EINER LIEGT IN AGONIE
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Es lebe die Null,
und es lebe auch er,
der das Leben von Null auf beginnt…
sein Gähnen am Morgen, sein Ächzen am Abend,
so absolut nullig – er lebe hoch…
Es lebe die Null,
die so voll ist und schön.
Vor eine krumme Fünf gestellt,
verliert sie gleich ihre Vieldeutigkeit
und verwandelt sich in einen Fünfzigjährigen.
Fragt man unter georgischen Lyrikern, insbesondere denen, die der „Wendegeneration“ angehören – die also ihre literarisch prägenden Jahre mit dem Untergang des Sowjetreiches (1991) verbinden – nach einem Vorbild, einem bestimmenden Einfluss, dann fällt zwangsläufig und zuerst ein Name – Besik Kharanauli. Die in Deutschland lebende Lyrikerin Bela Chekurishvili sagt über ihn:
Er ist seit der Wende bis zum heutigen Tag eine Ikone für die georgischen Leser und Leserinnen. In den sozialen Medien werden auf den georgischen Seiten die Gedichte von Besik Kharanauli sehr oft gepostet und zitiert. Der Autor wird immer nur mit dem Vornamen „Besik“ erwähnt, und für jeden ist klar, um wen es geht. Er ist in Georgien sehr populär, weil seine Dichtung nicht hermetisch ist, und sie berührt jeden.
Eine ähnliche Erfahrung machte auch Timothy Kercher, ein amerikanischer Lyriker, der von 2006 bis 2010 in Tbilisi lebte:
Wenn ich Dichter wie Zviad Ratiani, Maia Sarishvili und Shota Iatashvili fragte, wen man in eine Anthologie georgischer Gegenwartslyrik aufnehmen müsste, dann wurde sein Name immer erwähnt. In Georgien hält man ihn für den vielleicht größten lebenden Dichter. Man sagte mir, wenn überhaupt irgendjemand aus Georgien es verdiene, für den Literatur-Nobelpreis in Betracht zu kommen, dann sei es Besik, und in der Tat wurde er von Georgien für diese Ehrung nominiert. Wenn ich fragte, welche Gedichte ich von ihm übersetzen sollte, wurde ich immer auf Die behinderte Puppe verwiesen.
Die behinderte Puppe, von Kercher unter dem Titel The Lame Doll ins Englische übersetzt, ist ein 1972 im Verlagshaus Merani veröffentlichtes Langgedicht, es war Kharanaulis zweite Publikation.
46 Jahre später sitze ich mit dem nun bald achtzigjährigen Dichter in einer Küche in Berlin-Moabit, und wie er mir die Geschichte dieser Veröffentlichung erzählt, erweckt es den Eindruck, er könne noch immer nicht recht glauben, dass der Streich tatsächlich glückte, den er der Zensurbehörde mit diesem, alle geltenden Tabus brechenden Werk spielte. Er vermittelte nämlich den Anschein, es handele sich um einen bloßen Nachdruck seines 1968 erschienenen, wenig beachteten ersten Gedichtbands.
Sogar auf dem Umschlag stand lediglich „Gedichte“, nicht einmal der Name des Verfassers tauchte dort auf. Der zuständige Zensor schaute dann gar nicht erst genauer hin, das Buch konnte gedruckt werden – ein echtes Husarenstück und eine überaus notwendige Camouflage. Denn Die behinderte Puppe verstieß sowohl formal als auch in ihren Inhalten gegen alle Postulate der sowjetischen Literaturdoktrin. Georgische Gedichte hatten konventionell gereimt zu sein, sie sollten ein möglichst heroisches Thema wie das Vaterland, den Krieg oder die Großtaten des Sozialismus besingen und in jedem Falle dem Leitbild vom tüchtigen, optimistischen Werktätigen entsprechen.
