Daniela Kohler: Zu Jan Wagners Gedicht „von den ölbäumen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jan Wagners Gedicht „von den ölbäumen“ aus Jan Wagner: Australien.

 

 

 

 

JAN WAGNER

von den ölbäumen
für Jean-Yves, Robert und Uwe

unter den kronen
in ihrem schutz gehe ich,
älter als nestor.

wie sie sich stemmen
gegen den wind, die brandung
aus blühendem klee.

als zögen sie sich
an den eigenen wipfeln
aus dem erdboden.

die schneeverwehung
einer schafherde plötzlich
hinter der biegung.

leichte süderde,
tiefe wurzeln. der gesang
einer husqvarna.

ein zug schleppt leuchtend
seine fenster vorüber,
gläser voller öl.

sagt: welcher prophet
verlor die sandale dort,
aus der schon moos wächst?

weißes klebeband
als nachricht in den zweigen:
brailleschrift aus fliegen.

stämme, geflochten
wie taue, zwischen himmel
und der unterwelt.

ein schwarzer regen
im herbst. darunter parkt der
weiße isuzu.

im licht des mondes
sind die stämme noch grauer,
die risse tiefer – – –

– – – die alte herde
von elefanten zieht stumm
an mir vorüber.

welches gedächtnis
ist da? woran erinnern
sie all die knoten?

neben der wurzel
die staubige bierflasche
der marke mythos.

der zug. dann sind die
grillen wieder allein in
ihrem heiligtum.

 

Der Prophet im Olivenhain

Der Ölbaum (lat: Olea) aus der Gattung der Ölbaumgewächse (lat: Oleaceae) ist nicht sehr stark verbreitet in Australien, dem titelgebenden Kontinent von Wagners viertem Gedichtband aus dem Jahr 2010. Doch weiß der Leser bereits auf Grund des dem Band vorangestellten Mottos – „Man ist glücklich in Australien, sofern man nicht dorthin fährt“ –, dass der zwischen dem indischen und pazifischen Ozean gelegene fünfte Kontinent nicht zwingend Schauplatz von Wagners Gedichten ist. Denn wie in Álvaro de Campos Gedicht „Oxfordshire“,1 aus dem das zitierte Motto stammt, geht es um eine Wirklichkeit, die sich nicht einfach im Vorgefundenen erschließt. De Campos moniert, als er den Kirchturm, der ihn aus der Distanz zu tiefgründigen Reflexionen über die Bedeutung des Glaubens anregte, aus der Nähe sieht, dass es sich lediglich um einen Kirchturm handelt, „und dem nicht genug, er stand auch noch da.“2 Wie mit dem Kirchturm soll es einem nicht gehen mit Australien; es ist besser, es zu imaginieren, als von der beständigen, unveränderbaren Wirklichkeit enttäuscht zu werden. Die Ölbäume hingegen, die Jan Wagners Gedicht bestimmen, sind real, wie sich aus dem Werkkontext schließen lässt. In der von Olivenhainen umsäumten, an der Westküste des Peloponnes gelegenen griechischen Stadt Kyparissia ist es entstanden. Hier hat Jan Wagner im Frühling 2008 zusammen mit dem Lyriker Uwe Kolbe und den Malern Jean-Yves Klein und Robert Weber während einer Woche das Projekt verfolgt, sich Ölbäumen anzunähern.3 Von den dort entstandenen 22 Haikus, die erstmals zusammen mit einem Prosagedicht von Kolbe und Kaltnadelarbeiten von Weber im Band Von den Ölbäumen (Berlin 2008, in einem limitierten Druck) erschienen sind, flossen fünfzehn in das in Australien veröffentlichte, seinen Arbeitskollegen aus Kyparissia gewidmete Gedicht „von den ölbäumen“ ein. Doch das real Vorgefundene ist nur der Ausgangspunkt in eine von vielen Assoziationen geprägte Bilderwelt, die Wagner in „von den ölbäumen“ beschreibt. So kann auch der Titel mit dem bestimmten Artikel nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ölbäume, unter denen das Lyrische Ich in der ersten Strophe wandelt, in höchstem Maße erfüllen, was De Campos mit dem aus der Distanz betrachteten Kirchturm oder dem Glücklichsein im nur imaginierten Australien verbindet und was Jan Wagner selbst in seinem poetologischen Programm fordert:

