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Glaub mir: sind je die Brücken dieser Stadt
mit ihren makellos gebauten Türmen
genommen, fällt die Festung ein, dann hat
kein sterblich Dach mehr Raum, mich zu beschirmen;
nicht Ast noch Zweig soll mich verbergen, wenn
der Ost, der Nord mich peitschen, und ich werde
kein Reisig reiben und entflammen, denn
mich wärmen nun die Wunder dieser Erde.
Nimm du ein Schiff zu neuen Ufern und
denk nicht an mich, ist es einmal geschehn!
Ich bleibe, teile den Ruinengrund
mit Dächern (einst von See her weit zu sehn)
und bettle im geborstenen Entrée
Gespenster an… geschlagene Armee.
gegen weltliche und religiöse Autoritäten und gesellschaftliche Konventionen, bringen in Millays Leben ein hohes Maß jener Formlosigkeit, der ihr Dichten als Ordnungskraft beikommen will. Sie ging hetero- und homosexuelle Verbindungen ein, in denen sich Sexualität, emotionale Zuneigung und intellektuelle und dichterische Verbundenheit auf komplexe Weisen überlagern konnten. Von ihrem Ehemann ist zu Millays Affären die Aussage überliefert, er toleriere alle Freiheiten, die sich seine Frau nähme, solange diese ihrer dichterischen Kreativität nicht abträglich seien. Mindestens so wichtig wie die Weite, Unkonventionalität und Intensität der Erfahrung war Millay deren Überführung in gut gemachte Gedichte. Dem Mentor Arthur David Ficke antwortet sie jedoch irritiert auf die Anfrage, ob eine Zeile aus Renascence literarischen Ursprungs sei: „I never get anything from a book.“ Wie T.S. Eliot es im Essay Tradition and the Individual Talent vom Dichter seiner Zeit fordert, hat sie die literarischen Werke der Vergangenheit nicht vor sich auf dem Schreibtisch liegen, sie hat sie „in ihren Knochen“. Bilder von Robert Herrick, Reimklänge von Marvell und Tennyson, emotionale und argumentative Rhythmen von Renaissance-Sonetten hat sie der eigenen Imagination ebenso anverwandelt wie das Lokalkolorit und das Alltagsidiom ihrer neuenglischen Heimat. Das Ergebnis ist eine Dichtung, die mit einer unverkennbaren persönlichen Stimme spricht und im Ganzen wie im Detail dem Leser zumeist unmittelbar verständlich ist, die sich aber zugleich dem traditionsbewußten Lesen auf weite literarische Welten hin öffnen kann.
Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2008
„Die Entdeckung Amerikas“, so überschrieb Rudolf Borchardt 1935 sein hochgestimmtes Plädoyer für die Dichterin Edna St. Vincent Millay. Doch er musste einräumen, dass sie bereits wieder verkannt sei und „in die Sphäre hochgezogener Brauen und gerümpfter Nasen emporgestiegen“. Diese Verkanntheit erschien ihm als das „zweite Stadium des Ruhms“. Es währte immerhin einige Jahrzehnte. Erst der hundertste Geburtstag 1992 brachte Millays Comeback. Seitdem gilt die Dichterin in der angloamerikanischen Welt als major poet.
