist die Nähe, die stört. Die zeitgerechte Anwesenheit des Autors, der zu nahe an den authentischen Dingen schreibt. Einer, der die notwendige Distanz zu sich selbst und der Welt besitzt, ist Wolfgang Hilbig, der am 26. Januar im Brecht-Haus in der Chausseestraße 125 aus seinem neuen Buch Das Provisorium liest. Ein Autoren-Ich aus Fleisch und Blut! Ein rüder und aggressiver Übertreiber seines Selbst, das er in seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen als C. bezeichnet. „Vermutlich der letzte große deutsche Dichter, im ursprünglichen Schillerschen Sinne“, triumphiert Helmut Böttiger in seiner Kritik, „denn er ist ein Naiver. Unangetastet vom Literaturbetrieb, abgeschottet von literarischen Diskussionen“, demonstriert er eine auf Distanz gebrachte, schonungslose Abrechnung mit sich selbst. Da ist es! Das große Erzählwerk, das Baumgart bei Goetz vermißte, die Ost-West-Geschichte als Uraufführung. „Wer diesen Roman liest, der begreift, wie naiv es war, von der Wiedervereinigung ein Ende der deutschen Teilung zu erwarten“, vermerkt Ursula März.
„Der Mensch lebt durch den Kopf“, hieß es bei Brecht. Aber eine solche erzählende Geschichte wie die von Hilbig ist eine Erinnerungsarbeit aller körperlichen Organe. Ein Erinnern ohne Masterplan. Ohne vorgegebene Kopf-Anweisungen. Das Ich ist keine Kunstfigur einer bevorzugten Ideologie, sondern ausschließlich mit sich allein beschäftigt. Hilbig ist kein kultureller Abgesandter irgendeines Staates: Er ist sein eigener Abgesandter! Und vor allem kein Theoretiker wie Brecht, der sich die Taschen mit Theorien vollstopfte. Und damit sind wir wieder bei der Goldstadt Mahagonny, der Erfindung von Berlin: Es ist Sonntag, der 30. Januar, und wir fahren als letztes zur ersten Wohnung von Brecht in die Eislebener Straße 13. Es ist kalt, und ein heftiger Schneesturm fegt über Deutschland hinweg. Das Haus ist ein braungestrichener, dreistöckiger Wohnblock, in dem er bis Ende 1921 wohnte. Ein dreiundzwanzigjähriger Lautenspieler, der aus Augsburg kam und die Balladen Villons liebte. Der sich 1925 mit dem Boxer Paul Samson-Körner und mit George Grosz anfreundete und vier Jahre später Helene Weigel heiratete. 1933 emigrierte er nach Dänemark, wo ihn mehrmals Walter Benjamin besuchte, und von dort nach Schweden. 1941 reiste Brecht mit seiner Familie über Moskau nach Wladiwostok, flog von dort weiter nach Kalifornien und erwarb in Santa Monica in der Nähe von Hollywood ein Haus. Hier traf er unter anderem mit Lion Feuchtwanger, Max Reinhard, Hanns Eisler, Heinrich Mann, Herbert Marcuse, Alfred Döblin und Charlie Chaplin zusammen, mit dem er befreundet war. 1947 kam es in Washington wegen „unamerikanischen Verhaltens“ zu dem FBI-Verhör, das jetzt Tabori als Theaterstück verarbeitete, um „aus Aktenpapier ein Denkmal zu errichten“. 1948 kam Bertolt Brecht über Prag nach Ost-Berlin zurück, seine Einreisegenehmigung nach Westdeutschland hatten ihm die Alliierten verweigert. So schließt sich ein biographischer Lebenskreis: „Ich habe meine Meinungen nicht, weil ich hier bin, sondern ich bin hier, weil ich meine Meinungen habe“, sagte er 1952. Inzwischen hatte Brecht die österreichische Staatsbürgerschaft erworben. 1954 bezog das Berliner Ensemble das Theater am Schiffbauerdamm. Und selbst „über seinen Tod hinaus blieb Brecht ein Skandalon“, schreibt Marianne Kesting:
Sein Werk, das bleiben wird, sitzt wie ein Stachel im Fleisch unserer Zeit.
Ein Ärgernis, das nach Berlin gehört.
Wenn der Berlin-Flaneur die Metropole für ein paar Stunden verlassen will, sollte er nach Buckow in die Fränkische Schweiz fahren. Eine Spur zu Brecht, die nach etwa eineinhalb Stunden Autofahrt vor einem Sommerhaus am Schermützelsee in der Bertolt-Brecht-Straße 29 endet, welches Bertolt Brecht und Helene Weigel Anfang 1952 für sich entdeckten. Eine grünbewachsene Villa, im Bootsschuppen daneben der Planwagen, mit dem die Weigel als „Mutter Courage“ über die Bühne zog. Dort im Garten sitzend, kannst du seine Buckower Elegien von 1953 lesen, während du über den See blickst und die Wildenten betrachtest.
