Sherko Bekas: Geheimnisse der Nacht pflücken

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Sherko Bekas: Geheimnisse der Nacht pflücken

Bekas-Geheimnisse der Nacht pflücken

SORGE

Ich ging durch einen Wald,
auf meinem Weg
kam eine Tanne auf mich zu
und fragte nach den Wolken.
Ich sagte:
Sie sind unterwegs zu dir.
Vor kaum einer Stunde
sah ich sie auf dem Gipfel.

Ich ging nur ein Stück weiter,
da fasste mich ein Walnusszweig
am Kragen und fragte:
Weißt du nicht, wohin
die Brise gegangen ist?
Zwei Tage habe ich sie
nicht mehr gesehen.
Ich sagte:
Sie hat beim Schnee geschlafen.
Ich selbst sah sie dort.

Nach ein paar weiteren Schritten
gab mir ein dunkler Olivenbaum
ein Zeichen und fragte:
Hast du eine Taube gesehen
mit blauer Brust und schönem Gesang?
Ich sagte:
Ja, ich sah sie auf jenem Hügel,
wo sie den Weg ins Herz eines Hirten
gefunden und bald darauf
aus ihm ein Nest gebaut hat.

Als ich weiterging,
strich sich eine Trauerweide
eine Strähne aus dem Gesicht
und fragte:
Hast du einen rundlichen Fisch gesehen,
der ein schuppiges Kleid trägt?
Ich sagte:
Ich kenne ihn.
In einem Garten dort drüben,
im Boot eines breiten Feigenblattes.
Ich selbst sah die beiden:
Er steckte sein Maul
in das Maul eines roten Fisches
im Teich.

Ich ging an ihnen vorüber.
Ein Kirschbaum kam mir in den Weg
und fragte:
In welchem Land der Liebe
ist meine geliebte Nachtigall gefangen?
Ich flüsterte in sein Ohr
und zog aus meiner Tasche
ihre neueste Adresse.

Als ich den Wald verließ und weiterging,
sah ich eine Axt rennen,
außer Atem, mit schlammbedeckten Füßen.
Sie kam auf mich zu,
als sie mich sah, hielt sie an
und sagte:
Ich habe einige rebellierende Bäume
verloren.
Ich habe lange gesucht,
Garten für Garten,
Haus für Haus.
Hast du sie nicht gesehen?

In diesem Moment beschloss ich,
blind, taub und stumm zu werden.

 

 

 

