Fernando Pessoa: „Algebra der Geheimnisse“

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Fernando Pessoa: „Algebra der Geheimnisse“

Pessoa-„Algebra der Geheimnisse“

DIES

Ich erdenk’ und lüge, heißt es,
alles, was ich schreibe. Nein.
Was ich sagen will, ich leist’ es
mit der Phantasie allein.
Herzblut misch’ ich nicht hinein.

Was ich träume und verlasse,
alles, was am End’ mißglückt,
ist wie eine Dachterasse,
die auf etwas andres blickt.
Dieses andere entzückt.

Deshalb schreibe ich von oben,
wo das Nahe nicht verdrießt,
allen Wirrungen enthoben,
ernst, wie man ein Spiel genießt.
Fühlen?… Fühle, wer mich liest!

 

 

 

Fernando Pessoa – der vervielfachte Dichter

Am 30. November 1985 jährte sich zum 50. Mal der Todestag Fernando Pessoas, den Portugal als seinen größten Dichter in unserem Jahrhundert und seinen bedeutendsten Lyriker seit den Tagen des Nationaldichters Camoens betrachtet. Pessoas sterbliche Hülle wurde inzwischen aus der Familiengruft auf die Ehrenstätte der hervorragenden portugiesischen Schriftsteller im Jerónimos-Kloster in Belém umgebettet. So merkwürdig es erscheinen mag: Der Autor, der heute im Rückblick als für das literarische Leben im Portugal der ersten Jahrhunderthälfte überragend repräsentativ erscheint, war bei Lebzeiten nur einem kleinen Kreis von Kennern und Liebhabern bekannt und hatte ein einziges Buch veröffentlich, das die Spannweite seiner Kunst nur andeutungsweise erkennen läßt. Es war das die nationalistische Botschaft (Mensagem); darin verklärt der Dichter die portugiesischen Könige und Seefahrer in den Jahrhunderten der Entdeckungsfahrten und erwartet visionär von der Wiederkehr des im Kampf gegen die Mauren gefallenen Königs Sebastian einen neuen Aufschwung der portugiesischen Kultur. Charakteristisch für den vergeistigten Nationalismus der Botschaft ist das Gedicht

PORTUGISISCHES MEER

O salzige Flut, in deinem Salz
strömen die Tränen Portugals!
Um deinetwillen weinten Mütter,
klang Kinderbeten klagebitter,
und manches Brautgemach blieb leer,
auf daß du unser seist, o Meer!

Und doch – die Müh’ ist nicht verloren,
ist nur die Seele groß geboren.
Willst du Kap Bojador bezwingen,
mußt du den Schmerz erst niederringen.
Gott schloß das Meer mit Abgrundsiegeln
und ließ es doch den Himmel spiegeln.

Abgesehen von diesem einen Buch, das im staatlichen Wettbewerb des Jahres 1934 einen Preis für kleinformatige Lyrik errang, war Pessoas Werk in vergriffenen Zeitschriften verstreut oder es lag noch unveröffentlicht in den beiden Truhen, die den unscheinbaren Lebensweg des Autors begleiteten. Über ein Dutzend Herausgeber haben sich in den fünf Jahrzehnten nach Pessoas Tod mehr oder minder sorgfältig bemüht, den umfangreichen Nachlaß zu entziffern und zu edieren: die Lyrik, die dramatischen Skizzen, die politischen und soziologischen Schriften und die autobiographisch durchwirkte Moralistik des Hauptwerks in Prosa, des Buchs der Unruhe. Als Pessoas Familie den Nachlaß des Dichters an den portugiesischen Staat verkaufte, ergab die Auszählung der Manuskripte die stattliche Anzahl von 27.543 Texten. Nicht eingerechnet sind dabei die von unbekannten Liebhabern unauffindbar unterschlagenen Originale der lyrischen Gedichte, deren Fehlen die Herstellung einer kritischen Ausgabe unmöglich macht.
Pessoas Lebenswerk besteht ganz überwiegend aus Fragmenten. Außerhalb der Lyrik hinderten den Dichter unablässig einander jagende und einander überschneidende Projekte an der Vollendung der einzelnen Vorhaben. So erinnert das ganze Werk an die monumentalen, aber gerade wegen ihrer Monumentalität unvollendet gebliebenen manuelinischen Kapellen der Klosterkirche von Batalha, Portugals schönstes gotisches Bauwerk. Zwar hat Pessoa als Lyriker abgeschlossene Gebilde hinterlassen. In allen übrigen Gattungen aber ist sein Werk Fragment geblieben, und das nicht nur in dem oberflächlichen Sinne, in dem man von allem Menschenwerk sagen kann, es bleibe fragmentarisch, sondern buchstäblich, gemessen nämlich an dem, was sich Pessoa selber zu vollbringen vorgenommen hatte. Der Dichter war sich über seine Neigung zum fragmentarischen Ausdruck durchaus im klaren, wie sich aus der folgenden Aufzeichnung im Buch der Unruhe ersehen läßt:

Etwas Vollständiges und Ganzes schaffen, es sei gut oder schlecht – und wenn es auch niemals völlig gut ausfällt, so ist es doch oft nicht gänzlich schlecht – jawohl, etwas Vollständiges schaffen macht mich vielleicht neidischer als irgend etwas anderes…
Und ich selber, der ich so selbstkritisch bin, daß ich nur Defekte und Mängel wahrnehme, ich, der nur Abschnitte, Brocken, Ausschnitte aus dem Inexistenten zu schreiben wagt, ich selbst bleibe in dem wenigen, das ich zu Papier bringe, ebenfalls unvollkommen…
Ich werde im Nebel versinken wie ein Fremdling.

