– Zu Günter Eichs Gedicht „Briefstelle“ aus Günter Eich: Ein Lesebuch. –
GÜNTER EICH
Briefstelle
Keins von den Büchern werde ich lesen.
Ich erinnere mich
an die strohumflochtenen Stämme,
an die ungebrannten Ziegel in den Regalen.
Der Schmerz bleibt und die Bilder gehen.
Mein Alter will ich in der grünen Dämmerung
des Weins verbringen,
ohne Gespräch. Die Zinnteller knistern.
Beug dich über den Tisch! Im Schatten
vergilbt die Karte von Portugal.
Er entzieht sich – ist es verwunderlich? Er entzieht sich den gewohnten Vorstellungen, den üblichen Erwartungen, der landläufigen Meinung. Den abgedroschenen Sprüchen: „Wenn du erst einmal Zeit hast“ – „Wenn du das endlich alles hinter dir hast“ – „Wenn du erst frei bist von all den Verpflichtungen“ – „Heb dir das auf für dein Alter“. Dem entzieht er sich. Schriftlich. Brieflich macht er es kund den Gutmeinenden, den Besserwissenden.
Ein Mann des Wortes, des geschriebenen Wortes, ein Mann, der nicht nur mit Büchern, der von Büchern lebte, viele Jahre lang. „Keins von den Büchern werde ich lesen“ – das ist die eindeutige Antwort auf alles, was man ein Leben lang vor sich herschiebt, hinein in das dunkle unbekannte Später irgendwo am Ende der langen Betriebsamkeit. Dem entzieht er sich. Ist das verwunderlich? Nicht bei einem Mann wie Günter Eich, der kein Mann der Menge war. Höchstens die Schroffheit – doch ist sie wirklich verwunderlich? Eigentlich auch nicht. Man muß schroff sein, wenn man sich der Menge widersetzt. Weil man sich damit ja auch immer einem Teil seiner selbst widersetzt. Jeder ist für seine Träume verantwortlich, und nicht immer weichen sie ab von den Träumen anderer. „Im Schatten / vergilbt die Karte von Portugal“ – jeder besitzt so eine Karte seines Traumlandes.
Also keine Bücher. Keine Reisen. Auch keine Gespräche. Was dann? Wenn nichts die „grüne Dämmerung des Weins“ stört, hört man „die Zinnteller knistern“. „Strohumflochtene Stämme“, „ungebrannte Ziegel“, Teller aus Zinn – die Gegenstände, für sich genommen, lassen eine Idylle ahnen, ein ländliches Refugium, vielleicht im Süden. Aber wir dürfen sie nicht für sich nehmen. „Ich erinnere mich“, heißt es, und die Erinnerung betrifft die geliebten Gegenstände, aber „die Bilder gehen“.
Ist das ein Altersgedicht? „Briefstelle“ ist erstmals 1955 in der Gedichtsammlung Botschaften des Regens veröffentlicht worden. Günter Eich war damals siebenundvierzig Jahre alt. Also kein Altersgedicht? Genaugenommen: nein. Es enthält zum größten Teil Zukunftsaussagen. Geschrieben in einer Zeit, die dem Alter vorausgeht, die es ahnen, mitunter auch schon spüren läßt, in der man sich Gedanken macht: wie wird es sein? Die Vorstellungen, die Günter Eich hier notiert, sind präzis, von einer bestechenden Präzision. Das Stadium der Träume hat er schon hinter sich, wir haben es gelesen: die Karte von Portugal vergilbt bereits.
Es ist diese Genauigkeit der Imagination, die mir das Gedicht wert macht. Mich besticht die Unaufwendigkeit, die Einfachheit, die unsentimentale Bereitschaft zum Verzicht in der Lebensweise, die Günter Eich mit den wenigen Worten so deutlich zu machen versteht. Alter ist Kargheit. Reduktion. Aber – und das scheint mir unüberhörbar – Reduktion, die Konzentration bedeutet, Konzentration auf das Wesentliche. „Beug dich über den Tisch!“ – man muß näher ran an die Dinge, die Perspektive verengt sich, aber das einzelne wird deutlicher wahrgenommen. Der Schatten zwingt zum genaueren Hinsehen, die Ruhe läßt schärfer hören, sogar das Knistern der Zinnteller. Der Wein hilft dabei, die grüne Dämmerung schirmt ab nach außen. Aber drinnen ist keine Idylle. In der Mitte des Gedichts die zentrale Aussage:
Der Schmerz bleibt.
Das ist es, was sich nicht ändert. Woran kein Wunsch, kein Plan (wie verbringe ich mein Alter?), kein Vorhaben etwas ändern. Bücher, Gespräche, Reisen, Menschen, der ganze Betrieb, die gehaßten Zwänge, die erträumten Bilder, die geliebten Gegenstände – das alles kann ich hinter mir lassen, wenn nur mein Willen stark genug ist – „der Schmerz bleibt“.
Man kann ihn nicht abstellen. Aber man kann ihn einfangen in die Dämmerung, in der Stille kann man ihn leben, konzentriert auf das Wissen, daß es ihn gibt, solange das Alter dauert, so wie es ihn immer gegeben hat, seit das Leben begann.
Christa Melchinger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990
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