– Zu Jan Wagners Gedicht „15 (das haus des letzten henkers steht noch heute)“ aus Jan Wagner: Guerickes Sperling. –
JAN WAGNER
15
das haus des letzten henkers steht noch heute,
ein schwarzer schlund im tag und auf der lauer.
Die woge moos brach an der friedhofsmauer,
ein falke senkte sich auf seine beute.
ein brocken kohle und ein diamant:
kein spiegel konnte uns gemeinsam fassen.
die feuchte krötenhaut der kopfsteingassen,
es wanderte dahin, selbst wenn man stand.
der kirchturm, der sein glockenläuten trug
als zöge es nicht abwärts das gewicht.
die frühen vögel schwangen sich ins licht,
der herbst, der anbrach, und das herz, es schlug
in jener knappen, bar bezahlten bleibe
das sanfte beil des morgens an die scheibe.
I.
Ein Statement gibt man nicht ohne Anlass ab. Und so mag man zwar einen ironischen Ton heraushören, wenn Jan Wagner den Text+Kritik-Band zu seinem Werk mit einer ausdrücklich „Statement“ betitelten poetologischen Stellungnahme eröffnet, als wäre er ein Politiker. Aber ernst zu nehmen ist dieser Text dennoch, und stärker noch, er ist insofern sogar bezeichnend für Wagner, als er darin sowohl das eigene Programm bündig auf den Begriff bringt als auch auf die Rezeption dieses Programms reagiert. Im Zentrum des kaum mehr als eine Druckseite umfassenden Textes steht die Frage nach dem Verhältnis von Tradition und Innovation. Als „poetische Grundtugenden“ des Gedichts bezeichnet Wagner dabei prinzipiell „Überraschung und Regelbruch“, mithin die „Spannung zwischen der Form, die ein Gedicht immer ist, und dem Spielerischen.“1 Im Sinne dieses Spannungsverhältnisses haben, so führt der hier als generischer Literaturpolitiker in eigener Sache agierende Autor weiter aus, alle traditionellen Formen ihren Reiz, weil er sie nicht als „Beschränkung“ wahrnimmt:
Für mich wäre es im Gegenteil ein Verlust von Freiheit, diese Formen nicht dort zu verwenden, wo sie sich aufdrängen, weil ihre Eigenheiten dem Gedicht zugute kommen. Form kann so zu einem Korsett werden, in dem es sich besonders gut atmen lässt – wenn man sie nicht als Verpflichtung begreift, sondern als Prozess, der die bildliche und gedankliche Entwicklung des Gedichts in vollkommen unerwartete Bahnen lenkt.2
An einer Stelle also, die sich für die zukünftige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk vermutlich als prominent erweisen wird, gibt Wagner ein Bekenntnis zur poetischen Tradition ab. Bekräftigt ist damit einerseits ein Grundgedanke, den Wagner von seinen Anfängen als Autor an in verschiedenen Varianten immer wieder formuliert hat. Beispielsweise heißt es schon im Jahr 2001 in einem poetologischen Zehn-Punkte-Programm, platziert in der randständigen Literaturzeitschrift intendenzen:
Fortschritt ist das, was man aus dem Rückgriff macht.3
Und andererseits (bzw. damit zusammenhängend) reagiert er dergestalt auf einen, wenn nicht den zentralen Vorwurf der Literaturkritik, der sich ebenfalls schon mit seinen ersten Veröffentlichungen etablierte und seither zu „den Standards der Wagner-Kritik gehörte“:4 den Vorwurf nämlich, er sei ein traditionsgläubiger und irgendwie biedermeierlicher Recycler alter Formen. Sicher, besonders laut bis schrill erklang diese Inkriminierung anlässlich der Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse, aus literaturstrategischen und vermutlich hier und dort auch aus persönlichen Gründen.5 Aber, wie angedeutet, grundsätzlich muss Wagner seit seinem Debütbuch Probebohrung im Himmel (2001) mit diesem Ruf leben. Und mit Michael Braun ließe sich ergänzen, dass die Lobpreisung seiner „Schmeichler“ kaum besser als die Verurteilung durch die „boshaften Kritiker“ geraten ist:
Man interpretiert ihn als formbewussten Naturidylliker, der die ganze Flora und Fauna durchbuchstabiert, vom Weidenkätzchen bis zur Würgefeige, vom Olm bis zum Otter.6 der Herbstregen „in wendischrietz“7 fällt als Ghasele nieder, und „ein japanischer ofen im norden“8 wird mittels eines Haiku-Zyklus beschrieben. Zudem finden sich freie Verse (z.B. um „coney island“9 dichterisch zu besuchen) und ungereimte Strophen (um ein „allegro molto“10 anzustimmen) ebenso wie „unspektakuläre“11 fünfhebige Jamben (im Titelgedicht) oder ,spektakuläre‘ Hexameter (um sich über den Strand des dänischen „stammershalle“ zu bewegen). Dass und wie all diese Formen von Wagner aufgegriffen und dabei jeweils durch Abweichungen im Detail überraschen, wie die Gedichte also jeweils ,im Korsett atmen‘, kann hier nicht im Einzelnen gezeigt werden. Stellvertretend hingewiesen sei nur auf den metrischen Umschwung am Ende von „guerickes sperling“, der unscheinbar und zugleich effektvoll ist: In seinen letzten zwei Versen wechselt dieses Gedicht über den (im lyrischen Augenblick noch zukünftigen) Tod der Metaphysik vom Jambus in den Trochäus, um die Pointe zu beschweren:
„dieser tote sperling“, flüstert einer
„wird noch durch einen leeren himmel fliegen.“12
Zum anderen aber Wagner setzt sein Programm nicht nur einfach fort, sondern er forciert es gegenüber dem Erstling sogar noch erheblich, als wollte er die didaktisch-sanktionierenden Hinweise der Literaturkritik offensiv zurückweisen – indem er sich auf das lyrische Sub-Genre ,Sonett‘ bezieht. Anders als beispielsweise die Sestine oder Ghasele, die wohl nur intimen Kennern der Formentradition vertraut sind, gleichsam Genres für die happy few, ist das Sonett bei aller Kunstfertigkeit leicht zu identifizieren und von großer Popularität. Dieses Zugleich von produktionsästhetischer Herausforderung und rezeptionsästhetischer Triftigkeit macht das Sonett zum prädestinierten Ort für die Demonstration von handwerklicher Meisterschaft.
Freilich kann in diesem Zusammenhang die Geschichte des Sonetts nicht rekapituliert werden, zumal es die einzige Gedichtform ist, die in der deutschen Lyrik seit der Frühen Neuzeit fast ununterbrochen hohe Konjunktur hatte. Wenigstens stichwortartig sei jedoch in Erinnerung gerufen, dass ein erster, etwa ein halbes Jahrhundert währender Entwicklungsschub deutschsprachiger Sonett-Kunst mit bzw. nach Hofmannswaldau ausgelaufen war, bevor Gottfried August Bürger mit seiner Gedichtsammlung von 1789 die erneute Etablierung der Sonettdichtung gelang, ja er ließ diese Form „aus der Herkunft Petrarcas wieder zum Ereignis deutscher Literatur werden.“13 Bürger betrachtete sich dabei selbst als ein Petrarca redivivus, wie ein Brief aus dem Januar 1789 belegt:
Ihr werdet glauben, der selige Petrarca sei von den Toten auferstanden, wenn ihr mein hohes Lied und – und – meine Sonette nur von fern werdet tönen hören; denn ihr sollt wissen, dass ich fast Tag für Tag ein Sonett produziere. Eine sonderbare Wut, die auch Schlegeln angesteckt.14
Schlegel war bereits ,infiziert‘ und versuchte in der Folge engagiert, dem Sonett „mehr Größe zu verleihen“,15 so etwa durch eine schulbildende Vorlesung, die er im Wintersemester 1803/04 in Berlin hielt.
Überhaupt reüssierte das Sonett in der sich ausbildenden frühromantischen Poetik wie Philosophie zum zentralen „Verständigungstext“, insofern es „zu programmatischen und integrativen Zwecken einer als zusammengehörig empfundenen Gruppe von Wissenschaftlern und Künstlern gebraucht wurde“.16 Und angesichts der Spielregeln im literarischen Feld war es nur folgerichtig, dass diese Gruppen- oder Schulbildung eine massive Kritik von Seiten konkurrierender Gruppen provozierte. Namentlich Johann Heinrich Voß agierte gegen die frühromantischen Sonett-Apologeten, u.a. durch die Sonettparodie „Klingsonate“, eines der frühesten Lautgedichte übrigens, auf diesen Angriff von Voß reagierten dann Görres und Arnim, die wiederum anschließend erneut attackiert wurden, durch Jens Baggesen und seinen Der Karfunkel oder Klingklingel-Almanach. Ein Taschenbuch für vollendete Romantiker und angehende Mystiker usf.