Diese männliche Bezeichnung hätte Millay vermutlich nicht gestört. Sie reihte sich in ihren Gedichten mehrfach unter die Männer ein. Ein Zug, der sie kaum zur Kultfigur weiblichen Schreibens geeignet machte. Doch mehr als der Feminismus dürfte der doktrinäre Modernismus Millays Rezeption behindert haben. Mit den Göttern und Halbgöttern der amerikanischen Avantgarde war Millay bekannt, aber nicht verbandelt. Ihr Eigensinn war beträchtlich, ihre Offenheit gefürchtet. So kompromisslos ihre Revolte gegen Autorität und Establishment war, so entschieden hielt sie es in ihrer Poesie mit der Tradition. Ihre Lieblingsform war das Sonett, ihr enragiertes Motto die Zeile: „I will put chaos into fourteen lines.“
Was da an Chaos einzufangen und zu bändigen war, davon gibt ihre Biographie eine Vorstellung. Edna St.Vincent Millay, 1892 in Rockland, Maine, geboren, zeigte früh eine Leidenschaft für Poesie, Musik und Theater. Mit knapp zwanzig Jahren veröffentlichte sie den Lyrikzyklus „Renascence“ (Wiedergeburt). Dessen Echo trug ihr ein Stipendium für das Vassar College ein. Edna schrieb Theaterstücke und Kurzgeschichten, trat als Schauspielerin auf und zog nach Greenwich Village. Sie hatte hetero- und bisexuelle Liebesverhältnisse. Edmund Wilson, der grosse Kritiker, soll ihr einen Heiratsantrag gemacht haben. 1923 erhielt sie als erste Frau den Pulitzer Preis und heiratete den zwölf Jahre älteren Witwer E. J. Boissevain, einen offenbar sehr verständnisvollen und toleranten Mann. Als Edna eine Affäre mit dem sehr viel jüngeren Poeten George Dillon hatte, soll Boissevain gesagt haben, er toleriere jede Freiheit seiner Frau, sofern sie ihrer Kreativität nicht abträglich sei.
Diese Kreativität war allerdings erstaunlich. Vor allem ihre Sonett-Sequenzen hatten Erfolg, so die 52 Stücke „Fatal Interview“ von 1931, für die die Affäre mit Dillon den Rohstoff lieferte. Nicht zu übersehen ist auch Millays politisches Engagement. 1924 legte der FBI eine Akte über sie an, offenbar wegen ihres Interesses für die Sowjetunion. 1927 sass sie für ein paar Stunden in Haft, weil sie sich an den Protesten gegen den Justizmord an Sacco und Vanzetti beteiligt hatte. 1942 schrieb sie das Anti-Hitler-Stück „The Murder of Lidice.“ In den späteren dreissiger Jahren begann ihr Ruhm zu verblassen. Doch im Krieg gab es noch ein Auswahlbändchen für die amerikanischen Soldaten in Europa. Edna St.Vincent Millay starb 1950, ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes, an Herzversagen. 1952 erschien ein Band mit ihren Briefen, 1956, von ihrer Schwester herausgegeben, ihre Gesammelten Gedichte, die Basis ihres erneuerten Ruhmes.
Aus diesem Fundus schöpft „Love is not all“, ein zweisprachiger Auswahlband von Millays Poesie. Günter Plessow hat sich gegen eine Blütenlese des Schönsten und Bekanntesten entschieden und dafür vier geschlossene Werkgruppen übertragen: zwei frühe Langgedichte sowie zwei Sonett-Sequenzen aus Millays Reifezeit. Plessow hat sich für eine dichterische, metrische Übersetzung entschieden. Das zwingt zu Kompromissen, zu Veränderungen der Reimfolge und zu Raffungen in Syntax und Semantik. Der Nachdichter sucht die Eigenständigkeit neben dem Original, wenn auch nicht alle seine Freiheiten überzeugen.