Dieses untertreibende Eingeständnis der Begrenzung auf den fragmentarischen Ausdruck verbindet sich mit dem Bild vom Fremdling. Ein halber Fremdling zumindest ist Pessoa in seinem eigenen Land gewesen. 1888 wurde er in Lissabon im Schoße einer gutbürgerlichen Familie geboren; sein Vater war Ministerialbeamter und betätigte sich nebenberuflich als Musikkritiker. Die Mutter stammte aus einer Offiziers- und Beamtenfamilie. Unter Pessoas Ahnen gab es auch zum Christentum konvertierte Juden, die in der Physis des Dichters, aber auch in seiner metaphysischen Unrast ihre Spuren hinterlassen haben. In früher Jugend verlor er seinen Vater und sah sich durch die zweite Heirat der Mutter nach Durban in Südafrika verschlagen, wo sein Stiefvater portugiesischer Konsul war. In Durban verbrachte er seine gesamte Schulzeit, mit dem Erfolg, daß ihm die Klassiker der englischen Literatur vertrauter wurden als die portugiesischen Schriftsteller und die englische Sprache zur zweiten Muttersprache, zur Umgangssprache mit den Stiefgeschwistern. Auf englisch schrieb er seine Jugendgedichte und zeichnete sie im Namen eines gewissen Alexander Search – Alexander, weil er das Höchste erstrebte, Search, weil er sich noch auf der Suche betrachtete – für Search ließ er auch eigene Visitenkarten drucken. Der gleiche Pessoa, der später von sich gesagt hat: „Mein Vaterland ist die portugiesische Sprache“, schrieb bis zu seinem Tode stets auch englische Gedichte und war beiden kulturellen Traditionen, der englischen wie der portugiesischen, verbunden, ein Glücksfall, dem es wahrscheinlich zu verdanken ist, daß er dem Provinzialismus entging, diesem Erbübel des europäischen Randlandes Portugal.
Als der junge Pessoa siebzehnjährig nach Lissabon zurückkehrte, fand er sein Land in einer tiefen Krisis vor. Die Monarchie hatte sich durch ihre Nachgiebigkeit gegenüber den englischen Gebietsansprüchen auf portugiesische Territorien in Afrika unbeliebt gemacht. Die Republikaner drängten auf einen Umsturz hin, der 1910 vonstattenging und ein demokratisches, schroff antiklerikales Regime an die Macht brachte, das sich im Parteienhader verzettelte und auf seiten der Alliierten in den Ersten Weltkrieg hineinziehen ließ. Die einzelnen Regierungen waren so kurzlebig, wie sie es auch heute – nach dem Sturz der Diktatur im Jahre 1974 – wiederum sind, und so kann es nicht überraschen, daß man nach charismatischen Persönlichkeiten Ausschau hielt, die eine Erneuerung Portugals bewerkstelligen könnten. Der erste dieser erhofften starken Männer, der Generalspräsident Sidónio Pais, dem Pessoa hymnische Verse gewidmet hat, fiel 1918 einem Attentat zum Opfer. Der zweite starke Mann, Salazar, entsprach mit seinem von der katholischen Soziallehre inspirierten Gesellschaftsmodell nicht Pessoas eher monarchistisch und nach englischem Muster liberal orientierten Staatsvorstellungen. Die Spottverse des Dichters auf den asketischen Salazar sind, je länger dieser die Macht verwaltete, desto häufiger hinter vorgehaltener Hand zitiert worden; sie können dennoch die Tatsache nicht verbergen, daß der Dichter in einer gewissen Anknüpfung an Nietzsches Übermenschen charismatische Machtmenschen für sein Land herbeigesehnt hat. In den politisch so unruhigen ersten drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts in Portugal zu leben bedeutete aber zumindest Freiheit von der Zensur. Einen Denkspieler wie Pessoa, der immer wieder provokante Texte veröffentlicht hat, kann man sich unmöglich unter der meinungsgängelnden Salazar-Diktatur vorstellen. Seine Ablehnung der katholischen Kirche, seine Verteidigung der Freimaurer und gesellschaftlicher Außenseiter wie der Homosexuellen hätten ihm unweigerlich Repressalien zugezogen. Aus offiziellen Ämtern freilich hätte man den Dichter nicht – wie manche kritischen Intellektuellen Portugals – verdrängen können; denn er hat solche nie innegehabt. Er arbeitete unabhängig als Handelskorrespondent für verschiedene Lissaboner Firmen und übertrug deren Geschäftspost ins Englische und Französische. Von Armut kann man in seinem Fall wohl nicht reden, wohl aber von einem äußerst bescheidenen Lebensstil in möblierten Zimmern, wie sie der Hilfsbuchhalter Soares im Buch der Unruhe skizziert hat. Hat ihn seine ungesicherte Existenz daran gehindert, sich zu verehelichen? Seine Briefe an die einzige Frau, der er sich zeitweilig verbunden gefühlt hat, an Ofélia, sagen nichts darüber aus. Sie erwähnen die ausschließliche Sorge um das eigene Werk als Grund für den Abbruch der Beziehungen. Pessoas dichterische Anfänge stehen noch ganz im Zeichen des Jahrhundertendes, sie reden von Müdigkeit und Dekadenz des Fin-de-siècle. Der Dichter sieht sich selber im Bild eines Königs, der abdankt weil nur diese Abdankung ihm die innere Freiheit zurückgibt.

ABDANKUNG

Nimm mich in deine Arme, ewige Nacht,
ich bin ein König, nenn mich deinen Sohn,
freiwillig dankt’ ich ab von meinem Thron,
der Träume nur und Müdigkeit gebracht.

Mein Schwert, das meinen matten Armen schon
zu schwer ward, hab’ ich stärk’rer Hand vermacht.
Zerbrochen ließ ich in dem Vorsaal Kron’
und Zepter liegen, Zeichen meiner Macht.

Ich hinterließ im kalten Treppenhaus
die Sporen, deren Klirren mich betrog,
mein Panzerhemd, das ohne Wert. Ich zog

mein Königtum, den Leib, die Seele, aus
und kehrte heim zur alten, stillen Nacht
wie eine Landschaft, wenn der Tag vollbracht.

Abdanken, auf jegliches Handeln verzichten – das gehört zum Stimmungsbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts, ebenso wie die Überzeugung, ein Spätgeborener zu sein, der – nach den Worten von Pessoas Dichtergeschöpf Álvaro de Campos – „nach der Entdeckung des Seewegs nach Indien arbeitslos geworden ist“. Müdigkeit und Überdruß gehen aber auch Hand in Hand mit einem ideologischen Skeptizismus, der die überlieferten Werte – im Gefolge Nietzsches – als abgetan verwirft. Im Buch der Unruhe heißt es dazu:

Ich gehöre zu einer Generation, die den Unglauben an den christlichen Glauben geerbt und in sich den Unglauben gegenüber allen anderen Glaubensüberzeugungen hergestellt hat. Unsere Eltern besaßen noch den Impuls des Glaubens und übertrugen ihn vom Christentum auf andere Formen der Illusion. Einige waren Enthusiasten der sozialen Gleichheit, andere nur in die Schönheit verliebt, andere glaubten an die Wissenschaft und ihre Vorzüge, und wieder andere gab es, die dem Christentum stärker verbunden blieben und in Orient und Okzident nach religiösen Formen suchten, mit denen sie das ohne diese Formen hohle Bewußtsein, nur noch am Leben zu sein, beschäftigen könnten.
All das haben wir verloren, all diesen Tröstungen gegenüber sind wir als Waisenkinder geboren worden. Jede Zivilisation folgt der inneren Linie einer Religion, die sie repräsentiert: Auf andere Religionen übergehen heißt, diese verlieren und damit letztlich alle verlieren.
Wir haben diese eingebüßt und die anderen ebenfalls…

Mit dem Sturz der Monarchie und der Einrichtung der Republik macht sich in Portugal eine Reaktion gegen die Fin-de-Siècle-Müdigkeit bemerkbar. Pessoa liest in der französischen Übersetzung das Buch des österreichischen Psychologen Max Nordau über Dekadenzerscheinungen in der zeitgenössischen Kunst und ist tief betroffen. In Oporto bildet sich um den Dichter Teixeira de Pascoaes ein Kreis von Gleichgesinnten, die Portugals Eigenart in der „saudade“, der schweifenden Sehnsucht, erblicken und daraus eine die portugiesische Kultur regenerierende Bewegung, den Saudosismo, entwickeln möchten. Der junge Pessoa steuert für die Zeitschrift der saudosistischen Bewegung einen programmatischen Aufsatz bei, worin er einigermaßen spitzfindig die Entwicklung der portugiesischen Literatur mit der englischen und französischen vergleicht und zu dem Schluß gelangt, Portugal sei reif für einen neuen „Super-Camoens“ und also für eine neue kulturelle Blütezeit. Über diese Selbstprophezeiung konnten die Zeitgenossen nur staunen, weil es keine Symptome gab, die eine so kühne Prognose als berechtigt erscheinen lassen konnten. Pascoaes und seine Freunde witterten denn auch bald in ihrem Lissaboner Mitarbeiter einen ihrer Art fremden Geist, der die pantheistische Naturbeseelung, die Pascoaes aus der „saudade“ ableitete, nicht nachvollziehen konnte. Es kam zum Bruch, aber der junge Pessoa fand zum Glück einen gleichgestimmten Freund, den Dichter Mário de Sá-Carneiro, und mit ihm zusammen gründete er im Jahre 1915 die Zeitschrift Orpheu, das Sprachrohr des Modernismus in Portugal. Die beiden einzigen Nummern dieser Zeitschrift lösten einen Literaturskandal aus; die ältere Generation würde die jungen Dichter am liebsten ins Irrenhaus gesperrt haben, eine Absicht, die heutigen Lesern recht verwunderlich vorkommt – denn Orpheu ist noch in vielen Texten der Spätromantik und dem Symbolismus verbunden und nicht durchwegs so avantgardistisch, wie dies den Zeitgenossen erschien.
Ein Jahr vor dem Erscheinen von Orpheu, im Jahre 1914, hatte sich das Ereignis begeben, das Pessoa zu einem Sonderfall unter den europäischen Dichtern machen sollte: die Geburt dreier anderer Dichter, der sogenannten Heteronyme, im Kopfe des Autors. Schon als Kind hatte Pessoa nach eigener Aussage den Drang empfunden, sich Spielgefährten zu erfinden und mit ihnen Briefe zu wechseln. Von seinem englischen Jugendheteronym Alexander Search ist schon die Rede gewesen. Auf der Höhe des Lebens angelangt, schuf sich Pessoa gleich drei andere Dichter mit eigener Kunstanschauung und eigener Biographie. In seinem Todesjahr 1935 hat er diesen Vorgang in einem Brief an den Kritiker Adolfo Casais Monteiro wie folgt erklärt:

Gegen 1912, wenn ich nicht irre… kam ich auf den Gedanken, einige Gedichte heidnischer Art zu schreiben. Ich skizzierte einiges in freien Versen… und gab dann die Sache auf. Gleichwohl war mir in einem schlecht gewobenen Halbschatten ein ungefähres Bild der Person erschienen, die diese Verse schrieb. (Ohne mein Wissen war Ricardo Reis geboren.)
Anderthalb oder zwei Jahre später verfiel ich eines Tages auf den Gedanken, dem Sá-Carneiro einen Streich zu spielen – einen bukolischen Dichter komplizierter Natur zu erfinden und ihm, wie weiß ich nicht mehr, mit einem Anstrich von Wirklichkeit vorzustellen. Ich verbrachte einige Tage damit, diesen Dichter auszuarbeiten, aber es wurde nichts daraus. An dem Tage, an dem ich es endlich aufgegeben hatte – es war der 8. März 1914 –, stellte ich mich an eine hohe Kommode, nahm ein Stück Papier und begann zu schreiben, stehend, wie ich immer wenn irgend möglich schreibe. Ich schrieb über dreißig Gedichte in einem Zuge in einer Art von Ekstase, deren Besonderheit ich nie werde definieren können. Es war der triumphale Tag meines Lebens; einen anderen dieser Art werde ich nicht erleben. Ich begann mit einem Titel: „Der Hüter der Herden“. Und dann erschien jemand in mir, dem ich sogleich den Namen Alberto Caeiro gab. Entschuldigen Sie das Absurde des Satzes: in mir war mein Meister erschienen…
Als Alberto Caeiro erschienen war, versuchte ich alsbald – instinktiv und unbewußt – Schüler für ihn zu entdecken. Ich entriß den latenten Ricardo Reis seinem falschen Heidentum, entdeckte seinen Namen und paßte ihn sich selber an – denn in diesem Augenblick sah ich ihn schon. Und auf einmal stieg vor mir – entgegengesetzter Herkunft zu Ricardo Reis – ein neues Individuum auf. In einem Wurf kam an der Schreibmaschine, ohne Unterbrechung oder Verbesserung, die „Triumph-Ode“ Álvaro de Campos’ ans Licht – die Ode mit diesem Namen und der Mensch mit diesem Namen.

So beginnt das „Drama in Leuten“, dessen Sinn und Ziel seither die Federn zahlreicher Kritiker in Bewegung gesetzt hat, Pessoas ausgeklügeltes Spiel mit seinen eigenen poetischen Möglichkeiten, die gleichzeitig die künstlerischen Möglichkeiten seiner Epoche darstellten. Genußvoll hat der Autor seine künstlerischen Absichten mit anekdotischem Beiwerk verbrämt. So heißt es in dem erwähnten Brief an Casais Monteiro:

Alberto Caeiro wurde 1889 geboren und starb 1915; er kam in Lissabon zur Welt, hat aber fast sein ganzes Leben auf dem Lande zugebracht. Er hatte keinen Beruf und keine nennenswerte Bildung.

Im 18. Gedicht des „Hüters der Herden“ bemerkt man unschwer den antiromantischen Akzent, die Wendung gegen eine allbeseelende Naturlyrik im Stil von Teixeira de Pascoaes:

Ich las heute fast zwei Seiten
im Buch eines mystischen Dichters
und lachte wie einer, der viel geweint hat.

Die mystischen Dichter sind kranke Denker,
und die Denker sind Narren.

Denn die mystischen Dichter sagen, die Blumen fühlen
und sagen: es haben die Steine Seelen
und die Flüsse Ekstasen im Mondschein.

Aber die Blumen, fühlten sie, wären nicht Blumen,
sie wären Menschen
und die Steine, hätten sie Seelen, wären Wesen und nicht Steine;
und hätten die Flüsse Ekstasen im Mondschein,
wären sie kranke Menschen.

Der weiß nicht, was Blumen und Steine und Flüsse sind,
der von ihren Gefühlen redet.

Von der Seele der Steine, der Blumen, der Flüsse reden,
heißt von sich selbst und seinen falschen Gedanken reden.
Gott sei Dank, daß die Steine nur Steine sind
und die Flüsse nur Flüsse
und die Blumen nichts andres als Blumen.

Ich meinerseits schreibe die Prosa meiner Verse
und werde zufrieden,
weil ich weiß, ich begreife die Natur von außen;
und ich verstehe sie nicht von innen,
weil die Natur kein Innen kennt;
sonst wäre sie nicht die Natur.

Alberto Caeiro hat sich zur Pflicht gemacht, nicht zu denken. Nicht zu denken, sondern nur zu schauen, das muß für Pessoa, der auf seine Weise, mit Gottfried Benn zu reden, ein „armer Hirnhund, schwer mit Gott behangen“ gewesen ist, eine faszinierende Perspektive gewesen sein. Caeiros Gedichte leugnen Vergangenheit und Zukunft, sie wollen den Augenblick festhalten, und da dies so wenig möglich ist wie der völlige Verzicht auf Gedanken, entsteht eine bukolische Lyrik eigener Art, in der von Naturphänomenen geredet wird, auch wenn im Grunde philosophische Ideen Pate stehen. Das 29. Gedicht aus dem „Hüter der Herden“ zeigt Caeiros gedankliche Position:

Das Geheimnis der Dinge, wo ist es?
Wo ist es, warum erscheint es nicht,
wenigstens um zu zeigen, daß es Geheimnis ist?
Was weiß der Fluß davon und was weiß der Baum?
Und ich, der nicht mehr ist als sie, was weiß ich davon?
Immer wenn ich die Dinge anschaue und dar an denke, was die Menschen von ihnen denken,
lache ich wie ein Bach, der frisch über Steine plätschert.

Weil der einz’ge verborgene Sinn der Dinge
darin besteht: daß sie keinen verborgenen Sinn besitzen,
ist es sonderbarer als alle Sonderbarkeiten,
als alle Dichterträume
und alle Philosophengedanken,
daß die Dinge auch wirklich sind, was sie scheinen,
und es nichts zu verstehen gibt.

Ja, das ist es, was meine Sinne einsam erlernten:
Die Dinge haben keine Bedeutung: sie sind vorhanden.
Die Dinge selbst sind der einz’ge verborgene Sinn der Dinge.

Caeiros Bukolik hat die Kommentatoren zu immer neuen kühnen Auslegungen angestachelt. Sicher ist, daß der Dichter in dem weiß gekalkten Haus auf der Höhe eines Hügels im Ribatejo der Mondscheinlyrik und dem Symbolismus den Garaus machen will. Aber hat nicht bei diesem Hüter philosophischer Ideenherden die Phänomenologie Pate gestanden? Verkörpert sich in Caeiros Texten vielleicht der „Null-Grad der Textlichkeit“, den Roland Barthes später als Inbegriff der Modernität ansehen sollte? Berührt sich Pessoas Kunstgeschöpf gar unwillentlich mit dem Zen-Buddhismus, wie eine brasilianische Interpretin vermutet? Ein Vergleich von Texten des Zen-Buddhismus mit den Texten Caeiros offenbart erstaunliche Parallelen. Hat Pessoa die Weisheit des Ostens auf sich wirken lassen und in Lyrik umgestaltet? Wir wissen es nicht. Wie ein Hohn auf die romantische Mondscheinlyrik klingt das 35. Gedicht aus dem „Hüter der Herden“:

Der Mond durch die hohen Zweige schimmernd,
sagen die Dichter alle, sei mehr
als der Mond durch die hohen Zweige schimmernd.

Mir aber, der sich nicht vorstellen kann,
was der Mond durch die hohen Zweige schimmernd
anders sein könne
als der Mond durch die hohen Zweige schimmernd,
ist er wirklich nicht mehr
als der Mond durch die hohen Zweige schimmernd.