Der Streit lief dann langsam aus, aber das Sonett hatte seine Stellung als poetologischer „Verständigungstext“ erlangt, einen Rang, der in der Folge immer wieder aktualisiert wurde, bis Robert Gernhardt mit seinen „Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs“ (1981) eine literarhistorische Summe zog – natürlich ohne dass die Produktion von Sonetten danach eingestellt worden wäre (auch diejenige von Gernhardt selbst nicht). Ja, in der Gegenwart lässt sich vielmehr eine markante Hausse des Sonetts feststellen, beispielhaft angeführt sei nur Ann Cotten, die kurz nach der Veröffentlichung von Guerickes Sperling einen Fremdwörterbuchsonette betitelten Band mit Doppelsonetten vorgelegt hat (2007).
Vielleicht kein lyrisches Sub-Genre ist also literaturgeschichtlich voraussetzungsreicher bzw. weniger ,unschuldig‘ als das Sonett. Entsprechend kann es nicht verwundern, dass Wagner diese Form schon in Probebohrung im Himmel aufgriff und seine Arbeit daran in Guerickes Sperling weiterführte. Aber Wiederholung wäre (inszenierungspraxeologisch gesprochen) kein starker Gestus und wäre (produktionsästhetisch gesagt) keine Herausforderung.
Und so widmet sich Wagner eben der Steigerungsform des Sonetts, dem Sonettenkranz.
II.
Der Sonettenkranz ist ein historisch vergleichbar junges, im Italien des 18. Jahrhunderts erstmals nachweisbares Phänomen, von wo es als generische Mode im folgenden Jahrhundert nach Deutschland überführt wird. In seiner ,klassischen‘ Form bindet diese hochartistische Form aus 15 Sonetten gleichsam zwei Kränze: Der erste Kranz setzt sich aus den Sonetten 1–14 zusammen, indem vom zweiten bis zum vierzehnten Sonett der Auftaktvers jeweils den Schlussvers des vorherigen Sonetts aufnimmt, derweilen der Auftakt des ersten Sonetts dem letzten Vers des vierzehnten Sonetts entspricht – oder vice versa, denn bei einer solchen vollkommenen Kreisstruktur ist ja Anfang und Ende letztlich nicht zu identifizieren. Das fünfzehnte Sonett oder ,Meistersonett‘ (ital. ,Magistrale‘) bildet dann insofern einen zweiten Kranz, als es aus allen vierzehn Schlussversen des ersten Kranzes geflochten ist.
Bezeichnend für Wagners Aktualisierung dieser sehr strengen Form ist nun zweierlei: erstens grundsätzlich, dass er sie überhaupt aufgreift, und zweitens, wie dieser Rückgriff auf den Formenkanon sich konzeptionell präsentiert. Dass dieses gleichermaßen poetische wie poetologische ,Statement‘ resonanztaktisch geschickt war, lässt sich den Rezensionen ablesen: Kein Kritiker kam um eine Auseinandersetzung herum bzw. darum, ein Werturteil abzugeben. Wenn man so will, zieht Wagner mit seinem Kranz also die literaturkritischen Kampflinien bewusst nach, die sich mit dem Debüt schon abgezeichnet hatten. Um für beide Haltungen nur jeweils eine Stimme erklingen zu lassen: So lobt Jürgen Egyptien für literaturkritik.de die „äußerst kunstvolle Gestalt“ der Sonettenfolge, und ihre „dichte Webstruktur“ entspreche ihrer „atmosphärischen Dichten“.17 Richard Kämmerlings hingegen warnt in der FAZ vor einer „im Leerlauf surrenden Ästhetik“, die ihre Formenwahl nicht aus dem Material heraus begründen kann:
Diesem Abgrund entgeht auch Wagner nicht immer: Sosehr man auch den Görlitz-Zyklus bewundern mag, die Notwendigkeit dieser rigiden Selbstfesselung ist nicht einzusehen.18
Eine erste Annäherung an die spezifische Gestalt, die Wagner seinem Sonettenkranz gegeben hat, lässt sich vielleicht über ein Gegenbild vornehmen. In einer selbstreflexiv „die kunst des sonetts“ benannten Skizze entwirft Franz Josef Czernin die Idee zu einem Mega-Sonettenkranz, d.h. einer Struktur von 14 Sonettenkränzen, die sich um einen zentralen „sonettenstamm“ anordnen – gewissermaßen eine experimentelle Steigerungsform der Steigerungsform.19 Jan Wagner wählt den gegenläufigen Weg zu Czernins hyperbolischer Anlage, er entscheidet sich seiner Poetik gemäß nicht für die Abweichung en gros, sondern für diejenige en détail – das Korsett wird gewissermaßen nicht gesprengt, vielmehr hebt sich der Brustkorb seiner Gedichtkörper nur sehr sacht. Auf einen flüchtigen Blick könnte es sogar fast scheinen, als würde er sich gar nicht heben, oder literaturwissenschaftlich gesagt, als würde Wagner die Sonette des Kranzes mustergültig isometrisch bauen und dabei alle Vorgaben der Form erfüllen. Bei genauerem Hinsehen lassen sich aber Abweichungen im Detail erkennen, vor allem durch die Interpunktion. Endet beispielsweise das dritte Sonett mit dem Schlussvers „ein falke senkte sich auf seine beute.“,20 so setzt das Folgesonett mit dem Auftaktvers ein: „ein falke setzte sich auf senkte sich auf seine beute:“ (IV/1); in analoger Weise wandelt sich der Punkt im Übergang von Sonett vier zu fünf sowie von sieben zu acht in einen Doppelpunkt. Einmal ist der metaphorische Tod, den das Bild zeichnet, Finale, einmal Vorzeichen des lyrischen Szenarios. Die Verbindung von neuntem und zehntem Sonett wählt dann eine weitere Variation, indem es aus „als zöge es nicht abwärts das gewicht.“ (IX/14) durch ein eingefügtes Komma ein Enjambement erzeugt und dergestalt den Bezug verändert:
als zöge es nicht abwärts, das gewicht (X/1).