Walter Aue, aus Walter Aue: Auf eigene Faust. Spurensuche in Berlin, Anabas Verlag, 2001
Erfahrungen mit Brecht. Therese Hörnigk im Gespräch mit Friedrich Dieckmann
Brecht – Die Kunst zu leben. Ein Fernsehporträt von Joachim Lang aus dem Jahre 2006
Hans Mayer: Gelegenheitsdichtung des jungen Brecht
Ernst Fischer: „Das Einfache, das schwer zu machen ist“
Günter Berg / Wolfgang Jeske: Bertolt Brecht. Der Lyriker
Albrecht Fabri: Notiz über Bertolt Brecht, Merkur, Heft 33, November 1950
Walter Jens: Protokoll über Brecht. Ein Nekrolog, Merkur, Heft 104, Oktober 1956
Günther Anders: Brecht-Porträt. Tagebuch-Aufzeichnungen Santa Monica 1942/43, Merkur Heft 115, September 1957
Martin Esslin: Bert Brecht Vernunft gegen Instinkt, Merkur, Heft 163, September 1961
Robert Minder: Die wiedergefundene Großmutter. Bert Brechts schwäbische Herkunft, Merkur, Heft 217, April 1966
Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (I), Merkur, Heft 254, Juni 1969
Hannah Arendt: Quod Licet Jovi… Reflexionen über den Dichter Bertolt Brecht und sein Verhältnis zur Politik (II), Merkur, Heft 255, Juli 1969
Sidney Hook, Hannah Arendt: Was dachte Brecht von Stalin. Nochmals zu Hannah Arendts Brecht-Aufsatz, Merkur, Heft 259, November 1969
Wilhelm Girnus: Nationalbewusstsein in Brechts Lyrik, Sinn und Form, Heft 5, 1964
Iring Fetscher: Brecht und der Kommunismus, Merkur, Heft 304, September 1973
Bernd-Peter Lange: Walter Benjamin und Bertolt Brecht am Schachbrett, Merkur, Heft 791, April 2015
Bertolt Brecht und weitere Sprecher: Lesungen und O-Töne 1928–1956 in Washington und Berlin. Sammlung Suhrkamp Verlag: Tonkassette 116
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Bertolt Brecht
REQUIEM NACH B.
ich kam aus den wäldern & gras
wächst mir statt haaren auf der
brust denn alles fleisch es ist
wie gras & wie das gras ist mir
verdorrt die freundlichkeit der
kreatur die keine wurzeln
schlägt in einem trocknen herz
& ich verschlangs wie dörr
obst einst als kind statt süssem
menschenfleisch wie heut da
in die städte ich ging mit
nichts als einem schwarzen
himmel über mir dem ich wie dir
das blau aus seinen augen stahl
damit du siehst woher ich kam
Albert Ostermaier
NACHSICHT
da ist einer dem könnt
ihr nicht trauen er traut
es euch zu ihm zu wider
sprechen und verwischt
seine spuren dabei die er
in euch liess er hat euch
verlassen sich auf euch
zu verlassen darauf dass
ihr seine ratschläge in den
wind schlagt zu seinem
und eurem besten wo das
herz sich überschlägt wie
eine schiffsschaukel den
himmel zu boden zu ringen
da liegt sein alter gott nach
einem leberhaken angezählt
während er verschwindet
unter den ascheflügeln
der engel in die hauseingänge
ein schatten seiner selbst brennt
er mit seiner zigarre löcher in
die sogenannte wirklichkeit
und macht aus der geschichte
ein geschlecht er legt sich
nicht fest er liegt und lügt
gibt dir den rest seiner liebe
die allen gehört wie er keinem
und keuner ein herr die herrschaft
zu beenden zitiert er die klassiker
als wäre er immer schon einer
von ihnen gewesen wartet er
von seinem sockel gestossen
zu werden damit wir die scherben
wieder zusammenkleben mit
dem gold seiner sätze denn
was ist alle schönheit wert
ohne fehler
Albert Ostermaier
Wolfgang Greisenegger: Von Wahrheit und Widerspruch
Die Furche, 12.2.1998
Nils Schniederjann: Das umkämpfte Erbe des kommunistischen Dramatikers
Deutschlandfunk Kultur, 10.2.2023
Karin Beck-Loibl: Genie und Polyamorie
zdf.de, 10.2.2023
Hubert Spiegel: Briefmarke zum 125. Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.2023
Christopher Beschnitt im Gespräch mit Jürgen Hillesheim: „Über die Political Correctness würde Brecht die Nase rümpfen“
Cicero, 10.2.2023
Ronald Pohl: Mit Bertolt Brecht die Kunst des Zweifelns erlernen
Der Standart, 10.2.2023
Theater und mehr: Zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht
ardmediathek.de
Jan Kuhlbrodt: Eine Intervention
signaturen-magazin.de
Otto A. Böhmer: Die gewissen Möglichkeiten
faustkultur.de, 10.2.2023
Brechtfestival Augsburg vom 10.–19.2.2023
Bertolt Brecht: Lob des Lernens gesungen von Nina Hagen 2016 in Potsdam.
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