Ein Gedicht nimmt sich die Freiheit, die Dinge so zu denken und zu sehen, wie sie nie zuvor bedacht und gesehen worden sind, und lädt den Leser, seinen Partner, dazu ein, es ihm gleichzutun.4

Dadurch werden De Campos Kirchturm zum Symbol von Spiritualität und Glauben, das unbetretene Australien zu einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, und Jan Wagners Ölbäume zu Tauen, Elefanten und vielem mehr.

 

I.
Wagner beschreibt in seinem Gedicht die Eindrücke bei einem Spaziergang durch eine Plantage von Ölbäumen; Griechenland als Entstehungsort lässt darauf schließen, dass es sich um Olivenbäume, der dort beheimateten Gattung, handelt. Der Spaziergang ist zwar nicht so beklemmend wie derjenige des Moorgängers aus Wagners Gedicht „torf“,5 der „bibbernd den Körper“6 durch das Moor zieht und am Ende nur noch die Wahl hat, sich „umzudrehen, / zurück ins hochmoor, zu den singen- / den winden, oder endlich unter tränen / vor all der schwärze auf die knie zu sinken.“7 Doch auch im Olivenhain sind ambivalente Impressionen, irritierende Vorstellungen und überraschende Entdeckungen omnipräsent. Wagners fünfzehn Haikus erfüllen, was Roland Barthes (1915–1980) in seinen Vorlesungen über Die Vorbereitung des Romans dazu schreibt:

Das Haiku ist der geometrische Ort, an dem sich Gedanken, Probleme und Vorlieben kristallisieren.8

Zu Beginn des Gedichts fühlt sich der Spaziergänger im Olivenhain geborgen. Der Schutz, den ihm die Kronen bieten, wird verstärkt durch die vom Vers gemachte Einschließung: Die Kronen aus dem ersten Vers sind älter als die von Homer beschriebenen mehr als drei Menschenalter, die Nestor, der mythologische Herrscher Pylos’ und Berater Agamemnons, zählt. So jedenfalls die Lesart, wenn die Altersangaben auf die Baumkronen bezogen werden; dies impliziert die von Wagner in anderen Gedichten sehr oft verwendete, hier aber nur an dieser Stelle anzutreffende Reimform des slant rhymes; jedenfalls insofern „kronen“ und „nestor“ noch als slant rhyme, gewissermaßen als gespiegelter, gelten. Die Syntax macht auch diejenige Lesart möglich, die besagt, dass sich der Spaziergänger so alt fühlt wie Nestor oder eben die Ölbäume, unter denen er wandelt.
Erste Eindrücke aus dem Olivenhain sind der Wind, der die Wipfel bewegt, die „leichte süderde“ (5. Strophe), die nicht nur Halt für die tiefen Wurzeln der Bäume bietet, sondern dem Besucher im Hain auch einen vielleicht zwar staubigen, aber doch mühelosen Spaziergang ermöglicht. Die sprichwörtliche Leichtigkeit des Seins im Süden ist also gegeben, so dass „von den ölbaumen“ die Erwartungen zu erfüllen scheint, die möglicherweise an ein Gedicht herangetragen werden, das sich im Abschnitt „Süden“ eines alle vier Himmelsrichtungen beinhaltenden Bandes befindet. Der Spaziergänger findet seinen Weg durch die Olivenbäume, weder seine Füße noch diejenigen des Verses sind Stolpersteinen ausgesetzt; die Wurzeln der Bäume sind tief in der Erde versteckt, und der Vers folgt zwar keinem erkennbaren Metrum, gibt aber durch die häufige Ein- oder Zweisilbigkeit der Wörter ein unaufgeregtes, aber ständiges Voranschreiten an. Mehr vielleicht ein Voranschreiten der Eindrücke als des Spaziergängers. Denn dieser „geht“ nur in der ersten Strophe, macht sich dann mit einer nicht klar adressierten Frage in der siebten Strophe als Sprecher bemerkbar und taucht zum dritten und letzten Mal in der zwölften Strophe auf, aber nicht mehr aktiv, denn dort geht es um die phantastischen Bilder, die „an mir vorüber“ ziehen.
Keinen Anlass zum Stolpern geben auch die Strophenformen: Jede der fünfzehn Haiku-Strophen gehorcht ohne Bruch der traditionellen Silbenregel des Haiku, der gemäß der erste Vers fünf, der zweite sieben und der dritte wiederum fünf Silben enthalten. Reime finden sich, abgesehen vom sich spiegelnden slant ryhme, keine. Wagner schreibt, er habe für seine Annäherung an die Ölbäume den Haiku gewählt, „weil mir diese Form gebunden genug schien, dem Ganzen ersten Halt zu geben, und in ihrer Kürze offen noch für flüchtigste Impressionen.“9 Dieser Halt ist nötig. Im Verlaufe des Gedichts sind nicht nur die tiefen Wurzeln nutzlos im Hinblick auf das drohende Geräusch einer Motorsäge, sondern auch die Bilder dergestalt vom Realen entwurzelt, dass die durchgehaltene Silbenregel durchaus diejenige Stütze bietet, die es benötigt, um nicht in den vielen aufgerufenen Assoziationen verlorenzugehen. So zum Beispiel, wenn im Olivenhain nach dem „blühendem klee“ (2. Strophe) plötzlich eine „schneeverwehung“ (4. Strophe) auftaucht und zu dieser Vermischung der Jahreszeiten in der zehnten Strophe noch der Herbst hinzukommt. Zum traditionellen Haiku gehört die Erwähnung eines Jahreszeitenworts, des sogenannten kigo.10 Die Nennung von drei verschiedenen Jahreszeitenwörtern macht deutlich, was zu einem typischen Merkmal von Wagners Lyrik gehört: Strenger Formwille und Rückgebundenheit an Traditionen werden bewusst immer wieder gebrochen und aufgelöst.