Und dieses Sonett mündet in die Frage des lyrischen Ichs „die frühen vögel? schwangen sich ins licht.“ (X/14), die zu Beginn des elften Teilstücks schon eine Antwort ist:
die frühen vögel schwangen sich ins licht, (XI/1).
Tendenziell andersherum ist die Verbindung zwischen dem elften und zwölften Sonett gestiftet, insofern „der herbst, der anbrach. und das herz: es schlug.“ (XI/14) moduliert wird zu „der herbst, der anbrach. und das herz? es schlug“ (XII/1). Im Übergang vom dreizehnten zum vierzehnten Sonett schließlich wird mittels einer minimalen Variation der Interpunktion eine metaphorische Verschiebung vorgenommen, im ersten Fall ist die Eibe das Beil („im kaffeegarten schmiegte sich die eibe / das sanfte beil, des morgens an die scheibe.“ [XIII/14]), im zweiten der Morgen („das sanfte beil des morgens – an die scheibe / gelangtes licht, das auf den nacken traf“ [XIV/1, 2]).
Diese zugleich minimalen und bedeutsamen Variationen in der Zeichensetzung prägen aber nicht nur die Verknüpfungen zu einem Kranz, auch die Isometrie gerät durch Kleinigkeiten aus dem Takt. Denn durchgängig weisen die fast petrarkistisch anmutenden Sonette zwar das Reimschema abba abba cdd cee auf, das durch den abschließenden Paarreim zu einer epigrammatischen Zuspitzung tendiert, und ebenso einheitlich gebaut ist die Silbenzahl: Wie es sich für ein italienisches Sonett gehört, dominieren Endecasillabo, d.h. ,Elfsilbler‘, nur die Verse zehn und elf weisen jeweils eine Silbe weniger auf – so viel Abweichung von der klassischen Form muss schon sein.
Jedoch weichen die Sonette auch in ihren Binnenteilen immer wieder voneinander ab, zeigen unterschiedliche metrische oder syntaktische Details. Um nur zwei Beispiele für diese gleichermaßen sprechrhythmisch wie semantisch relevanten Akzentsetzungen anzuführen, denen sich zahlreiche weitere an die Seite stellen ließen: So verbindet das zweite Sonett seine beiden Quartette durch ein Enjambement zu einem Oktett, markiert folglich die Sinneinheiten („verschloß man die tür und augen. Nur ein rauher // nordost, der durch die straßen patroullierte“ [II/4, 5]), während das vierte Sonett auf diesen Übergang verzichtet und mit dem zweiten Quartett sozusagen (auch bildlich) neu ansetzt („wo eine kuh die weite wiederkäute. // die vorhänge, bestickt mit nikotin“ [IV/4, 5]). Und gleichsam um einen Vers verschoben findet sich der Gedankenstrich aus dem ersten Sonett im zweiten wieder: Ist er zunächst im ersten Vers des ersten Terzetts platziert, das über einen Zeilensprung mit dem vorhergehenden Quartett zusammengebunden ist (um beide Verse zu zitieren: „zog uns voran, und vor dem bahnhof trieben// die blätter ihre farben in die bäume –“ [I/8, 9]), so bildet er im nächsten Sonett das Mittelstück des Terzetts („das kurze intermezzo – stille trugs“ [II/10]).