Sherko Bekas und die vielen Formen der Freiheit

In meiner Jugendzeit besuchte ich jede Woche meinen Onkel mütterlicherseits, um mir aus seiner Bibliothek Bücher zu leihen. Die Titel der meisten sind mir inzwischen entfallen. Aber an einige, die mich tief beeindruckten, kann ich mich heute noch erinnern. Dazu gehört ein Gedichtband von Sherko Bekas mit dem Titel Meinen Durst stillt nur das Feuer. Gleich die ersten Strophen zogen mich in ihren Bann. Diese leuchtenden, gewaltigen Zeilen packten mich so sehr, dass ich es bis heute spüren kann. Je mehr ich las, umso klarer wurde mir, dass Sprache mehr vermag, als nur etwas darzustellen und auszudrücken. Bislang hatte ich hinter jedem Text seinen Sinn und die Absicht des Autors gesucht. Aber in diesem Augenblick spürte ich zum ersten Mal die Ästhetik der Sprache als eigenständige Kraft und begriff, dass die Befreiung der Sprache wesentlicher ist als der Sinn hinter den Worten. Sherko Bekas’ Poesie schwebte außerhalb jener rigiden Lyrikstrukturen, die ich kannte. Sie war ein endgültiger Abschied von der klassisch traditionellen Dichtkunst, deren Normen so lange als unantastbar und heilig gegolten hatten.
Etwa sechs Jahre nach dieser Entdeckung sah ich ihn zum ersten Mal, in einem kleinen Teehaus in Sulaimaniya, gebeugt über, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, den Roman Die Pest. Zu jener Zeit war er bei der kurdischen Leserschaft bereits hoch angesehen, und seine jüngste Gedichtsammlung Dämmerlicht lag in den Buchhandlungen. Er war kurz zuvor, nach seinem Exil im Süden vom Irak, wieder in den Norden nach Kurdistan zurückgekehrt und hatte eine unbedeutende Anstellung im Amt für Wasserversorgung. Noch hatte er es nicht gewagt, sich endgültig niederzulassen, da er fürchtete, die Baathisten würden ihn erneut verhaften und in den Süden ins Exil schicken.
Wir begannen zu reden, und sofort fühlte ich die tiefe, immerwährende Unruhe in seinem Innersten, die ihn bis zu seinem Tod begleitete. Seine Körpersprache drückte das aus, was in ihm keinen Frieden finden konnte. Über die Jahre traf ich ihn immer wieder, aber die tobende Unruhe, wie ich sie bei der ersten Begegnung wahrgenommen hatte, begleitete ihn ständig. Selten sah er den Menschen in die Augen. Wenn er es aber tat, dann war es, als würde er für einen kurzen Augenblick aus sich herausschlüpfen, um ebenso schnell wieder in sich hineinzuflüchten. Sein mächtiger Körper, sein wildes, dichtes Haar und seine wie gemeißelt wirkenden Gesichtszüge ließen ihn unerschütterlich wirken, aber in Wirklichkeit ertrank er in Scham und Unsicherheit. Im Gespräch wurde seine rauchige Stimme nie laut. Wenn er aber Gedichte vortrug, verwandelte er sich in einen anderen Menschen: Er wurde zu einem, der in die weiteste Ferne hinausschreien, Wut und zugleich Freude zeigen kann. Dann war seine Schüchternheit wie verflogen.
Gedichte zu verfassen, war für ihn mehr als nur ein Akt des Schreibens. Er stellte damit eine Beziehung zur Welt her. Und genau diese Beziehung wollte er beim Vortrag seiner Gedichte zeigen und verkörpern. So wichtig, wie uns Kurden seine Gedichte waren, so sehr erwarteten wir auch, sie aus seinem Mund zu hören. Wenn er sie vortrug, unter Einsatz seines ganzen Körpers, laut rufend, ja, schreiend, wurde das, was er niedergeschrieben hatte, erst lebendig und vollkommen. Außer ihm selbst konnte kein anderer die Tiefe seiner Poesie wiedergeben.
Bei jener ersten Begegnung trug er die handgeschriebene Übersetzung von Der alte Mann und das Meer in seinem Aktenkoffer. Die erste Frage, die ich an ihn richtete, war, warum er diese Novelle übersetze. „Weil sie von der Kraft und dem Wagemut eines Individuums handelt“, antwortete er. Auch bei späteren Gesprächen, die ich mit ihm führte, beharrte er darauf, dass kreative Menschen einsame Geschöpfe seien, während ihm sein eigener zutiefst paradoxer Zustand bewusst war: Er wollte ein einsamer Fischer sein wie Santiago, aber die politischen Umstände in Kurdistan zwangen ihn zu einer anderen Bestimmung. Die Kurden in allen Teilen Kurdistans sahen in ihm den Dichter ihrer Nation, ihren Helden, der dem Herzen des kurdischen Volkes entsprungen war. Und ihre Erwartungen an ihn kannten keine Grenzen. Er aber sehnte sich danach, inmitten der Poesie des Meeres einsam wie Santiago zu kämpfen.
Sherko Bekas hatte keine Wahl. Er wurde in die Politik und den Lauf der Geschichte hineingezwungen, und war zeit seines Lebens ein Teil davon. Schon in jungen Jahren gehörte er zu den Gründern einer kleinen nationalistischen Partei, die an ein großes Kurdistan aus allen seinen vier Teilen glaubten. Diese Partei bestand aber nur aus einer Handvoll Intellektueller. Sie erreichte nie die breiten Massen und verschmolz bald mit anderen Parteien. In den Fünfzigerjahren bis hin zu den Siebzigerjahren war für Sherko Bekas und seine Zeitgenossen, so wie für viele andere Schriftsteller auf der Welt, die Politik unausweichlich. Also war auch seine Literatur politisch geprägt. Bewusst arbeitete er daran, dass seine Lyrik bei der Befreiung des kurdischen Individuums eine Rolle spielte. Literatur und Politik sollten sich einander annähern, beide nach den gleichen Zielen streben und am großen Freiheitsprojekt beteiligt sein.