 

II.
Wenn der Spaziergänger zwar auch nicht stolpert, so ist er doch wie die Bäume dem Wind ausgesetzt, der, so impliziert es das Stemmen und Ziehen aus der zweiten und dritten Strophe, eine gewisse Stärke haben muss und den Bäumen das Leben schwermacht. Zugleich erinnert aber die „brandung  / aus blühendem klee“ (2. Strophe) auch daran, dass der Wind die Vermehrung jeglicher Pflanzenarten, so auch der Ölbäume, gewährleistet. Die von Nutzen wie auch Gefahren gekennzeichnete komplexe Beziehung zwischen dem Wind und den Bäumen spiegelt sich auf der syntaktischen Ebene mit dem umständlichen Vergleich, dessen zwei am Strophenanfang stehenden Konjunktionen „wie“ und „als“ zwar für sich allein in ihre jeweiligen Strophen einleiten, die in beiden Strophen auftretende Alliteration „sie sich“ zeigt aber, dass sie zusammengehören. Die Personifikation macht zudem deutlich, dass die Natur ihr eigener Herr ist. Anders aber als im Gedicht „giersch“,11 in dem die Natur ein Ungleichgewicht herstellt, ist sie hier durchaus fähig, sich selbst zu regulieren und Mittel zu finden, die ihr trotz widriger Umstände zum Überleben verhelfen. Konkret auf die Ölbäume bezogen heißt das: „tiefe wurzeln“ (5. Strophe), die dem Wind trotzen. Es sind denn auch nicht die Wurzeln, die diesen Halt verlieren, nachdem sie durch die Zäsur vom Rest der Strophe abgetrennt werden. Der im selben Vers folgende „gesang“ (5. Strophe) scheint noch durchaus den natürlichen Vorkommnissen im Hain zu entsprechen und nicht der harten Zäsur. Erst die durch ein Enjambement gemachte Zuordnung – es ist „der gesang / einer husqvarna“ – macht deutlich, dass das Werkzeug, das eines der größten Unternehmen für Forstwirtschafts-Geräte herstellt, nichts Gutes verheißt. Es geht also auch hier wie in vielen Gedichten Wagners um das Verhältnis Mensch-Natur, und das Eindringen des Menschen in die Natur wird mit den zwei weiteren Markennamen Isuzu (10. Strophe) und Mythos (14. Strophe), die im Gedicht genannt werden, illustriert. Der Mensch dringt aber nicht so zerstörend in die Natur ein, wie es die Säge der Marke Husqvarna andeutet. Denn abgesehen von diesem Gerät, das im Gedicht ja auch nur singt und sich deshalb unter Umständen nicht im Hain, sondern in weiter Ferne befindet, sind die menschlichen Zeichen zwischen den Ölbäumen nicht von Dauer – der zweimal genannte Zug zieht vorbei –, oder aber moosbewachsen wie die Sandale des Propheten und verstaubt wie die Bierflasche.