Überdies und vielleicht sogar vor allem variiert Wagner die Reime. Das im ersten Sonett etablierte Reimschema wird befolgt, aber die Reimqualität ändert sich ständig, wie es insgesamt charakteristisch für Wagners Klangkunst ist. Man könnte aus diesem Sonettenkranz geradezu eine Inventarliste aller möglichen und unmöglichen reinen und unreinen Reime (bzw. Halbreime) erstellen. Um das Spektrum wiederum nur anzudeuten: „lud“ und „glut“ (I/10, 11) sind noch vorschriftsmäßig gereimt, ebenso „erschien“ und „ausgespien“ (II/7, 8) oder „tor“ und „fror“ (II/9, 12). Origineller und typischer für Wagner sind aber windschiefe, Sprachen und Klänge überraschend zusammenbringende Reime: sogenannte slant rhymes, Heinrich Detering zufolge „für Jan Wagner elementarer Ausdruck und Grundbaustein [seiner] auffrischenden Begegnung der Gegenwart mit den Traditionen.“21 Im vierten Sonett etwa kommen „nikotin“ und „mannequin“ zusammen (IV/5, 8) sowie „wusch“ und „rouge“ (IV/6,7), in Sonett sieben sind die deutsche „haut“ und die französische „haute“ (couture; VII,2,3) im Gleichklang, in Sonett neun dann „nonchalance“ und „renaissance“ (IX/5, 8). Ich breche die Detailanalyse ab, weil auf diesem Wege offenbleiben muss, ob all dies nur Sprachspielereien sind, die ihren Zweck in sich selbst haben, oder ob sie vielmehr über sich hinauswiesen. Diese Frage lässt sich naturgemäß nicht mit dem verengten Blick auf Klang- und Rhythmusstrukturen beantworten, es gilt folglich die Form zu ihrem Inhalt ins Verhältnis zu setzen.
III.
Angedeutet ist also die formale Meisterschaft, vorgeführt an einem Zugleich von virtuoser Erfüllung der generischen Vorgaben mit ihrer metrischen bzw. syntaktischen Subversion. Aber nicht aus der Welt geschafft ist durch diese Rekonstruktion der Vorwurf, hier würde eine Ästhetik so störungsfrei wie letztlich sinnlos vor sich hinsurren, und sie würde jede Welthaltigkeit vermissen lassen (die man ja nicht nur vom Roman, sondern auch von der Lyrik gerne erwartet). Oder in Sicht auf das Form-Inhalt-Problem gleichermaßen metaphorischer und präziser gefragt: Bindet Wagner nicht nur formal, sondern auch inhaltlich einen Kranz, lässt sich eine Geschichte identifizieren, die in „görlitz“ erzählt wird? Naheliegend erscheint, sich bei der Suche nach diesem Zusammenhang an den lektürelenkenden Hinweisen zu orientieren, die der Paratext gibt. Einzurechnen ist hier zunächst die topographische Referenz, die der Titel nennt, sprich: Görlitz. Dass dieser ,Handlungsort‘, in und um den herum sich die lyrischen Szenarios des Sonettenkranzes ansiedeln, nicht beliebig gewählt ist, lässt sich über Bande gespielt begründen mit einer Seitenbemerkung, die Wagner in einem Interview über eine andere Stadt fallen lässt. Dort antwortet er nämlich auf die Frage, was er nicht könne, folgendermaßen:
Es gibt vieles, was ich nicht kann. Allerdings gibt es auch vieles, was ich noch gar nicht ausprobiert habe, von dem ich, zum Glück, vielleicht noch gar nichts ahne. Ich habe ein halbes Jahr lang in Lüneburg gewohnt und an einer Reihe von Gedichten über die Stadt gearbeitet, ohne ein einziges befriedigendes Ergebnis. Offensichtlich kann ich also keine Gedichte über Lüneburg schreiben, so viel scheint festzustehen.22
Bei allem Respekt vor Lüneburg: Offenkundig gibt es für Wagner Städte, die ,lyriktauglicher‘ sind, weil sie, wie sich vor der Lektüre des ersten Sonetts vermuten lässt, eine (kultur-)historisch und architektonische Semantik aufweisen, die sich für seine Verfahren der Versifizierung anbieten. Wir werden gleich sehen, inwiefern sich ausgerechnet Görlitz, die östlichste Stadt Deutschlands und unmittelbar an der Grenze gelegen, als prädestiniertes Explorationsfeld für die lyrischen Erkundungen Wagners eignet. Zuvor sei aber noch der zweite Bestandteil des paratextuellen Rahmens angeführt. Vorangestellt ist dem Zyklus ein Motto, das den metaphysical poet23 Andrew Marvell beleiht, genauer, das die ersten beiden Verse von dessen metaphysical poem „To his coy mistress“ zitiert:
Had we but World enough, and Time,
This coyness Lady were no crime.24