In den Achtzigerjahren widmete er sich zur Gänze dem politischen Kampf gegen Saddam Hussein. Die meisten wussten, dass aus seiner Feder die Texte der Hymnen stammten, welche in den Bergen die Widerstandsbewegung gegen das Regime sang. Er schrieb gegen die Brutalität der Baathisten und gegen alle Diktatoren seines Weltteils. Sherko Bekas sah aber nicht nur die faschistischen Bewegungen und Diktatoren als eine große schwarze Wolke, sondern ebenso die Mullahs und die Religionsgelehrten. Im Jahre 1970 gab er mit seinen Kollegen das literarische Ruanga-Manifest heraus und forderte darin radikale Reformen. Und das nicht nur in der Lyrik, sondern in allen Bereichen des Lebens. Weil er sich gegen den blinden Gehorsam in der Religion stellte, wurde er zur Zielscheibe einer Großoffensive. Er wurde bei Freitagspredigten in den Moscheen angegriffen, und einige Mullahs sprachen eine Fatwa gegen ihn aus. Ab diesem Zeitpunkt und bis zu seinem letzten Atemzug stand er in einem unaufhörlichen Konflikt mit den Islamisten, die sogar nach seinem Tod nicht aufhörten, den Wert seiner Werke herabzusetzen. In ihren Augen war er ein Vorreiter des Atheismus und Vorbild der Ungläubigen.
Seine Gedichte waren eine große Bemühung, ein neues Lebensgefühl entstehen zu lassen. Er pries und besang alle Formen der Freiheit: die Freiheit der Nationen, die Meinungsfreiheit, die Freiheit des Körpers bis hin zur Freiheit in der Liebe und der Religion.
Der wachsende Druck und die schwerwiegenden Drohungen brachten ihn in Lebensgefahr. Er musste Kurdistan verlassen und in Schweden Asyl suchen. In den Jahren seines schwedischen Exils fand er Anerkennung auch außerhalb der kurdischen Grenzen. Er verkehrte mit renommierten Dichtern wie Ahmad Schamlou und Adonis, und allmählich kristallisierte sich heraus, dass er zu den herausragenden Poeten der zeitgenössischen Literatur gehörte. Im persischen, aber auch im arabischen Raum fand er weitherum Anerkennung. 1988 wurde er mit dem schwedischen Tucholsky-Preis ausgezeichnet, der an Schriftsteller verliehen wird, die aufgrund ihrer Weltanschauung in ihrer Heimat bedroht und verfolgt werden. In Schweden schrieb er das große Poem Darbendi Papula, das als eines der wichtigsten Werke der kurdischen Literatur gilt.
Als sich Saddams Streitkräfte im Jahre 1991 aus der kurdischen Region zurückzogen und eine kurdische Verwaltung zustande kam, kehrte Sherko Bekas in die Heimat zurück. Er wurde mit offenen Armen empfangen. In welcher Stadt auch immer er seine Gedichte vortrug, füllten sich die Veranstaltungshallen mit Hunderten von Literaturliebhabern, die ihm erstaunt lauschten. Bei der Bildung der ersten kurdischen Regierung wurde ihm das Amt des Kulturministers angeboten, von dem er aber bald zurücktrat, als ein neues Gesetz die Pressefreiheit einschränkte. Fortan widmete er sich einem neu gegründeten Verlag.
In diesen Jahren wurde mein Verhältnis zu Sherko Bekas immer enger, obwohl unsere Welten, die Poesie und die Prosa, weit auseinanderlagen.
Im Jahre 1992 hielt ich einen Vortrag über die Beziehung zwischen Lyrik und Geschichte in Sherko Bekas’ Poesie. Er saß in der ersten Reihe und hörte, ungeduldig wie üblich, zu. Ich vertrat die These, dass Sherko eine faustische Beziehung zur Geschichte habe, der er zur Gänze seine Seele verschrieben hatte, damit ihn die Geschichte zu ihrem Vertreter macht. Am Ende des Vortrags wirkte er niedergeschlagen. Ich war mir sicher, dass er sich aus tiefster Seele wünschte, ein Dichter der einfachen, kleinen und vergänglichen Dinge zu sein, losgelöst von jeglicher politischer Aufgabe. Ein Dichter der Geschichte wollte er nicht sein. Ihm ging es darum, der Poesie ihre wahre Essenz zurückzugeben – als eine menschliche Handlung und nicht als eine politische Aktion.
Sherko war ein äußerst kreativer Dichter. Immer wieder wandelten sich sein Stil und die Technik seiner Poesie. In seinen späteren Jahren widmete er sich oft dem Epos. Meisterhaft konnte er die kleinen Dinge mit großen historischen Ereignissen verknüpfen. In seinem Langgedicht Der Stuhl veranschaulicht er durch einen schlichten Stuhl die kurdische Geschichte über siebzig Jahre. In seinen letzten Jahren trieb ihn die Beobachtung um, dass die großen Entwicklungen in Politik und auch Natur die Besonderheiten der kleinen und schlichten Dinge zerstört hatten. Sein gesamtes Werk, das mehr als zehntausend Seiten umfasst, ist auf grandiose Weise mit dem gesamten Orient und Kurdistan verbunden, genährt aus den historischen Ereignissen und den Besonderheiten der Natur, getränkt mit mystischen Symbolen und Signalen, hinter denen sich bestimmbare Personen und Namen, alte Sagen und wahre Begebenheiten verbergen. Er war eine wandelnde Enzyklopädie der kurdischen Literatur. Er bewahrte und belebte in seinem Werk den reichen Wortschatz der Sorani-Sprache, er war der Dichter der kurdischen Nation, doch nie hat das die universelle Gültigkeit; seines Werks eingeengt. Seine Stellung unter den Dichtern, jenen aus der Vergangenheit wie der Gegenwart, ist einzigartig.
Bei unserer letzten Begegnung sprachen wir über Walter Benjamins These über das Aquarell Angelus Novus von Paul Klee, das jenen Engel der Geschichte darstellt, der sich mit aufgerissenen Augen, offenem Mund und ausgespannten Flügeln von etwas zu entfernen scheint. Benjamin schreibt:

Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe. […] Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat […] und treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft.

Ich denke, wenn es im Orient so einen Engel gäbe, dann hätte er Sherko Bekas’ Gestalt und würde mit betrübtem Blick auf die Trümmer der Vergangenheit und der Zukunft schauen.
Während fünfzehn Jahren besuchte ich ihn jedes Mal, wenn ich nach Kurdistan reiste. Er war ein außergewöhnlicher Kettenraucher. Immer wieder schaute er auf die Zigarette in der Hand und meinte:

Ich weiß, sie wird mich umbringen, aber ich kann mich nicht von ihr trennen.

So war es dann auch. An einem Sommertag im Jahre 2013 stand ich vor einem Gemälde von Goya im Museo del Prado in Madrid, als ich die Nachricht von seinem Tod erhielt. Die jahrelange Unruhe und das Rauchen haben ihn schließlich besiegt. Er starb an Lungenkrebs in einem Stockholmer Krankenhaus. Nun ruht er im öffentlichen Park der Freiheit in Sulaimaniya. Seine Grabstätte ist die einzige frei zugängliche in diesem Park. Er hat unsere Sprache erneuert und die Weltanschauung vieler Menschen in Kurdistan beeinflusst. Er war ein Dichter der Humanität und hat die Sprache des Menschen gesprochen. Viele Schriftsteller unserer Generation mussten darum ringen, sich vom Einfluss seines Stils zu befreien. Wie sehr die Meinungen über ihn sich auch unterscheiden mögen, ich denke, alle Generationen nach ihm werden in seiner Schuld stehen.

Bachtyar Ali, Vorwort

 

Die Gedichte von Sherko Bekas,

dem großen Erneuerer der modernen kurdischen Literatur, sind eine Reise durch das uns unbekannte poetische Kurdistan. Bekas zaubert eindringliche Sinn- und Klangbilder aus der Erinnerung seines Volkes. Auf unscheinbaren, oft bestürzend stillen Beobachtungen baut er seine Poesie behutsam auf. Auch die Natur, Feind und Verbündeter zugleich, beginnt zu sprechen und eröffnet Raum und Ruhe für den Traum, die Trauer und die Hoffnung.

Unionsverlag, Ankündigung

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

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