 

III.
Es geht aber im Gedicht um viel mehr als die Bedrohung der Natur durch sich selbst und durch äußere Einwirkung. Wagner will mit den von ihm beschriebenen Bildern und Momentaufnahmen gedankliche Räume eröffnen, die das Vorgefundene in ein neues Licht tauchen und den Leser in unbekannte Tiefen führen. In seinen poetologischen Reflexionen, die 2011 im Beiläufige Prosa untertitelten Band Die Sandale des Propheten erschienen, kommt Wagner immer wieder auf die Bildhaftigkeit der Poesie und deren Vermögen zu sprechen, einem konkreten, alltäglichen Gegenstand mit sprachlichen Mitteln eine erweiterte und andere Bedeutungsmöglichkeit zu geben:

Jedes Gedicht ist eine Irritation, weil es die Dinge so faßt und so sagt, wie sie nie zuvor gefaßt und gesagt worden sind.12

Die Mittel, die er dazu in „von den ölbäumen“ verwendet, sind die überraschenden Bildverbindungen und die von ihnen ausgehenden Assoziationen. Die Schneeverwehung, die sich als Schafherde entpuppt, wurde bereits erwähnt. Beim blühenden Klee irritiert weniger das Bild als die Tatsache, dass er sich sowohl auf den Wind wie auch auf die Olivenbäume, die wie der Klee weiß-gelbliche Blüten haben, beziehen kann. Oder aber einfach eine weitere Momentaufnahme illustriert, nämlich die Wellen, die als Enjambement über den Vers hinaus am Strand brechen und ihre weiße Gischt verspritzen; das Komma also im Sinne einer Aufzählung des Gesehenen und nicht eines Vergleichs. Hier spielen die von Wagner angesprochenen Assoziationen, welche die Kürze der Form, die keine weiteren erklärenden Silben zulässt, generiert. Ebenso verhält es sich mit der sechsten Strophe:

ein zug schleppt leuchtend
seine fenster vorüber,
gläser voller öl.

Hier sind die Verbindungsmöglichkeiten der Begriffe und Satzteile, die von Fenstergläsern über die von den Menschen im Zug eingekauften Olivenölflaschen bis hin zu in den Fenstern symbolisierten Ölbildern reichen, derart offen, dass nur festgehalten werden kann: Es geht um den Zug, der nach der Husqvara das nächste zivilisatorische Zeichen im Olivenhain ist und ihm eben auf Grund seiner vielfältigen Bedeutung und des Vorüberziehens vielleicht weniger schadet als das eindeutige Geräusch der Säge.