Caeiros erster Schüler ist Dr. Ricardo Reis. Über ihn erfährt man aus dem Brief an Casais Monteiro:

Ricardo Reis wurde 1887 in Oporto geboren…, ist Arzt und lebt im Augenblick in Brasilien.

An anderer Stelle heißt es, Reis sei ein profunder Lateinkenner und ein halber Gräzist und arbeite nicht als Arzt, sondern als Gymnasiallehrer in Brasilien, wohin ihn seine monarchistische Gesinnung vertrieben habe. Wie dem auch sei, in den Oden von Ricardo Reis spiegelt sich Pessoas in Südafrika empfangene humanistische Bildung wider, vor allem seine Vertrautheit mit Horaz. Epikureertum und Stoizismus haben sich in Reis’ Oden zu einer eigentümlichen Verbindung vereinigt. Zeitweilig scheint Pessoa geplant zu haben, Ricardo Reis als Haupt einer neuheidnischen Schule auftreten zu lassen, mit gehässiger Wendung gegen die christliche Dekadenz, aber die diesbezüglichen Programmschriften sind erst aus dem Nachlaß ans Licht gekommen. Die Oden können als reine Sprachkunstwerke betrachtet werden. Sie beziehen Christus ins Pantheon der heidnischen Götter ein:

ODE III

Gott Pan ist nicht gestorben,
auf jedem Feld, auf welchem
der Ceres’ nackte Brüste
Apollos Lächeln suchen –
erscheint früh oder spät euch
Pan, der Unsterbliche.

Der traurige Gott der Christen
hat andere nicht getötet.
Er ist nur ein weiterer Gott,
einer vielleicht, der fehlte.
Pan gießt auch heute noch
die Klänge seiner Flöte
in Ceres’ Ohren, wenn sie
lauschend auf Feldern lagert.

Die Götter sind die gleichen,
immerfort klar und ruhig,
von Ewigkeit erfüllt und
Verachtung für uns Menschen,
bringen sie Tag und Nacht und
goldene Ernten, nicht um uns
den Tag, die Nacht, das Brot
zu schenken, sondern einzig
nach ihrem rätselvollen,
göttlichen Zufallsplan.

Die Oden von Ricardo Reis stehen in engem Zusammenhang mit der neoklassizistischen Strömung im ersten Drittel unseres Jahrhunderts, als sich Europas Künstler, verstört vom Sturmschritt der technischen Neuerungen und den Greueln des Ersten Weltkriegs, auf die Wurzeln der europäischen Kultur zurückbesinnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir noch einmal einer ähnlichen Rückbesinnung beigewohnt. Im deutschsprachigen Bereich stehen Stefan George, Hugo v. Hofmannsthal und Rudolf Alexander Schröder für diese Rückbesinnung auf die Antike, in Frankreich könnte man Dichter wie Paul Valéry oder Jean Cocteau nennen, und auch in der bildenden Kunst finden wir antikisierende Künstler. Ewige Themen der europäischen Lyrik klingen in den Oden von Ricardo Reis weiter: die Flucht der Zeit und das „Carpe diem!“ des Horaz.

ODE XXI

Wie rasch vergeht doch alles, was vergeht!
Wie jung verstirbt doch alles vor den Göttern!
aaaUnd alles ist so wenig!
Nichts wissen wir, und Phantasie ist alles.
Umkränz mit Rosen dich und trink und liebe
aaaund schweig. Der Rest ist nichts.

Angst vor dem Schicksal durchwirkt die Oden des Ricardo Reis. Aber eben weil unser Schicksal undurchsichtig ist und von Übermächten gelenkt wird, denen der Dichter eher nachlässig ihre römischen Götternamen beläßt, kann der moderne Mensch von Stoikern und Epikureern Haltung lernen und Heroismus in der Absurdität bewähren. Im Kleinen groß zu sein fordert die 39. Ode:

Um groß zu sein, sei ganz: entstelle und
verleugne nichts, was dein ist.
Sei ganz in jedem Ding. Leg, was du bist,
in dein geringstes Tun.
So glänzt in jedem See der ganze Mond,
denn er steht hoch genug.

Alberto Caeiros zweiter „Schüler“ ist der Modernist Álvaro de Campos. Über ihn heißt es in dem besagten Brief an Casais Monteiro:

Álvaro de Campos wurde in Tavira (im Algarve) geboren, am 15. Oktober 1890… Er ist… in Glasgow ausgebildeter Schiffsingenieur, lebt aber heute untätig hier in Lissabon… Álvaro de Campos ist groß, mager und geht etwas gebückt…

Außerdem ist er Monokelträger. Seine Gedichte sind undenkbar ohne Pessoas ausgedehnte Lektüre Walt Whitmans, des amerikanischen Weltumarmers und großen Hymnikers, den der Portugiese ins Nervös-Dekadente abwandelt. In den frühen großen Oden aus den Jahren 1914–1916 steht Campos den italienischen Futuristen nahe; er besingt die Welt der Maschinen und die Getriebenheit des modernen Europäers mit der Devise: „Alles auf jegliche Weise fühlen“. Aus der Dynamik seiner Empfindungen entwickelt er ein portugiesisches Pendant zum Futurismus, den „Sensacionismo“, der mangels anderer Mitstreiter, nachdem Sá-Carneiro Selbstmord begangen hatte, nicht zur Entfaltung kam. Und so beginnt die „Triumph-Ode“ Álvaro de Campos’:

Im schmerzenden Lichte der großen Glühbirnen der Fabrik
fiebere ich und schreibe.
Ich schreibe mit knirschenden Zähnen, Raubtier für diese Schönheit,
eine Schönheit, den Alten noch unbekannt.

O Räder, o Triebwerke, unablässiges Rrrr!
Verhaltne Ekstase rasender Maschinen!
Rasend in mir und außer mir
durch all meine bloßgelegten Nerven,
durch alle Poren meiner Empfindung!
Meine Lippen sind trocken, dröhnende Gegenwart,
weil ich dich allzu nahe höre,
und es brennt mein Kopf, weil ich maßlos
meine Empfindungen alle zum Ausdruck bringe
und mit der Maßlosigkeit eures Zeitalters euch besingen will, ihr Maschinen!
Fiebernd und die Motoren betrachtend wie eine Tropenlandschaft –
große menschliche Tropen aus Eisen und Feuer und Kraft –
singe ich, singe die Gegenwart und die Vergangenheit und die Zukunft.
Denn die Gegenwart ist die ganze Vergangenheit, ist die ganze Zukunft,
und Vergil und Platon leben in den Maschinen und in den elektrischen Lichtern,
weil es ein Ehedem gab und Vergil und Platon Menschen gewesen sind;
Teile von Alexander dem Großen aus dem Jahre 50000,
Atome, die Fieber erzeugen im Hirn des Aschylos aus dem Jahre 100000
kreisen durch diese Riemen, durch diese Kolben und diese Schwungräder,
brüllend, kreischend, säuselnd, dröhnend, hämmernd,
überschütten meinen Körper mit Zärtlichkeiten, eine einzige Liebkosung der Seele.
Ja, könnte ich mich zum Ausdruck bringen, wie sich ein Motor ausdrückt!
Vollständig sein wie eine Maschine!
Ins triumphierende Leben rollen wie das letzte Automobil…

Der Schiffsingenieur Campos ist ein Meister der großen, generalstabsmäßig geplanten Ode, der dithyrambischen Wortkaskaden. Eines der eindrucksvollsten Gedichte unseres Jahrhunderts ist sicherlich Campos’ „Meeres-Ode“, das hohe Lied des Ozeans, wie es in dieser Vielgestalt, die Fahrten des Odysseus mit den Entdeckungsreisen und der modernen Handelsschiffahrt verknüpfend, wohl nur der Angehörige einer seefahrenden Nation komponieren konnte. Die „Meeres-Ode“ ist jedoch nicht nur eine Verherrlichung von Meer und Schiffahrt, sondern zugleich auch des menschlichen Ringens um das Absolute und nicht zuletzt auch die dichterische Verklärung des weltumgreifenden Handels, der die Völker miteinander verbindet und dem Pessoa beruflich so eng verbunden war. Davon heißt es in der Mitte der „Meeres-Ode“:

Der Tag trat in die Arbeitsstunden ein.
Alles beginnt sich zu beleben und zu regeln.
Mit großem, unbefangenem, unmittelbarem Vergnügen
durchlaufe ich mit der Seele
alle Arbeitsgänge, die zur Verschiffung von Waren nötig sind.
Meine Zeit ist der Stempel, den alle Rechnungen tragen,
und ich fühle: alle Briefe aus allen Büros
müßten an mich adressiert sein.