Die beiden frühen Texte lassen noch nicht allzu viel von Millays Qualitäten erkennen. „Renascence“ ist eine romantische Phantasie über Grab und Auferstehung, Sterben und Wiedererweckung. „Interim“ führt uns in ein Totenzimmer und zu dem Déja-vu-Erlebnis: „hier bin ich schon mal gewesen.“ Der nüchterne Schluss ist schon ein Vorgriff auf Millays Illusionslosigkeit: „Und auch wenn du wieder stürbest: / ich bin nur Fleisch und Blut, und ich muss schlafen.“
Zentral für Millays Werk sind die Sonette, als Einzelstücke oder Sequenzen. Die erste der beiden Sonett-Folgen, die Plessow übersetzt hat, erzählt vom Scheitern der Ehe einer „New England Woman“. Diese „Sonnets from an ungrafted Tree“ wollen – ihrem Titel gemäss – Sonette aus unveredeltem Holz sein. Eine Formulierung, die an Goethes Diktum erinnert, er schneide gern aus ganzem Holze, müsse beim Sonett aber „mitunter leimen“. Millays Holz ist spröde und widerständig. Dem entspricht ein prosaischer Ton, der das Pathos zugunsten einer alltagsnahen Sprechweise zurücknimmt: „Ein Lieferwagen hielt vorm Haus. Sie hörte / die schwere Ölhaut, wie sie um die Beine / des Fahrers schlappte.“ Die Schlüsse sprechen fast tonlos von Desillusionierung: „Sie musste fühlen, musste es ertragen: / quer durch die Zähne mahlte es, das Rad vom Lieferwagen.“ Oder noch beiläufiger: „Sie hatte, erst beim Tee sah sie es ein, / den Kessel kochen lassen nachts, um nicht allein zu sein.“
Mit der Sequenz „Fatal Interview“ kehrte Millay zu Strenge und Pathos zurück, zum elisabethanischen Sonett und zur metaphysischen Poesie. „Verhängnisvolle Begegnung“ trifft nicht ganz den Beiklang des antiken Fatums und den Anklang an das französische „entrevue“ (Zusammenkunft). Schon Borchardt hat den Titel unübersetzbar genannt und „Schicksäliges Zusammentreffen“ vorgeschlagen. Was da schicksalhaft zusammenkommt, das sind die Partner einer unerfüllbaren Liebe. Ihnen erscheint die Liebe als rücksichtsloses, „nichts achtendes Verlangen“. Was zwischen ihnen vorgeht, nimmt auf den ausgeschlossenen Dritten keine Rücksicht. In einer strengen Versuchsanordnung wird idealtypisch der Liebesprozess durchgespielt.
Indem die Dichterin den Kanon respektiert, unterminiert sie ihn zugleich. Stolz denkt die Frau an die Liebenden, die ihr vorangingen, an Danae, Europa und Leda: „All diese Frauen waren sterblich, ach, / doch hatten einen Gott zu Gast.“ Antipetrarkistisch, nämlich gegenläufig zur Vergottung des Mannes, ist die Umkehrung des Geschlechterverhältnisses. Nicht der Liebhaber hat das Wort, sondern die liebende Frau, wie bei Millays grossen Vorläuferinnen Gaspara Stampa, Louise Labé oder Christina Rossetti. Nur ist Millays Ego entschieden stärker, selbstbewusster, quasi maskulin. Sie ist es, die dem Mann einen Kuss raubt. Sie plädiert für die Nüchternheit gegenüber der Liebe: „Love is not all.“ Sie besteht auf der eigenen Einzigartigkeit: „Doch kommt mir vor, dass ich allein von allen / die heute leben, in antikem Mass an Liebe leide.“
Im letzten Sonett versetzt Diana den sterblichen Geliebten Endymion auf den Berg Latmos und räumt ein, sie sei „unfit / For mortal love“ – nicht ganz glücklich gewendet zu „sie kann nicht sterblich lieben“. Borchardt nannte dieses Schlusssonett erschütternd und glaubte, in ihm „die Rettung der weiblichen Ordnung durch die Endymionisierung des männlichen Zufalles“ zu erkennen. Mehr noch: Er sah in Millays Poesie ein neues Jahrhundert hervortreten – „ein Jahrhundert, in dem der Mann die Frau nicht mehr ausfüllt“.
Lassen wir diese Jahrhundertperspektive dahingestellt. Sagen wir also: nicht der Mann füllt die Frau aus, aber die Macht der Poesie. Reden wir nicht von der „Entdeckung Amerikas“, sondern vom poetischen Kontinent der Edna St. Vincent Millay. Günter Plessows Übertragung rückt ihn uns ein Stück näher.
Der Ruhm hat die amerikanische Dichterin Edna St. Vincent Millay früh verwöhnt, aber er blieb ihr nicht treu. Als (wie es heisst: recht aufmüpfige) Studentin des renommierten Vassar College begeisterte sie die Kritiker 1912 mit ihrem ebenso frühreifen wie brillanten Langgedicht „Renascence“, das, wie viele ihrer späteren Texte, aus der Spannung von Todesnähe und Vitalenergie lebt. Ein merkwürdig beschwingtes Metrum trägt diese persönliche Vision einer Neugeburt im Schoss der Natur über alle Untiefen der Skepsis.