 

IV.
Der Spaziergänger, der sich seit der ersten Strophe nicht mehr bemerkbar gemacht hat, richtet sich in der siebten Strophe an ein im Gedicht nicht näher definiertes „ihr“ mit der Frage nach der Identifizierung des Propheten, der die Sandale verloren hat. Es ist nicht eindeutig, ob wirklich die Leser angesprochen sind. Auf dem Hintergrund folgender Passage aus Kolbes Ölbaum-Oden scheint auch etwas Anderes möglich:

Wer uns gesehen hätte, als die Zwiesprache begann! In unseren Augen das unverkennbare Lächeln. Wärst du dabei gewesen, mein Bellarmin! Im Nu eine Reise zurück, Ankunft in jenem Zeitalter, das vor jenem banalen lag, Berührung der Rinde, Gespräch mit den Bäumen.13

Bemerkenswerterweise handelt es sich in der siebten Strophe um ein Haiku, das Wagner seinen eigenen Angaben gemäß vor den meisten der anderen Haikus verfasst hat zu einer Zeit, als er sich noch nicht in Griechenland aufhielt. Eine Sandale aber fand sich später angeblich wirklich im Olivenhain.14 Wagners Antizipation der Sandale ist also noch um einiges überraschender als das darin wachsende Moos im Olivenhain, was ihn zu poetologischen Reflexionen darüber veranlasste, wie Realität und poetische Wirklichkeit in Bezug zueinander stehen. Jedes Gedicht fügt in jedem Fall der Realität etwas hinzu, so Wagners Schlussfolgerung, nämlich die Freiheit, über das Vorgefundene hinauszudenken und damit einen „unermeßlichen Raum [zu] entdecken, in dem zeitlich, geographisch und semantisch weit Auseinanderliegendes in Einklang, ins Klingen gerät, in dem widersprüchlichste Dinge und Paradoxien zusammenfinden.“15 Auf den Werkkontext bezogen ist man fast geneigt, Wagner selbst als den Propheten zu bezeichnen, der dort im Hain seine Sandale verloren hatte und deshalb nicht nur wusste, dass sie dort lag, sondern mit seiner Hellsichtigkeit auch noch ganz andere Dinge aus dem Dunkeln ins Licht holte; eben Räume öffnet und dadurch auch erfüllt, was er in Bezug auf die Sandale als Ausgangspunkt sagt:

Mit einer ausgelatschten Ledersandale fängt es an, schimmlig, moosbewachsen, vollkommen unbrauchbar. Aber damit hört es nicht auf.16

Im Gedicht bleibt die Frage nach der Identität des Propheten unbeantwortet. Auch bleibt offen, wie es sich mit der Prophetie selbst verhält. Ist sie ein Mythos aus der Vergangenheit, so alt wie die moosbewachsene Sandale oder Nestor oder die Ölbäume? Oder gibt es immer noch Propheten, die vermögen, in die Zukunft zu sehen und denen man Glauben schenkt? Wichtig ist, dass die Strophe eine Schnittstelle bildet. Zusammen mit der achten Strophe leitet sie eine Bilderwelt ein, die, durch die Substantive „unterwelt“ (9. Strophe), „herbst“ (10. Strophe), „mond“ (11. Strophe) und die Farben Schwarz und Grau eine zwar nicht unbedingt düstere, aber doch eine dunkel-geheimnisvolle Grundierung haben.
Die Metapher aus der achten Strophe ist so überraschend wie nachvollziehbar. Das abgerissene Klebeband in den Bäumen, vielleicht eine vom Olivenbauer aufgehängte Insektenfalle, vielleicht aber auch ein vom Wind dorthin getragenes, sich in den Ästen verhedderndes normales Klebeband, bildet einen Friedhof für die an ihm hängengebliebenen Insekten: Kleine Erhebungen in unterschiedlichen Abständen für tastende Finger, so verbindet die Metapher zwei eigentlich nicht zusammenpassende Bilder. Eine Metapher, die nicht nur in der Struktur, sondern auch in der genauso irritierenden wie durch die prägnante Beschreibung trotz dieser Irritation nachvollziehbaren Bildverknüpfung dem berühmten „In a Station of the Metro“ von Ezra Pound (1885–1972) ähnelt, der sein one-image-poem selbst in die Nähe japanischer Haikus rückte.17 Pound verbindet die zwei Bilder mit einem Semikolon:

The apparition of these faces in the crowd;
Petals on a wet, black bough.
18

Wagner benutzt dazu den Doppelpunkt:

weißes klebeband
als nachricht in den zweigen:
brailleschrift aus fliegen.