Eine Bordbekanntschaft hat einzigartigen Reiz,
und die Unterschrift eines Schiffskapitäns ist so schön und modern!
Handelsstrenge zu Anfang und Ende der Briefe:
Dear Sirs – Messieurs – Amigos e Senhores, –
Yours faithfully – nos salutations empressées…
All dies ist nicht allein menschlich und sauber, sondern auch
aaaschön und hat schließlich Meeresbestimmung, einen
aaaDampfer, auf dem die Waren verladen werden, um die es in
aaaBriefen und Rechnungen geht….
Kommt nur und sagt, es gäb’ keine Poesie im Handel
aaaund in den Büros!
Ihr Narren! Sie dringt ja durch alle Poren ein!… In dieser
Meeresluft atme ich sie,
weil dies alles sich auf Dampfer und moderne Seefahrt be-
aaazieht, weil Rechnungen und Geschäftsbriefe der Anfang der
aaaGeschichte und Schiffe, die Waren über ewige Meere tra-
aaagen, ihr Ende sind…

In den zwanziger Jahren verfällt Álvaro de Campos’ dynamische Heftigkeit. Die späten Gedichte sind die Aufzeichnungen eines Scheiternden, der im Leben ebenso gescheitert zu sein glaubt wie auf der Suche nach einer Antwort auf die Rätsel der Existenz.

AUFZEICHNUNG

Meine Seele ist wie ein leeres Gefäß zerbrochen.
Ist die Treppe hinuntergerollt, ganz nach unten.
Ist dem achtlosen Dienstmädchen aus den Händen gefallen.
Ist gefallen und in mehr Stücke zersprungen als Steingut an dem Gefäß war.

Eine Dummheit? Unmöglich? Was weiß ich!
Ich habe mehr Empfindungen als zu der Zeit, als ich als Ich mich fühlte.
Ich bin eine Scherbenversammlung auf einer auszuschüttelnden Matte.


Es entrollt sich die Riesentreppe mit ihrem Sternenteppich.
Eine Scherbe schimmert, auf ihre glänzende Seite gewendet, unter Gestirnen.
Mein Werk? Meine Hauptseele? Oder mein Leben?
Eine Scherbe.
Und die Götter betrachten sie ganz besonders, denn warum sie dort liegenblieb, wissen sie nicht.

Was Pessoas „Drama in Leuten“, seine Aufspaltung in verschiedene Heteronyme, zu bedeuten hat, darüber haben sich die Kritiker immer erneut die Köpfe zerbrochen. Es gibt zwar auch andere europäische Autoren unseres Jahrhunderts, die Kunstfiguren geschaffen und ihnen Teile ihres Werkes zugeschrieben haben: der Spanier Antonio Machado hat dem Turnlehrer Juan de Mairena Maximen zur Lebensführung in den Mund gelegt; der spanische Romanautor und Dichter Unamuno in seinem Roman Nebel ein „alter ego“ auftreten lassen; auch der Italiener Pirandello und seine sechs Personen, die nach einem Autor suchen, gehört wohl in diese Reihe. Aber Pessoa hat sich am radikalsten aufgespalten, denn zu den bereits erwähnten Heteronymen kommen noch verschiedene andere Halbheteronyme, die nicht ganz zur Abgerundetheit eines eigenen Werkes gediehen sind. War dieses Spiel mit Heteronymen für Pessoa eine psychische Notwendigkeit? Wollte er auf diese Weise die herrschenden Kunsttendenzen Europas angemessener begleiten? Im Entwurf zu einer bei Lebzeiten nicht zustande gekommenen Ausgabe seines Werkes heißt es einleitend:

Was kann ein genialer Mensch bei dem heute spürbaren Mangel an Literatur anderes tun, als sich ganz allein in eine Literatur verwandeln? Was kann ein sensibler Mensch bei dem Mangel an Zeitgenossen, mit denen der Umgang lohnt, Besseres tun, als seine Freunde oder zumindest geistigen Gefährten selbst zu erfinden?

Gänzlich anders als die komplizierte Bukolik Caeiros, die klassischen Oden Ricardo Reis’ oder das metaphysische Parlando Álvaro de Campos’ ist die Lyrik geartet, die Pessoa unter eigenem Namen verfaßt hat. Ihr Sammeltitel lautet „Cancioneiro“, Liederkreis, und ist sichtlich Heinrich Heine nachempfunden, den der Portugiese als Meister der abgerundeten lyrischen Kleinform hochgeschätzt hat. Die darin zusammengefaßten Gedichte schöpfen alle Klangmöglichkeiten der portugiesischen Sprache aus und bleiben daher so gut wie unübersetzbar. Sie besingen die Stimmungen eines ruhelos Umgetriebenen, unter der Last des Bewußtseins und der Gewißheit der unauflösbaren Lebensrätsel Leidenden. Eine moderne Poetik enthält das Gedicht „Autopsychographie“. Auch sie ist strikt antiromantisch; der Dichter soll nicht persönliche Bekenntnisse nachgestalten, wie dies die Romantiker taten, er soll seine Erlebnisse umformen und derart übersetzen, daß der Leser die beabsichtigte Wirkung spürt, obwohl ihm das Ausgangserlebnis des Dichters unbekannt bleibt.

AUTOPSYCHOGRAPHIE

Der Poet verstellt sich, täuscht uns so vollkommen und gewagt,
daß er selbst den Schmerz vortäuscht, der ihn wirklich plagt.

Die dann seine Verse lesen, spüren lesend nicht die beiden
Schmerzen, die in ihm gewesen, sondern Schmerz, den sie nicht leiden.

Und so fährt auf ihrem Gleise, unterhaltsam dem Verstand,
eine Spielzeugbahn im Kreise, unser Herz genannt.

Pessoa hat zeit seines Lebens nichts von den organisierten christlichen Kirchen, wissen wollen; seine Heteronyme Caeiro und Reis sind erklärtermaßen Heiden. Gleichwohl ist er ein metaphysischer Dichter, den die Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz unablässig beschäftigt hat. Gegen 1915 begann er, sich zunächst übersetzerisch mit den Büchern englischer und amerikanischer Theosophen zu beschäftigen. Er befaßte sich auch mit der Astrologie und verstand sich auf die Ausarbeitung von Horoskopen, die er sowohl für seine Freunde als auch für seine Heteronyme und die Zeitschrift Orpheu ausarbeitete. Seine Freundschaft mit dem englischen Magier Aleister Crowley endete mit dem rätselhaften Verschwinden des diabolischen, erst in den fünfziger Jahren verstorbenen Magiers im „Höllenschlund“ von Cascais. Von der Astrologie führte ihn sein Interesse an Geheimlehren über die Freimaurerei zu Rosenkreutzern, Kabbalisten und Gnostikern. Durch sein unter eigenem Namen geschriebenen Werk zieht sich, wie bei dem Iren W.B. Yeats, die Überzeugung von einer geistigen Hierarchie der Wesen, von einer Einweihung in immer höhere Grade der Erkenntnis, zu deren Erlangung der Dichter keiner Mitgliedschaft in irgendwelchen Orden bedürfe, weil er ihrer dank seiner eingeborenen Wesenheit teilhaftig werde. Zu den sogenannten esoterischen Gedichten, die Pessoa mit seinem eigenen Namen zeichnete, zählt auch das Gedicht vom Mont Abiegno, einem der geheiligten Berge der höheren Erkenntnis, die der nach tieferem Wissen hungernde Mensch erklimmen muß.

In des Mont Abiegno Schatten
ruhte ich, des Grübelns satt,
schaute auf zu dem ersehnten
hohen Schloß auf hohem Grat.
Doch ich lag, vom Grübeln matt,
in des Mont Abiegno Schatten.