Ihre folgenden, überaus erfolgreichen Gedichtbände gaben dem interessierten Publikum, was die experimentelle Moderne verweigerte: eine Lyrik, die keinen Traditionsbruch ankündigte, sondern die überkommenen Formen mit neuem Geist zu erfüllen suchte; die frei von Hermetismus durch ihre Echokunst dem Kenner schmeichelte und darüber hinaus alle Leser zum emotionalen Mitvollzug einlud. In Leben und Lyrik forderte die äusserst selbstbewusste Dichterin freien Raum für eine spezifisch weibliche Entfaltung.
„Für gewöhnlich ungewöhnlich schön“, so der Eindruck der Zeitgenossen, hat Edna St. Vincent Millay den Bohème-Mythos von Greenwich Village mitbegründet – durch spektakuläre Lesungen sowie als Bühnenautorin und Schauspielerin. Sie führte mit ihrem erheblich älteren Gatten eine offene Ehe und fand die grosse schmerzensreiche Passion mit einem erheblich jüngeren Dichter (George Dillon, der nur in diesem Kontext in die Literaturgeschichte einging). Das Zeugnis dieser Beziehung ist der dank seiner formalen Meisterschaft und seelischen Turbulenz einstmals berühmte Sonettkranz „Fatal Interview“ von 1931.
„I will put Chaos into fourteen lines“: Bei allem Formenreichtum dieser Lyrik ist das Sonett ihr eigentliches Instrument, dessen uraltes Versprechen, gelebte Dissonanz in künstlerische Harmonie zu verwandeln, sie noch einmal zu erfüllen weiss. Der hohe Ton, die motivischen und mythologischen Bezüge, der Anklang an elisabethanische Dichter und viktorianische Dichterinnen, all das zielt freilich, bei aller Seelendramatik, auf eine leicht als anachronistisch verdächtige Überzeitlichkeit.
Rudolf Borchardt, der ihre Lektüre in einem grossen Aufsatz als „Entdeckung Amerikas“ feiert, nennt Edna St. Vincent Millay die „Nachtigall der amerikanischen Mitzeit“. Ihr zuliebe findet er sich bereit, seine kulturelle Abneigung gegen die USA zurückzustellen, und stilisiert sie, bei aller „schneidenden amerikanischen Heutigkeit“, zur Sappho rediviva. (In seinem Buch über das europäische Sonett widmet Friedhelm Kemp dieser Begegnung ein erhellendes Kapitel; Gerhard Schuster hat kürzlich ihre Texte und Dokumente in einer schönen Ausgabe versammelt.) Um schneidende Heutigkeit hat sich die Dichterin an anderer Stelle bemüht: in ihrem poetischen Protest gegen den Justizmord an Sacco und Vanzetti, in ihrer apokalyptischen Sonettsequenz „Epitaph for the Race of Man“ – ein Thema der Schwarzen Romantik – und in empörten Versen gegen die Untaten der Nazis, die den Weg in das Marschgepäck mancher GI fanden. Aber Propaganda war ihre Sache nicht. Sie starb 1950, als ihr Ruhm im Schatten von Eliot und Pound arg verblasst war.
Doch das Blatt scheint sich zu ihren Gunsten zu wenden. Die klassische Moderne ist heute mehr Mythos als Massstab, die geschlossene Form wird in einschlägigen Kreisen wieder geschätzt, und auch die triumphale Selbstinszenierung von Weiblichkeit wirkt nicht ganz unzeitgemäss. Gewiss, Edna St. Vincent Millays lyrische Ekstasen und Agonien klingen kultivierter als die Emily Dickinsons, und ihre erotischen Mythen kommen, im Vergleich zu Yeats etwa, eher aus zweiter Hand. Aber so viel sprachliche Meisterschaft verlangt nach wie vor Gehör. Das Comeback war überfällig.