Dieses Gedicht war jedoch völlig anders. Es ist ein einziger Klagegesang auf die conditio humana unter den konkreten Bedingungen des real existierenden Sozialismus in einer kaukasischen Sowjetrepublik. Es beginnt mit der ironischen Schilderung, wie ein Mann mittleren Alters morgens kaum aus dem Bett kommt, weil er in den auf ihn wartenden täglichen Verrichtungen keinen Sinn sieht, und es endet mit dem regressiven Wunsch nach einer Rückkehr in den Mutterschoß. Es erinnert damit an die Stimmungen, die der österreichische Dichter Ernst Jandl in seiner Sprechoper Aus der Fremde wenige Jahre später ebenso radikal zu Papier brachte. Mit einem einzigen scharfen Axthieb fällte Besik Kharanauli den morschen Baum eines zwanghaft gewordenen Traditionalismus. Das in 18 Kapitel eingeteilte Langgedicht kümmert sich nicht um die überlieferten metrischen Systeme, es ist durchgehend in freien Versen verfasst, die keinem anderen Gesetz als der Eingebung des Dichters und seinem Wunsch nach Ausdruck gehorchen. Die georgische Literaturwissenschaftlerin Lali Avaliani fasst es so:
Es ist schwer, sich einen weniger nonkonformistischen Dichter vorzustellen, als Besik Kharanauli einer ist. Er ist seiner „Methode“ seit nahezu einem halben Jahrhundert treu. Er schreibt, wie sein Herz es ihm eingibt.
Für die Lyrik der nachfolgenden Generationen eine bahnbrechende und befreiende, vielfach nachgeahmte Leistung, wie die Übersetzerin Nana Tchigladze, die für das vorliegende Buch die der Nachdichtung zugrunde liegenden Interlinearversionen schuf, hervorhebt:
Das Auftreten von Besik Kharanauli änderte die Lage in der georgischen Dichtung vollkommen und entfaltete die unabsehbar wachsenden Perspektiven des georgischen vers libre. Er bestätigte selbst am besten die Vitalität dieser damals neuen Richtung. Mit seiner Individualität schuf er eine neue künstlerische Realität.
Timothy Kercher schreibt in seiner Einschätzung von Besiks literarhistorischer Bedeutung:
Man könnte sagen, Besik Kharanauli sei der Walt Whitman seines Landes – der Meister des freien Verses, ein nonkonformistischer Dichter, auf dessen Schultern die moderne georgische Dichtung ruht, aber das würde die Sache zu einfach machen. Kharanauli ist größer als Walt Whitman. Er ist Georgiens Ezra Pound und T.S. Eliot, und in seinem späteren Werk ist er sogar Georgiens Gabriel García Márquez.
Nun geht es freilich nicht um Superlative, und ein Vergleich macht erst Sinn, wenn man genauer hinschaut. Und in der Tat lassen sich die Gedichte Besiks im Lichte dessen lesen, was T.S. Eliot in dem 1917 publizierten Essay „Reflections on vers libre“ schreibt, der die Grenze zwischen konventionellen und freien Versen relativiert und mit dem markanten Diktum endet:
There is only good verse, bad verse, and chaos.
Die Befreiung vom Reim lässt sich durchaus auch als Befreiung des Reims verstehen. Frei von seiner dienenden Aufgabe, schwachen Versen aufzuhelfen, kann man ihn mit größerem Effekt einsetzen, wo er wirklich benötigt wird. Denn oftmals gibt es in reimlosen Gedichten Passagen, wo man den Reim für besondere Effekte braucht, für eine plötzliche Verdichtung, für eine kumulative Steigerung, für einen plötzlichen Wechsel der Stimmung.