Was je Liebe oder Leben,
das lag hinter mir, vernichtet,
ausgetilgt war in Vergessen,
was an Wünschen ich erdichtet.
In des Mont Abiegno Schatten
ruht’ ich, weil ich längst verzichtet.

Möglich, daß ich einst gestärkter,
sei’s an Kraft, sei’s durch Verzicht,
doch den steilen Weg versuche,
der das Felsenschloß verspricht.
In des Mont Abiegno Schatten
rast’ ich jetzt, doch rast’ ich nicht.

Muß nicht, wenn das Schloß uns ruft,
jede Rast und Ruhe schwinden?
Liegt’s auf unwegsamer Höhe,
bleibt der Weg doch zu ergründen.
In des Mont Abiegno Schatten
träume ich, ihn aufzufinden.

Doch für heute schlaf ich bloß,
schlafen heiß’ ich dies Nicht-Wissen,
schaue auf zum fernen Schloß,
achte nicht auf mein Verlangen.
Ach, wer reißt mich endlich los
aus des Mont Abiegno Schatten?

Pessoa hat sich mehrfach zur gnostischen Tradition des Christentums bekannt, wobei freilich im einzelnen schwer zu bestimmen bleibt, wo sein „transzendentales Heidentum“ aufhört und das „gnostische Christentum“ anfängt. Die erregte Spannung seines an äußeren Ereignissen ärmlichen Lebens hat der Dichter mit der Nachhilfe von Zigaretten und Branntwein aufrechtzuerhalten gesucht. Die Todesursache lautete: Leberzirrhose. Das Festival der Nerven, in welchem Pessoa lebte, benötigte ein banales Gegengewicht, wenn die Spannung überhaupt 47 Jahre hindurch gehalten werden sollte. Deshalb wohl hat er die bescheidene Tätigkeit im Lissaboner Handel geschätzt, der er im Buch der Unruhe ein Denkmal gesetzt hat. Die 520 Fragmente dieses in einem Zeitraum von zwanzig Jahren verfaßten Tagebuchs ohne Intimität sind in der deutschen Ausgabe auf 240 zusammengeschrumpft; sie enthalten die Quintessenz der Leidensgeschichte des Hilfsbuchhalters Soares, eines weiteren Geschöpfes Fernando Pessoas, das diesmal starke Ähnlichkeiten mit seinem Schöpfer zeigt und wie er einer unscheinbaren Tätigkeit in einem Lissaboner Handelshaus nachgeht. Aus der Rua dos Douradores hat Bernardo Soares ein Gleichnis des menschlichen Lebens herausgelesen:

Wir alle, die wir träumen und denken, sind Buchhalter und Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir ziehen die Summe und gehen vorüber; wir schließen die Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.

Das Buch der Unruhe, mit dem Pessoa selbst seine Werkausgabe eröffnen wollte, bietet den besten Zugang zu seiner dichterischen Welt. Es verbinden sich in ihm die Bildhaftigkeit des Prosagedichts mit der geschliffenen Kürze der Maximen zur Lebensweisheit. Der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares ist tief zerfallen mit seiner Existenz und sehnt sich zuweilen danach, ausgelöscht zu werden. Dann ruft er die Nacht mit der Inbrunst des Novalis an:

O Nacht, deren Gestirne Licht lügen, o Nacht, einzige Wesenheit von der Größe des Weltalls, mach mich mit Leib und Seele zu einem Teil deines Leibes, damit ich mich verliere und bloße Finsternis und ebenfalls Nacht werde, ohne Träume, die in mir Gestirne sind, oder eine erwartete Sonne, auf die zu warten die Zukunft erhellen könnte.

Aber da ist jeden Tag der Dienst im Stoffgeschäft Vasques & Co., der solche Höhenflüge dämpft. Wäre es nicht wünschenswert, diesen deprimierenden Alltag abzuschütteln und gänzlich in die reineren Sphären der Existenz einzutauchen? Bernardo Soares hat auch diesen Traum geträumt:

Heute habe ich mir in einer jener plan- und würdelosen Phantasievorstellungen, die einen großen Teil der geistigen Substanz meines Lebens ausmachen, ausgemalt, ich sei für immer frei von der Rua dos Douradores, von Chef Vasques, vom Buchhalter Moreira, von allen Angestellten, von dem Dienstmann, von dem Laufjungen und von der Katze. Im Traum spürte ich meine Befreiung, als hätten mir südliche Meere wunderbare Inseln zur Entdeckung angeboten. Das wäre dann die Erholung, die vollendete Kunst, die geistige Erfüllung meines Seins. Plötzlich aber mitten in diesen Phantasien, denen ich mich am bescheidenen Feiertag der Mittagspause in einem Café überließ, beeinträchtigte mir ein unangenehmer Eindruck diesen Traum: ich spürte, daß mir das leid tun würde. Ja, ich sage das, als ob ich es mit aller Ausführlichkeit sagen würde: es täte mir leid. Chef Vasques, Buchhalter Moreira, Kassierer Borges, alle diese guten Kerle, der vergnügte Laufbursche, der die Briefe auf die Post bringt, der Dienstmann für alle Arten von Transporten, die zärtliche Katze – all das ist ein Bestandteil meines Lebens geworden; ich könnte all das nicht mehr verlassen, ohne zu weinen, ohne einzusehen, daß ein Teil von mir, auch wenn es mir noch so arg erscheinen mag, bei ihnen allen zurückbleiben, daß eine Trennung von ihnen einem halben Tod gleichkommen würde.

Es ist gewiß erlaubt, hinter diesen Geständnissen des Hilfsbuchhalters Soares das Einverständnis Fernando Pessoas zu vermuten. Wo immer nämlich sich der Alltag unseres Lebens abwickeln mag, ob in der Seitenstraße einer Handelsmetropole oder in einem fürstlichen Palast, den großen Fragen des Lebens sind wir überall gleichmäßig nahe und bedürfen keines erhöhten Schauplatzes, um mit ihnen konfrontiert zu werden.

Und wenn das Büro in der Rua dos Douradores für mich das Leben verkörpert, so verkörpert mein zweites Stockwerk, in dem ich in der gleichen Rua dos Douradores wohne, für mich die Kunst. Jawohl, die Kunst, die in derselben Straße wohnt wie das Leben, jedoch an einem anderen Ort, die Kunst, die das Leben erleichtert, ohne daß es deshalb leichter würde zu leben, die so eintönig ist wie das Leben selber, nur an einem anderen Ort. Jawohl, diese Rua dos Douradores umfaßt für mich den gesamten Sinn der Dinge, die Lösung aller Rätsel außer der Tatsache, daß es Rätsel gibt, die keine Lösung finden können.

Der Dichter, der so eindringlich den Alltag verteidigt und rechtfertigt, ist fünfzig Jahre nach seinem Tode gegenwärtiger als zu Lebzeiten. Seine wichtigsten Werke sind in alle Kultursprachen übertragen worden. Er gehört wie Stendhal zu jenen Autoren, die sich ihres Wertes bewußt waren, aber hellsichtig begriffen, daß sie erst nach ihrem Tode Ruhm und Anerkennung finden würden. Im Buch der Unruhe heißt es dazu:

Zuweilen denke ich mit traurigem Vergnügen daran, daß ich… doch noch zu guter Letzt Menschen finden werde, die mich ,verstehen‘, meine Leute, meine wahre Familie, wie geschaffen dazu, in ihrem Schoß auf die Welt zu kommen und geliebt zu werden. Doch weit davon entfernt, in dieser Familie auf die Welt zu kommen, werde ich schon seit langem verstorben sein. Ich werde nur in effigie, als Abbild verstanden werden, wenn die Zuneigung den Verstorbenen nicht mehr für die ausschließliche Abneigung entschädigen kann, die ihm zuteil wurde, als er noch am Leben war.
Eines Tages wird man vielleicht einsehen, daß ich wie kein anderer meine eingeborene Pflicht als Dolmetscher für einen Teil unseres Jahrhunderts erfüllt habe; und wenn man das verstanden hat, wird man schreiben, daß ich zu meiner Zeit unverstanden blieb, daß ich unseligerweise Ablehnung und Kälte zu spüren bekam und daß es schade ist, daß mir dies widerfahren mußte. Und wer dies schreibt, wird zu der Zeit, in der er es schreibt, wie meine jetzige Umgebung meinem Nachfolger in jener künftigen Zeit verständnislos gegenüberstehen. Denn die Menschen lernen nur zum Nutzen ihrer Urgroßeltern, die schon verstorben sind.