Ein Indiz dafür ist nicht zuletzt, dass endlich der mutige Versuch einer umfangreicheren deutschen Übersetzung gewagt wurde, die mehr sein will als nur Interlinearversion. In einer hübschen zweisprachigen Ausgabe legt Günter Plessow, bisher als versierter Übersetzer elisabethanischer Sonette hervorgetreten, bei Urs Engeler eine Auswahl vor, die neben zwei frühen Langgedichten – darunter „Renascence“ – zwei stark gegensätzliche spätere Sonettfolgen enthält. In der ersten verleiht die traditionelle Form im Rückblick auf eine nicht besonders glückliche Neuengland-Ehe dem Unscheinbaren Glanz und Würde; in der zweiten gibt sie dem Gefühlssturm von „Fatal Interview“ einen europäischen Horizont. Louise Labé, Gaspara Stampa und Elizabeth Barrett-Browning grüssen als Vorgängerinnen.
Die Topoi der Tradition sind hier eigenwillig und vielfach selbstironisch aufbereitet – Liebesglück und Leidenslust, Qual der Ferne, Taglied-Situation, Angst vor dem Alter, Liebe als Krankheit: „Nein, Blutegel, Herr Doktor, aus dem Teich / vermögen meinen Fall nicht zu beheben: / Bin krank im Fleische, ach, und der Bereich / liegt tiefer als Sie schürfen – Liebe eben . . .“ Hier geht, in den Worten Borchardts, die Frau durch den Mann hindurch, um am Ende von hoch oben auf ihn herabzublicken: „und du wirst mich verlassen, und was dann / schon kalt sein wird, begrab ich nebenan“. Bewundernswert die frische, manchmal halsbrecherische Art, in der Plessow sich auf diese hochartifiziellen Sprachgebilde einlässt; ein Hindernislauf, in dem zwangsläufig so manche Hürde zu Boden geht. Ina Schabert, die das Unternehmen angeregt hat, bescheinigt ihm in ihrem Nachwort, zumindest an einer Stelle „in kunstvoll regelverstossender Weise“ das Original noch übertroffen zu haben. Die Leser, die dieser Dichterin auch bei uns zu wünschen sind, mögen entscheiden.
In den 1920ern galt sie als Kultfigur, danach geriet sie für viele Jahre in Vergessenheit: Edna St. Vincent Millay. Das Buch „Love is not all“ gibt Einblick in das lyrische Werk der Schriftstellerin. In dem zweisprachigen Band ist neben der deutschen Übersetzung ihrer Gedichte auch jeweils das englische Original abgedruckt. Die Zusammenstellung macht die Stimme der ersten weiblichen Pulitzer-Preisträgerin erfahrbar.
„Kompromißloser Freiheitsdrang, Rebellion gegen das Establishment, gegen weltliche und religiöse Autoritäten und gesellschaftliche Konventionen“: So beschreibt Ina Schabert im Nachwort des Buches das Leben von Edna St. Vincent Millay. In ihren Gedichten versuche sie zu ordnen, das übermächtige Leben in Haft zu nehmen, heißt es weiter.
Kultfigur der Zwanziger
Nach Abschluss am renommierten Vassar College zieht die 1892 geborene Millay in das New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village. Auf einer Europareise Anfang der 20er kommt sie in Kontakt mit Vertretern der amerikanischen Avantgarde in Paris. Als erste Frau wird sie 1923 mit dem Pulitzer-Preis für Lyrik ausgezeichnet. Im selben Jahr heiratet die Dichterin den zwölf Jahre älteren Jan Boissevain, mit dem sie eine – auf beiden Seiten – offene Ehe lebt. Es ist nicht zuletzt ihr freier Lebensstil, der sie zu einer Kultfigur der Zwanziger Jahre macht.
Auch ihr politisches Engagement erregt Aufmerksamkeit: So legt das FBI 1924 eine Akte über Millay an. Grund dafür soll ihr reges Interesse für die UdSSR gewesen sein. Ihre Teilnahme an einer Protest-Kundgebung gegen den Justizmord an Sacco und Vanzetti bringt sie 1927 für einige Stunden ins Gefängnis. Mit dem Versdrama „The Murder Of Lidice“ (1942) engagiert sie sich gegen Hitler.