Dort redet in barocktypischer Weise ein männlicher Sprecher die titelgebende Schüchterne an, um sie angesichts der alles dominierenden Vergänglichkeit zu überzeugen, ihre Schüchternheit rasch abzulegen und den Tag zu nutzen – carpe diem, wie der (nicht nur) erotische Imperativ des Barock bekanntlich lautet. In diesem Sinne mündet das Gedicht in die Schlussanwendung (wenn die Adressierte denn der Aufforderung entspricht):
Thus, though we cannot make our sun
Stand still, yet we will make him run.25
Auf diese Weise paratextuell auf ein neo-barockes Weltbild eingestimmt, sieht sich der Leser von „görlitz“ mit einer eher locker als streng gefügten Szenenfolge konfrontiert, die Stimmungsbilder, zwischenmenschliche Situationen, lyrische Stadtbilder und Naturschilderungen gleichrangig und weder zeitlich noch stark kausal verbunden nebeneinanderstellt. Eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende ist folglich im ersten Hinschauen nicht zu erkennen, oder auf das vom Titel angebotene Reisemotiv gewendet, keine Versifizierung einer Reise mit Ankunft, Aufenthalt und Abreise, ebenso wenig wie sich eine psychische Entwicklung der Sprechinstanz im Durchlauf der Sonette zu vollziehen scheint. Immerhin ist zu erkennen, dass das lyrische Ich Görlitz und Umgebung nicht alleine erkundet, sondern in Begleitung einer Frau. Im ersten Sonett ,blüht‘ „in ihrer jackentasche […] der reiseführer“ (I/5, 6), im fünften Teilstück geht „am nagel ein schwarzer halbmond auf, // als sie ins zimmer flatterte“ (V/8, 9), und das sechste Sonett zeigt beide ,Protagonisten‘ im nächtlichen Hotelzimmer, körperlich zusammen und im emphatischen Sinne doch getrennt:
kein spiegel konnte uns gemeinsam fassen
und selbst den schlaf durchzogen feine grenzen.
ich lag noch wach und suchte die frequenzen
des radioweckers ab, alleingelassen. (VI/1–4)
Nähe bietet hier nicht die Frau, sondern in einer Inversion der Verhältnisse zwischen menschlicher Sphäre und Dingwelt der Radiowecker. „nur das rote lid / der leuchtdiode zwinkerte mir zu“ (VI/5, 6), zeigt sich das Medium personifiziert. In großer Nähe so fern bewegen sich diese beiden also durch Görlitz, etwa (im dritten Sonett) zum Grab von Jakob Böhme:
wir hatten böhmes grab gesucht, es schien
umsonst. ihr gegen einen regenschauer
gespannter schirm – ein firmament, gering
unter dem größeren, doch beide düster. (III/3–6)
Zum touristischen Pflichtprogramm mag ebenfalls gezählt werden, dass das Rathaus besichtigt wird („am untermarkt das rathaus brütete / in schweren quadern über den archiven.“ [VIII/5, 6]) sowie die Kirche („der kirchturm, der sein glockenläuten trug“ (IX/1). Gleiche Beachtung schenken die Gedichte jedoch der „feuchte[n] krötenhaut der kopfsteingassen“ (VII/1) oder den verlassenen Cafés, „vor den cafés die plastikstühle farblos / und ausgeblutet; sommervieh, daran / der wind sein messer wetzte.“ (VII/9–11) Und ebenso aufmerksam registriert die Sprechinstanz Tier- und Naturbilder, etwa wie „ein falke senkte sich auf seine beute: / wir folgten seinem zielgenauen pfeil“ (IV/1,2) oder wie „die frühen vögel schwangen sich ins licht / formiert zu einem ,größer als‘, das stetig / nach süden zog – beschwingte arithmetik.“ (XI/1–4)
Noch einmal: Eine Geschichte im eigentlichen Sinne erzählt der Sonettenkranz nicht. Aber vielleicht würde eine narrative Struktur der Form auch gerade widersprechen, weil ein Kranz ja weder Anfang noch Ende hat, sondern vielmehr letztlich das eine in das andere schlingt und immer so fort. Andersherum gesagt: Die Form des Kranzes ist geradezu idealtypisch geeignet, wenn keine lineare Entwicklung nachgezeichnet, sondern eher ein zyklisches Modell entworfen werden soll. Von hier aus erklärt sich das Motto, mit dem die frühneuzeitliche Motiv-Trias aus vanitas, memento mori und carpe diem aufgerufen wird, und von hier aus ist es strukturlogisch notwendig, dass Böhmes Grab besucht (oder besser: gesucht und nicht gefunden) wird. In den zitierten Beispielen deutet sich bereits an, dass die in „görlitz“ geschilderte Welt entsprechend gleichsam des Todes ist – es ist alles eitel, würde Gryphius zustimmen. Auf der Isotopie-Ebene des Sterbens bzw. Vergehens sind mithin die meisten Bilder angesiedelt, in denen die randständige, im Wortsinn