Was ist das für eine Dolmetschertätigkeit, die Pessoa erfüllt zu haben glaubt? Die Frage läßt sich nur andeutungsweise beantworten: Er übersetzt den Zusammenbruch der überlieferten geistigen Werte in eine Dichtung, die bei allen Akzenten der Verzweiflung doch auch ein aufbegehrendes Dennoch kennt. Er hat wie Gottfried Benn oder Heinrich Mann im deutschen Sprachraum ein Bekenntnis zur überdauernden Macht der Kunst und der Literatur abgelegt.

Die Literatur, die eine mit dem Denken vermählte Kunst und eine Verwirklichung ohne den Makel der Wirklichkeit ist, scheint mir das Ziel zu sein, das jede menschliche Anstrengung ansteuern sollte, wenn sie wahrhaft menschlich und nicht ein Überrest der Tierhaftigkeit wäre.

In einer Zeit, in der die visuelle Unterhaltungsindustrie dem Buch manche Leser zu entfremden droht, wirken diese Worte des portugiesischen Dichters ebenso visionär wie tröstlich.

Georg Rudolf Lind

 

Am 30. November 1985

jährte sich zum 50. Mal der Todestag Fernando Pessoas (1888–1935), den Portugal als seinen größten Dichter in unserem Jahrhundert und seinen bedeutendsten Lyriker seit den Tagen des Camões betrachtet.
So merkwürdig es erscheinen mag. Pessoa, der heute im Rückblick als für das literarische Leben in Portugal der ersten Jahrhunderthälfte überragend repräsentativ erscheint, war bei Lebzeiten nur einem kleinen Kreis von Kennern und Liebhabern bekannt und hatte ein einziges Buch veröffentlicht.
Heute ist Fernando Pessoa gegenwärtiger als zu Lebzeiten. Seine wichtigsten Werke sind in alle Kultursprachen übersetzt. Er gehört wie etwa Mandelstam zu jenen Autoren, die sich ihres Wertes bewußt waren, aber hellsichtig begriffen, daß sie erst nach ihrem Tode Ruhm und Anerkennung finden würden.
Im deutschen Sprachraum wurde Pessoa mit dem Erscheinen des Buches der Unruhe 1985 einem breiten Lesepublikum zugänglich gemacht und als eine der Schlüsselfiguren der literarischen Moderne anerkannt.
Das hier vorliegende Lesebuch Algebra der Geheimnisse, das eine Formulierung Pessoas als Titel trägt, möchte einen Einblick in Leben und Werk dieses überaus vielschichtigen Dichters vermitteln, der einst bekannte:

Die Literatur, die eine mit dem Denken vermählte Kunst und eine Verwirklichung ohne den Makel der Wirklichkeit ist, scheint mir das Ziel zu sein, das jede menschliche Anstrengung ansteuern sollte, wenn sie wahrhaft menschlich und nicht ein Überrest der Tierhaftigkeit wäre. Ich glaube, eine Sache ausdrücken heißt ihre Kraft zu bewahren und ihr den Schrecken nehmen.
Sich bewegen heißt leben, sich aussagen heißt überleben.

Ammann Verlag, Klappentext, 1986

 