„Sonette sind ihr Lebenselixier“
Während Edna St. Vincent Millays Werk in den 1920ern viel gelesen ist, nimmt ihre Popularität schon Ende der 30er Jahre ab. Erst 1992, zu ihrem 100. Geburtstag, beginnt die Wiederentdeckung. Das Buch „Love is not all“ ist keine Gesamtschau über Millays vielgestaltiges Werk. Vielmehr präsentiert es einen „charakteristischen Ausschnitt ihrer Lyrik“, betont Günter Plessow. Er hat für den Band zwei frühe Langgedichte und zwei Sonettsequenzen der reiferen Dichterin ausgewählt und übersetzt.
„Sonette sind ihr Lebenselixier“, schreibt der Übersetzer: Millay veröffentlichte 178 Sonette – in einer Zeit, als die 800 Jahre alte Form vielen als veraltet galt. “I will put chaos into fourteen lines“, soll die Dichterin gesagt haben. Die ausgewählten Gedichte zeugen von einer persönlichen und starken Stimme – und von einer unkonventionellen: Edna St. Vincent Millay entwerfe lyrische Ichs, spiele mit Geschlechterrollen und treibe – bisweilen sogar innerhalb ein und derselben Gedichtsequenz – ein literarisches Verwandlungsspiel, betont Schabert im Nachwort.
Der liebevoll gestaltete Band „Love is not all“ bereitet die ausgewählte Lyrik für deutschsprachige Leser auf. Plessow übersetzt in Versrhythmen, was ihn bisweilen zu Kompromissen und Abweichungen vom Reimschema Millays zwingt. Bei aller Bindung wolle seine Übersetzung eigenständig neben dem Original stehen, erläutert er. Die zweisprachige Ausführung des Buches erlaubt dieses Vorhaben. Und nicht zuletzt macht eine derartige Übertragung die Gedichte auch auf Deutsch als solche lesenswert.
Sie meinte in Robinson Jeffers ein Genie des 20. Jahrhunderts zu erkennen: Edna St. Vincent Millay (1892 – 1950). Wie Jeffers folgte sie kompromisslos ihrem Freiheitsdrang und führte im New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village ein bohèmehaftes Leben. 1923 begann sie eine nach beiden Seiten offene Ehe mit einem älteren Witwer. Den Verlauf ihrer Affäre mit dem wesentlich jüngeren Dichter George Dillon machte sie im Sonettenzyklus „Fatal Interview“ öffentlich. Shakespeares „Dark Lady“ war ihr offensichtlich näher als Petrarcas keusche Idealisierung der Dame Laura. Das Versdrama „The Murder of Lidice“ (1942), mit dem sich die Kultfigur der Zwanzigerjahre in den Widerstand gegen Hitlers Großmachtstreben einreihte, ist in der Auswahl Jürgen Plessows leider nicht enthalten. Er hat aus dem Gesamtwerk zwei epische Langgedichte der jungen Millay ausgewählt und zwei Sonettsequenzen aus reiferen Jahren. Wie sie das Eingebettetsein des Menschen in universale Zusammenhänge in Versen erfasst, macht das 1912 geschriebene Langgedicht „Renascence“ deutlich. Nicht minder transzendentalistischem Denken verpflichtet als der Steinewälzer, kommt Millays versifizierte Ich-Erzählung ohne Pathos aus, wirkt mit vierhebigen paarreimenden Jamben locker, verspielt und leicht verständlich wie Kinderverse. Der Übersetzer hat vor allem die Formen der Originale im Deutschen bewahrt. Wo Jeffers die Marginalität des Menschen behauptet, stellt Millay den Einzelnen mit all seinen Qualen, Sehnsüchten und Freuden in den Mittelpunkt. Sie gießt die Trauer um Vergänglichkeit und Begrenztheit des Lebens in Empfindungen, wie auch im zweiten Langgedicht „Interim“. „Wahrheit? Nein, / der Glaube hält am Leben“ scheint sie dem Sucher nach absoluter Erkenntnis zuzurufen.
Jan Kuhlbrodt im Gespräch mit Günter Plessow 1 + 2 + 3
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