an der Grenze gelegene Welt in „görlitz“ ausgemalt wird, und zwar Natur- wie Tierbilder ebenso wie die sozialen Interaktionen und die Züge des Stadtporträts. Zerstörung geht beispielsweise von der Sonne aus („die späte sonne fräste sich ins land“ [IV/13]), der flüchtende Hase hisst schicksalsergeben die sprichwörtliche weiße Fahne („der hase, unterm schwanz ein weißer fleck // als ob er hoppelnd eine flagge hisse / und senke, sich ergab, sich davor scheute“ [III/11–13]), weil schon sein Jäger im Anflug ist („ein falke senkte sich auf seine beute“ [III/14]). Das ,Sterben‘ oder Vergehen ist offenkundig auch der Beziehung zwischen der Sprechinstanz und seiner Begleitung eingeschrieben: etwa durch den schwarzen Halbmond, den das fünfte Sonett zugleich mit der ins Zimmer flatternden Frau aufgehen lässt, oder mittels der unsichtbaren Grenze im Hotelbett, von dem das sechste Sonett spricht. Und vor allem malt „görlitz“ das Bild einer sterbenden Stadt aus, indem es von dem Vers „das haus des letzten henkers steht noch heute“ (das hier aus einem Buch herbeizitiert wird, [I/1, 2]) ausgeht und von diesem Eingangsbild später umschwenkt auf den Kirchturm, der metonymisch steht für eine Religion, deren metaphysische Versprechen sich im bröckelnden Putz gleichsam auflösen:
der himmel eine decke – so fragil
daß stück um stück ihr stuck zu boden fiel. (IX/2, 3)
Schließlich ,stirbt‘ auch, wesentlich profaner und doch wirtschaftlich relevant für die Stadt, das touristische Leben:
in jener knappen, bar bezahlten bleibe
war jedermann, nur wir nicht, längst verschwunden. (XIII/1, 2)
Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang überdies die gleichermaßen realistisch wie zeichenhaft zu verstehenden Jahreszeitenangaben, insofern der Zyklus sich vom Sommer über den Herbst bis zum vorausgespürten Winter bewegt, unschwer als eine symbolische Bewegung hin zum Tod zu erkennen. Im ersten Sonett wird „der sommerfahrplan, rauhreifüberschrieben“ (I/5) genutzt, für einen Sommer, der übrigens an sich schon reichlich getrübt ist, die „regenschauer“ (III/4) habe ich schon angeführt, durch das vierte Sonett weht „ein kalter wind“ (IV/7), und heftige Windböen drehen im zehnten „an einem schwarzen mobile aus krähen.“ (X/10) Dieser Sommer, der eigentlich kein Sommer ist, verschwindet dann im elften Sonett endgültig mit dem „vogelzug: // der herbst, der anbrach. und das herz: es schlug.“ (XI/,13, 14) Folgerichtig kann das zwölfte Sonett „in der schon jetzt zentral beheizten luft“ (XII/9) spielen, und im vierzehnten Sonett fällt ein letzter Sonnenstrahl in das Frühstückszimmer, während mentaliter der Winter schon angebrochen ist:
als ob es tief im innern jetzt schon schneite. (XIV,13)
Die Natur wird nach diesem zyklischen Modell freilich wieder in den Frühling übergehen, von dort in den Sommer und immer so fort, der Kranz endet jedoch für den Protagonisten im doppelcodierten Winter.
Keine Idylle, nirgends, lässt sich diese Isotopie-Ebene zusammenfassen, und wer Wagner nach der Lektüre dieses Kranzes noch als harmlosen Idylliker verleumden will, dem ist wohl mit den Mitteln der Hermeneutik nicht zu helfen. Weniger polemisch formuliert: So wenig wie Wagner in formaler Hinsicht ein konservativer Wiederkäuer ist, so wenig ist er in inhaltlicher ein harmloser Biedermeier-Wiedergänger. Vielmehr sind seine Bildwelten auf unsicherem Grund gebaut, wenn die metaphorische Rede erlaubt ist, meist zeigen sich die vorgeblich heilen und harmonischen Welten als brüchig und gefährdet. Diese grundsätzliche Unterminierung seiner lyrischen Weltaneignungen ließe sich an vielen Gedichten Wagners zeigen, mal deutlicher, mal dezenter, und der vorliegende Band demonstriert dies an einigen Beispielen. Insgesamt zeigt(e) sich dabei, noch einmal mit Michael Braun pointiert:
Die Idylle ist bei diesem Autor […] nie ohne Entsetzen zu haben.26
Aber vielleicht artikuliert sich Wagners poetische Weltsicht nirgendwo deutlicher als in „görlitz“. Insofern lässt sich der Sonettenkranz geradezu als weltanschauliches und epistemologisches Programmgedicht verstehen, das in wünschenswerter Klarheit die Strukturen seiner lyrischen Welten veranschaulicht.