Ein Mann, drei Dichter

– Die Geheimnisse und Verwandlungen des Fernando Pessoa. –

Viele Literaturfreunde könnten sich darauf einigen, daß Rainer Maria Rilke, Vladimir Majakovskij und Paul Valéry, zumindest in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, zu den bedeutendsten Poeten der Weltliteratur zählten, aber es dürfte nicht so einfach sein, die Reihe berühmter Namen einstimmig fortzusetzen, vor allem nicht, wenn die Schriftsteller leider nicht Nationen angehören, die mächtig in der Mitte der neueren Geschichte standen.
Über Konstantin Kavafis und Vítězlav Nezval, den Griechen und den Tschechen, werden sich selbst unterrichtete Leser moderner Lyrik nicht leicht einigen, und der Fall des Portugiesen Fernando Pessoa ist noch viel komplizierter, und das aus vielerlei Gründen.
Der erste, aber nicht wesentlichste, liegt darin, daß Pessoa, solange er lebte, auch seinen Landsleuten ein mehr oder minder Unbekannter war. Er publizierte in Lyrik-Zeitschriften eher als in selbständigen Büchern und hinterließ eine klapprige Schreibmaschine und fast dreißigtausend Manuskripte in zwei Truhen, in denen seine Herausgeber noch immer Überraschungen finden. Man begann seine verstreuten Gedichte erst nach dem Tode (1935) zu sammeln, und der editorischen Überlegungen, wie und in welcher Reihenfolge seine Gedichte gedruckt werden sollten, ist kein Ende.
Der deutsche Leser darf dabei von ganz besonderem Glück sagen; Paul Celan war er erste, der (gut beraten von Edouard Roditĭ, dem Kenner der europäischen Avantgarde) eine Anzahl wichtiger Gedichte ins Deutsche übersetzte (1956); und obgleich sich das europäische Bewußtsein von Pessoas Leistungen an der Übersetzung seiner Werke in die anderen romanischen Sprachen orientierte (vor allem an der Übertragung ins Spanische durch Octavio Paz), so befand sich doch, schon in den fünfziger Jahren und an Ort und Stelle, der Berliner Georg Rudolf Lind als junger Stipendiat einer deutschen Universität unter den literarischen Herausgebern des Nachlasses. Er setzt Celans Bemühungen, in diesem portugiesischen Falle, seit langem als genauer Kenner der Manuskripte und loyaler Philologe fort, dessen gesammelte Pessoa-Forschungen vor wenigen Jahren in Lissabon in einem umfangreichen Band erschienen sind.
Fernando Pessoas Lebensgeschichte ist weniger romanhaft als seine Versuche, sie zu vertuschen oder gar auszuradieren. Der Junge wurde im südafrikanischen Durban (in der Familie seines in portugiesischen Konsulardiensten stehenden Stiefvaters) von irischen Nonnen erzogen, dachte und schrieb englisch, ehe er in Lissabon Literatur studierte, und hörte nie auf, englisch zu schreiben (ein ähnlicher Fall wie Tommaso Marinetti, der Organisator der italienischen Futuristen, der in Alexandria von französischen Jesuiten erzogen wurde und lange französisch schrieb, eher er ins Italienische, seine „Familiensprache“, hinüberwechselte ).
Pessoa, dessen Name „Person“ bedeutet, wollte eine „Unperson“ sein; er hauste in möblierten Zimmern, beendete die Liebesaffäre seines Lebens mit einem Brief, in dem er seiner Ofélia (einer Bürokollegin) mitteilte, seine literarische Arbeit sei ihm wichtiger als seine Gefühle, und arbeitete als Fremdsprachenkorrespondent; wenn er – schmalen Gesichts, bebrillt, mit Hut und Raglan – ins Café Martinho da Arcada ging, war er von Tausenden anderen Lissabonner Büroangestellten nicht zu unterscheiden.
Sein Ehrgeiz war auf andere Ziele ausgerichtet, und während er sich selbst in den Schatten schob, schrieb er die Werke zumindest drei anderen Poeten, die er sich erfand, und skizzierte dazu noch ihre Biographien, komplett mit Geburtsort, Tanten, Beruf und der Farbe ihrer Augen. Es ist so, als ob ein gewisser Rilke, mit Absicht mausgrau und Angestellter in Speditionsfirmen, in seiner Freizeit in einem möblierten Zimmer die Gedichte Trakls, Stefan Georges und Johannes R. Bechers (des jungen, genialischen) geschrieben hätte und die Gesammelten Werke von Rainer Maria Rilke noch dazu.
Der Leser bedarf also einiger Hilfe, aber das in Zürich erschienene Lesebuch Pessoa: Algebra der Geheimnisse leistet sie nur halb. Es nennt keinen Herausgeber, und es ist auch so, ein Eintopf, in dem man ein wenig mühsam nach nahrhaften Stoffen stochert. Die beiden nützlichsten Stücke sind die einführenden Essays von Georg Rudolf Lind und Octavio Paz. Sie breiten beide analoge biographische Materialien aus, unterscheiden sich aber im Ton und in ihren Interessen: Lind wohl balanciert und eher bemüht, den konservativen Pessoa in Opposition zu Gesellschaft und Staat zu sehen (ob man allerdings berechtigt ist, die Spuren konvertierter Juden unter seinen Ahnen in seiner „Physiognomie“ und seiner „metaphysischen Unrast“ zu erkennen, ist eine andere Frage); Octavio Paz persönlicher, entschiedener in der Betonung futuristischer Elemente in Pessoas Poesie und prägnant in der Skizze seines Pessoa-Porträts: ein „Anglomane, kurzsichtig, höflich, scheu, schwarz gekleidet, zurückhaltend und schlicht, ein Kosmopolit, der den Nationalismus predigt, ein Humorist, der nie lächelt und das Blut in den Adern gefrieren läßt“.
Da können die anderen Essays nicht mit, weder ein Vergleich Pessoas mit Robert Walser noch die semiotische Pflichtübung, in welcher der (vor)letzte theoretische Schrei aus Paris fast restlos über den poetischen Text triumphiert. Vielleicht wäre es doch nützlicher gewesen, auch auf die grundlegenden portugiesischen Arbeiten von J.G. Simões und Mário Sacramento zurückzugehen, vom Pessoa-Essay des berühmten Linguisten Roman Jakobson gar nicht zu reden.
Die Lektüre Pessoas ist eine denkbar schwierige Aufgabe, denn es ist unmöglich, ihn allein und nicht die Werke seiner Kunstgeschöpfe, oder gerade sie, zu lesen, die alle, als Dichter ihrer Zeit, eine eigene Sprache und Physiognomie besitzen. Pessoa erklärte, zu verschiedenen Zeiten und verschiedenen Briefpartnern gegenüber, warum er sich in seine lyrischen Erfindungen zerstreue. Einmal sagte er, er sei eigentlich ein „dramatischer Dichter“, der Rollen schaffe; ein andermal, er wollte einem Redakteur einen Streich spielen, und ein drittes Mal (diese Erklärung scheint mir ganz besonders verräterisch zu sein), die gegenwärtige Epoche der Welt habe viele Züge, und die Dichtung müßte sie alle zur Sprache bringen. Pessoa, der jahrzehntelang an einem Faust-Manuskript bosselte, arbeitet an dem faustisch absoluten Vorhaben, das Plurale des Vorhabens, das Plurale des Weltgefüges durch divergente Stimmen zum Ausdruck zu bringen und die Möglichkeiten der modernen Poesie restlos zu realisieren – durch die Gedichte des ländlichen Alberto Caeiro, der aus seinem Fenster in die Landschaft blickt, um, die Dinge nennend, dem Weltall „das Weltall zu bringen“; durch die Oden seines Bewunderers Ricardo Reis, eines Epikuräers, der vom Gedanken an die Vergänglichkeit gemartert wird; und die Gedichte des Ingenieurs Álvaro de Campos, der, jüdischer Herkunft, febril und trunken wie ein Futurist, im Rhythmus der Großstädte schreibt, wenn ihn nicht metaphysische Fragen bedrängen, die nach Antwort rufen.
Diese drei sind aber nicht die einzigen; als Buchhalter Soares hat Pessoa sein Buch der Unruhe geschrieben, in aphoristischen Notizen, und in den Manuskripten regen sich noch andere Kunstgeschöpfe als Homunculi, die sich nicht über das embryonale Stadium hinaus entwickelt haben. Selbst Detektivromane hat Pessoa zu schreiben begonnen, und es wäre interessant, zu wissen, was aus Dr. Queresma, seinem portugiesischen Maigret, geworden wäre.
In einigem Gegensatz zu dem improvisierten Fernando Pessoa-Lesebuch ist die im gleichen Verlag erschienene Sammlung der Gedichte Alberto Caeiros und der Oden von Richard Reis zum ersten Male sinnvoll geordnet und in deutscher Sprache (dem Originaltext gegenüber) eine würdige, philologisch stichhaltige und ästhetisch reizvolle Produktion, für die alle Freunde der modernen Lyrik dankbar sein werden. Caeiro und Reis haben manches gemeinsam, vor allem ihre Abneigung gegen das Christentum, auch eine Konsequenz Nietzsches, und ihr lyrisches Desinteresse an Staats- und Gesellschaftsfragen, aber Caeiro hört sich naiver an als der kunstvolle Reis, der die alten Sprachen studiert.
Caeiro, ein Franziskaner ohne Gott, lebt auf einem Gut im flachen Ribatejo, polemisiert gegen Philosophie und Metaphysik (… welche Metaphysik haben die Bäume…?) und rühmt die Dinge, die, ganz anders als bei Rilke, nichts anderes bedeuten als sich selbst, „… der Mond durch die hohen / Zweige schimmernd, / ist … wirklich nichts mehr / als der Mond durch die hohen Zweige schimmernd“. Er lebt als Augenmensch, will nicht reflektieren und spricht seine Monologe vor sich hin: „Denken ist lästig, wie ein Gang durch den Regen, / wenn der Wind zunimmt und es stärker zu regnen scheint“.
Reis, ein Monarchist (der in der republikanischen Epoche in Brasilien lebt), ist der bewußtere Künstler, der sein Heidentum programmatisch in der Nachahmung strenger antiker Kunstformen, soweit das im Portugiesischen möglich ist, verwirklichen will; er spricht zu Chloe, Lydia, Neera oder ihren Schatten und sucht, in der dahinschwindenden Existenz, die Illusion der Stille, der Freiheit und des Glücks, „in die Ohren steigt mir / des Uferschilfrohrs Rauschen / im stillen Winkel, wo die kalten Lilien / der unteren Saaten wachsen, und die Strömung / nicht weiß, wohin der Tag floh, / ein seufzendes Gemurmel“.
Als Übersetzer hat Georg Rudolf Lind die diffizile Aufgabe, uns – in genauer Kenntnis der Sprache Pessoas – Verfahren und Idiom seiner Kunstgeschöpfe zu artikulieren, und Caeiros meditativer und frei dahinströmender Vers mit seinen musikalischen Wiederholungen und etymologischen Spielen ist nur scheinbar einfacher zu übersetzen als die kontrollierten Rhythmen und die epigrammatische Bildhaftigkeit seines jüngeren Schülers Reis, dessen Wortstellungen selbst dem einheimischen Leser Schwierigkeiten bereiten.
Im Parlando Caeiros hat der Übersetzer nicht immer der Versuchung widerstanden, Vokale zu kurzen (einzige) und Fachausdrücke aus späterer Zeit („Vollbeschäftigung“) zu gebrauchen und so ins Historisierende und Aktualisierende zugleich zu geraten, aber gerade dort, wo ihn das gläsern Durchsichtige und rhythmisch Komplizierte der Ode zwingt Reis in deutscher Sprache zu antworten, sind Linds Übersetzungen makellos leicht und genau. Die Übersetzung der Gedichte des Álvaro de Campos, dem sich Pessoa immer am nächsten fühlte, sind bereits angekündigt: den Lesern europäischer Lyrik, wenn es sie noch gibt, stehen wunderbar provozierende Überraschungen ins Haus.

Peter Demetz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.8.1987

 

 

 

Zwiesprachen: Monika Rinck über Fernando Pessoa am 15.5.2019 im Lyrik Kabinett, München

 

 

Hans-Jürgen Heise: Rangierbahnhof fremden Lebens

Harald Hartung: Eine Ästhetik der Abdankung. Fernando Pessoa deutsch, Merkur, Heft 493, März 1990

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Fernando Pessoa

 

Astrid Nettling. Ich bin eine Gestalt aus einem noch zu schreibenden Roman

 

Allen Ginsberg liest Fernando Pessoa – Gruß an Walt Whitman – 22. Juni 1981

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram 1, 2 & 3 + KLfG +
StadtbildInternet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

 

Fernando Pessoa – Dokumentation.

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