Lyrisches Herbsteln
Teil 5 siehe hier …
Auch Rainer Maria Rilke legt es mit einem vielzitierten Gedicht («Herbsttag», 1902) auf die Synthetisierung herbstlicher Befindlichkeiten an; auch er greift dabei auf die gängigen lyrischen Versatzstücke zurück (letzte Früchte, letzte Süsse, fatales Alleinsein) und setzt sich damit dem Kitschverdacht aus – doch bei allem endzeitlichen Pathos und trotz wehleidiger Sentimentalität gelingen ihm Formulierungen von singulärer Originalität («jage | die letzte Süsse in den schweren Wein»), und dies in lässiger Verbindung mit kolloquialer Rede («der Sommer war sehr gross»), die wiederum den emotionalen Überschwang relativiert:
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Eugen Gomringer, konkreter Poet ohne sentimentale Neigungen, hat den Herbst in einem Jahreszeitengedicht in knappster Form und mit subtiler Ironie als das charakterisiert, was er ist – eine stetig wiederkehrende Saison der Reife, der Ernte, der Vernebelung, mehr nicht, also kein Grund zur Klage oder Reue oder Zukunftsangst:
herbst
immer wieder reift es
immer wieder hüllt es
immer wieder reicht es
Auch so – lapidar – lässt sich im Gedicht vom Herbst sprechen, und fast alles ist damit über ihn gesagt.
© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik
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