Welche Nachricht die festgeklebten Fliegen verraten, bleibt genauso im Dunkeln wie der in der Strophe zuvor gesuchte Prophet und erinnert an eine andere, keine Mitteilung enthaltende ,Insektenschrift‘. In Wagners „versuch über mücken“19 stehen die Buchstaben „als schwarm in der luft, / bringen von all den schlechten nachrichten / keine“,20 sie sind lediglich „dürftige musen“,21 die „sich selbst ins ohr“22 summen.23
Obschon Wagner den durch Gottfried Benn stigmatisierten Wie-Vergleich keinesfalls als Verdünnung des poetologischen Textes ablehnt24 und in vielen Gedichten sogar rege von ihm Gebrauch macht,25 benutzt er ihn im gesamten Gedicht lediglich in der neunten Strophe. Dies ist weniger der nötigen Silbenzahl geschuldet als der Tatsache, dass durch den Wie-Vergleich markant darauf hingewiesen wird, dass es sich um die letzte Strophe handelt, die vergleichende oder bildverbindende Momentaufnahmen beschreibt. Die Konjunktion „wie“ ist das Bindeglied des Teilsatzes, der im Enjambement die Stamm-Verbindung zwischen Himmel und Unterwelt noch deutlicher macht26 und zeigt, dass es nun, über das Tau, in eine neue poetische Welt geht: eingeleitet durch den Herbst des Lebens, weitergeführt durch mit Knoten symbolisierte Lebenserinnerungen, ziehen die Bilder nun innerlich am Spaziergänger vorbei. So wie „die alte herde / von elefanten“ (12. Strophe), deren gedanklicher Marsch aus den Rissen der grauen Stämme (11. Strophe) zum Spaziergänger durch die von der 11. zur 12. Strophe führenden Gedankenstriche vorgezeichnet ist.

 

V.
Im zweiten, mit der neunten Strophe beginnenden Teil des Gedichts ist eine narrative Struktur erkennbar. Wird die „unterwelt“ aus der 9. Strophe mit dem „heiligtum“ aus der 15. verbunden, was durchaus legitimierbar scheint auf dem Hintergrund von Wagners bereits zitierter, in der Poesie möglichen Verbindung von zeitlich, geographisch und semantisch weit auseinanderliegenden Aspekten – hier im Sinne von fünf dazwischenliegenden Strophen und einem dreistufigen Weltbild –, kommt es nach dem anfänglichen Abstieg in die Unterwelt, die das Gedächtnis der Menschheit, so groß wie dasjenige einer „alten[n] Herde / von elefanten“ (12. Strophe) enthält, zum Aufstieg in ein Heiligtum, das trotz der Überwindung der verstaubten Mythologie („neben der Wurzel / die staubige Bierflasche / der marke mythos“, 14. Strophe) weder christlich konnotiert noch endzeitlich angehaucht ist, da die Grillen dort lediglich ihre Einsamkeit genießen und nicht zu apokalyptischen Heuschreckenplagen mutieren.27 Es handelt sich um das Heiligtum der Natur; das, nachdem der Zug der Menschen, markant signalisiert durch die Zäsur, verschwunden ist, zur nichtzivilisatorischen Ursprünglichkeit zurückkehrt (15. Strophe). Zugegebenermaßen ist diese Interpretation wohl nicht einfach das oben zitierte, von Wagner gewünschte Mitgehen des Lesers in die vom Dichter erschaffenen Bilder, sondern ein eigener Gedankenflug – doch dazu regen ja Wagners „Kapseln der Freiheit“,28 als die er Gedichte beschreibt, durchaus an. Und da auch Uwe Kolbe in den Ölbaum-Oden von den „elephantiastische[n] Falten“29 schreibt, an die ihn die Rinde der Bäume denken läßt, und „auf dem Teppich aus Klee“30 – auch hier ein Bild, das an eines in „von den ölbäumen“ erinnert – plötzlich Hades erblickt,31 scheinen Olivenhaine durchaus prädestiniert dazu, solche Gedankenflüge auszulösen und (prophetische) Einblicke in (noch) nicht Vorhandenes zu gewähren.

Daniela Kohler, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017

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