Genau in diesem Sinne macht sich auch Besik Kharanauli den Reim gezielt und unsystematisch zunutze; und rhythmisch rasant, mit dem Ohr geschrieben, sind seine Verse ohnehin. Wie es sich für einen wirklichen Erneuerer gehört, ist er natürlich ein hervorragender Kenner der georgischen Dichtungstradition, die ja bereits mit einem Langgedicht einsetzt, dem Recken im Tigerfell (bzw. Pantherfell) von Shota Rustaweli, und über Jahrhunderte waren Versepen die Träger der georgischen Überlieferung. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die innovative Leistung des Dichters ermessen, der ehrwürdigen, in Deutschland weitaus weniger verbreiteten Form des Langgedichts eine ganz neue, authentische Welthaltigkeit zu geben und sie als Sangesweise einer neuen Zeit zu etablieren. Der Dichter, den er am meisten liebt, ist Nikolos Barataschwili (1817–1844), der als größter Dichter der Romantik in Georgien gilt und mit 27 Jahren verstarb. An ihm berühren ihn die tiefen Gedanken, die er mit denen Hölderlins vergleicht, an ihm rühmt er zugleich die formale Kühnheit, das über Jahrhunderte als regelhaft geltende sechzehnsilbige Versmaß der georgischen Lyrik um eine ganze Silbe zu verkürzen. Jede neue Form, so sagt Besik, schließt zugleich eine neue Denkweise auf.
Und mitunter ist es die plötzliche Transposition längst bestehender Formen in einen neuen Kontext, die eine solche schubhafte Erneuerung leistet. Reimlose Verse waren in der georgischen kirchlichen Hymnik und ganz besonders in der Volkspoesie verbreitet, ehe Besik mit diesen Mitteln die Hochliteratur seines Volkes revolutionierte. Seine Verwurzelung in der Volksdichtung reicht bis tief in die Kindheit zurück, und es ist berührend, den alt gewordenen Dichter von diesen Anfängen berichten zu hören:
Als Kind musste ich meine Oma zu Trauerfeiern begleiten, bei denen Klagelieder angestimmt wurden, eine Form der georgischen Volksdichtung, das hat mich beeinflusst. Ich war 14, als eine Zeitung in Tbilisi meine zwei ersten Gedichte druckte. Beide waren ohne Reim. Die Klagedichtung ist nicht gereimt, hat aber einen bestimmten Rhythmus und eine bestimmte Form. Später konnte meine Oma sich nicht mehr bewegen, aber sie hörte Rundfunk, und wenn ich nach Hause kam, erzählte sie mir, was sie gehört hatte, ob es traurig war oder nicht. Und dann habe ich begriffen: Einen Menschen traurig zu machen, ist wichtig, um ihn wach zu machen. Das Herz muss sterben, um wieder aufwachen zu können.
Besik Kharanauli kam 1939 in Tianeti, einer kleinen Stadt nordöstlich von Tbilisi, in der Region Pschawi zur Welt. Über seine Heimatstadt sagt er heute:
In Tianeti passierte damals nichts und heute auch nichts. Und es wird vielleicht auch in Zukunft nichts passieren.
Das ist für den Dichter keineswegs ein Mangel, sondern eine wunderbare Beruhigung: Die Kindheit ist der große Sesam, in ihr bleibt alles, wie es immer war, und nur der Dichter kann mit seinen Zauberworten diesen Sesam öffnen. In allen Dichtungen des Autors tauchen die Erinnerungen an seine Kindheit in der ländlichen Umgebung auf, sie sind gleichsam das leuchtende Gegenbild zu allen Bedrückungen und Wechselfällen des Lebens, denen der manchmal „Ale“ oder „Alexandre“ genannte Protagonist der Gedichte begegnet. Später ging Besik natürlich nach Tbilisi, studierte Philologie und arbeitete als Redakteur für diverse Zeitschriften und Verlage. Aber bis heute ist Tianeti einer seiner beiden Lebensorte, dorthin kann er sich mit seiner Frau aus Tbilisi zurückziehen, dort findet er die Bilder, die er braucht, um seine Poesie immer wieder zu erwecken.