IV.
Im Meistersonett sollen all diese formalen und inhaltlichen Merkmale zusammengestellt und verdichtet sein, es soll entsprechend die höchste kompositorische Finesse demonstrieren. Einerseits läuft der gesamte Kranz oder Zyklus also auf diesen Höhepunkt zu, anderseits ist er Ausgangspunkt der gesamten Struktur. Was produktionsästhetisch zuerst da war, ist dabei nicht zu erkennen – und gerade darin liegt die Formvollendetheit. Das Meistersonett von „görlitz“ erfüllt die Gattungsvorgaben in zweierlei Hinsicht: Zum einen montiert es die Schlussverse in einer Weise zusammen, die sie in der neuen Konstellation allesamt umdeuten und dennoch zugleich ihren Zusammenhang akzentuieren. Betont ist damit die bildsprachliche Virtuosität, mit der die Vielstelligkeit des lyrischen Ausdrucks aktualisiert wird, und betont ist die Konsistenz des dergestalt entworfenen Mikrokosmos. Besonders deutlich präsentiert sich dieses Ineinander von Variation und Kontinuität im ersten Quartett: „das haus des letzten henkers“, im ersten Sonett noch als Zitat aus einem Buch aufgerufen, ist nun buchstäblich gemeint und überdies metaphorisch bestätigt als „schwarzer schlund“, der im zweiten Sonett noch eine „hauslegende“ bezeichnete. Und mehr noch, einer inneren und keiner geographischen Logik folgend wird das Haus des Henkers an den Friedhof versetzt, wo dann auch noch der „falke […] sich auf seine beute senkte“, der zuvor weiter entfernt vom Friedhof auf die Jagd ging – das Quartett versammelt folglich vier Bilder, die allesamt den Tod metaphorisieren, und bringt sie gleichsam an einem Ort zusammen. Von dieser Verdichtung führt das Meistersonett in Bildern der Gegensätzlichkeit, der Trennung und des Vergehens bis zum abschließenden Terzett, in dem nun der Herbst anbricht und „in jener knappen, bar bezahlten bleibe / das sanfte beil des morgens an die scheibe“ schlägt. Bildsprachlich konsistent spannt das Sonett also einen Bogen vom Haus des Henkers im ersten Vers bis zum Beil im letzten Vers.
Zum anderen und vielleicht sogar mehr noch präsentiert das Meistersonett noch einmal mustergültig Wagners Kunst der Detailabweichung, die er zuvor im Verhältnis der Schlussverse zueinander vorgeführt hatte. Konsequent ist dabei, dass er im Meistersonett nicht mehr Veränderungen vornimmt als zwischen den Einzelsonetten, sondern weniger, die Steigerung liegt paradoxer Weise in der Reduktion. Im abschließenden Terzett sind das schlagende Herz und der anbrechende Herbst durch Kommata im ruhigen Rhythmus parallel geschaltet. Im Schlussvers des elften Sonetts hingegen sind die beiden Teile ja in größerer syntaktischer Variabilität durch einen Punkt getrennt und das Herz zudem durch einen Doppelpunkt beschwert, und im Auftaktvers des zwölften Sonetts wird das Herz in Form einer rhetorischen Frage auf- und angerufen. Noch deutlicher wird diese Bewegung hin zu formaler Schlichtheit im abschließenden Vers, der auf jegliche Interpunktion verzichtet, d.h. sowohl das Komma aus dem dreizehnten als auch den Gedankenstrich aus dem vierzehnten Sonett zurücknimmt. Und gerade diese Zurücknahme ist semantisch äußerst wirkungsvoll: Ist ,das sanfte beil‘ im dreizehnten Sonett das Bild für eine Eibe und im vierzehnten für das Licht, so steht es nun für den Morgen insgesamt. Damit ist ausgerechnet der Tagesanbruch gegen seine herkömmliche symbolische Aufladung in ein Bild des Todes verkehrt. Ein Komma ist bei Wagner eben nicht einfach ein Komma, sondern eine Frage von Leben und Tod.
Christoph Jürgensen, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017
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