Das vorliegende Buch umfasst fünf Langgedichte von Besik Kharanauli, entstanden zwischen 1972 und 1991, beginnend mit der legendären „Behinderten Puppe“ und endend mit dem Zyklus „Einer liegt in Agonie“, dessen Titel allein schon einen denkwürdigen Kommentar zum Ende der sowjetischen Herrschaft darstellt. Sie zeigen, wie dieser Dichter in der langen letzten Phase des Systems, unter dem er aufwuchs, dachte, wahrnahm und fühlte, und welche Klangschöpfungen er einem eingeengten Leben abtrotzen konnte. Er hat seither weitergeschrieben, es sind sogenannte „metapoetische“, die Genres Lyrik und Prosa mischende Texte entstanden, auch zwei Romane, die wohl für seine Einschätzung als der Marquez seines Landes maßgeblich sind – man kann nur hoffen, dass auch sie einmal auf Deutsch erscheinen können. Zuletzt erschien 2015 der Band: Wie die Krähe den Abend im Baumwipfel zubringt im Verlagshaus Intelekti. Manche seiner Gedichte sind in Georgien auf eine Weise populär, wie man es sich für zeitgenössische Gedichte im deutschen Sprachraum nur erträumen kann. Bela Chekurishvili berichtet aus ihren Lektüreerfahrungen:
Das erste Gedicht von ihm habe ich in der Schulzeit gelesen, in den Achtzigern, in einer Anthologie georgischer Liebesgedichte. Dieses Poem war eine ungewöhnliche Liebeserklärung, und fast jedes Mädchen hatte es damals in sein Tagebuch geschrieben. Und später war sein Langgedicht „Die Kartoffelernte“ für meine Generation etwas Besonderes, eine Familiengeschichte, in der ein junger Mann gar nicht hilfsbereit oder ein Mutterkind war, wie es so oft in der georgischen Dichtung thematisiert wurde, vielmehr geht es um die Beziehungen zwischen den Generationen mit all ihren Konflikten. Merkwürdigerweise war es relativ unpoetisch, aber sehr menschlich, und es erregte in uns große Leidenschaft. Nachdem meine Kommilitonen und ich den „Angelina“-Zyklus gelesen hatten, gingen wir durch die Korridore der Universität in Tbilisi und begrüßten einander mit den Worten: „Sprich mir vor, Angelina“. Es war für jeden sehr peinlich, wenn man auf irgendeiner Party oder einem Ausflug sagte, dass man von „Angelina“ nichts wusste oder aus diesem Langgedicht nichts zitieren konnte.
Ja, so müsste es überall zugehen in der Welt. Besik Kharanauli, ein wunderbarer Dichter, wie es immer nur wenige auf der Erde gibt, sollte auch in Deutschland Leserinnen und Leser finden, die seine Verse im Herzen immer bei sich tragen, denn dort kommen sie auch her.
Norbert Hummelt, Berlin, 30. Juli 2018, Nachwort
gilt als der Nestor der georgischen Lyrik, der tief aus der lyrischen Tradition schöpft, Aufgrund seines Schreibens im freien Vers wurde er mit Walt Whitman und Ezra Pound verglichen. 2015 war er für den Literaturnobelpreis nominiert. Die ausgewählten Poeme erzählen fragmentarisch ein Dichterleben, eingefangen in der Beengtheit von Zeit und Raum und allgegenwärtigen Geboten und Verboten. Der Blick geht zurück in eine unschuldige wie aufsässige Jugend, die ersten sexuellen Erfahrungen, die Suche nach dem eigenen Platz zwischen Dorf und großer Stadt, den Banalitäten des Alltags und der großen Bühne. Die Natur durchbricht wie eine bläkende Kuh die stille Reflexion, der Tod durchschreitet als skurriler Geselle die Szenerie und jeder Ruhm zerfällt zu Staub. In Kharanaulis Dichtung treffen Detailbesessenheit und das Denken in Jahrhundertschritten, subtile Erotik und derber Spott zusammen und machen die Lektüre zu einem lang nachhallenden Erlebnis.
J & D Daĝyeli Verlag, Ankündigung
Paul-Henri Campbell zu Besik Kharanaulis Gedicht aus: „Die behinderte Puppe XVIII“ aus Besik Kharanauli: Sprich mir vor, Angelina!
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