Noch eine zur Hälfte schlaflose Nacht; also zusätzlich Zeit für (mühsame) Lektüren – weiter mit Tschuang-Tse am Leitfaden von Jean-François Billeter, mit Leiris am Leitfaden der Spielregel, mit Schopenhauers Pandectae, und auf fast jeder Seite, da wie dort, ein erhellender Fund; doch irgendwann seh ich nichts mehr vor Müdigkeit und muss den Kampf um den Schlaf erneut aufnehmen.
Das Einschlafen als vorgezognes Sterben, der Traum als Jenseitserfahrung?
Weder Geburt noch Tod können als individuelle Leistung gelten: Weshalb, wozu denn also das ewige Gedenken; wozu − und wohin! − der Wunsch, unter Grabsteinen und modriger Erde „in Frieden zu ruhen“, so als wäre Friede ein seliger Ruhezustand!
Wahr ist wohl eher das Gegenteil: Friede als Zustand unseliger Spannung und leerlaufender Umtriebigkeit, folglich doch eher Akt denn Latenz.
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Übersetzen als Tagwerk. Mit ihren Schreibheften, die ich zur Zeit ins Deutsche bringe, zwingt mich die Zwetajewa in die Vertikale, manches bleibt mir verschlossen, anderes irritiert mich durch (rare Mischung:) selbstgerechte Zerknirschung; wieder anderes verhilft mir zu frappantem Erkenntnisgewinn oder zu sprachlosem „Aha!?“
Bisweilen muss man fehlerhaft, unvollständig oder ungenau übersetzen, um das Richtige (das vom Autor offenkundig Gewollte) zu treffen.
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Die besten Bücher muss ich selbst schreiben; freilich werde ich deren einziger Leser sein.
Ambivalentes Optimum.
Bücher in den Müll oder ins Kaminfeuer zu schmeissen, das war für mich bisher ein streng einzuhaltendes Tabu. − Die überbordende Verlagsproduktion einerseits, anderseits das ernüchternde Wiederlesen so mancher Erfolgstitel von früher macht’s mir inzwischen leicht, das Wegwerftabu mehr und mehr aufzuweichen.
Habe kürzlich von Michel Serres das dickleibige Opus Der Parasit bedenkenlos und ohne jedes Bedauern entsorgt − das war einst ein vielbeachteter Zivilisationsentwurf, weithin belobigt auch für seinen unkonventionellen Stil; heute kommt mir der graphomanische Wurf wie ein abgebranntes Wortfeuerwerk vor, ohne irgendeine rezente Idee, die noch zünden könnte in diesen Tagen, da die Dinge und die Sinne schwinden, während gleichzeitig künstliche Intelligenzen den Fortschritt − den Fortschritt fort von wo? − bestimmen. Ich werde mit den „Theoriefranzosen“, die Derridisten eingeschlossen, radikal und ersatzlos aufräumen; einzig bei Foucault, bei Girard mag ich mich noch aufhalten und glaube ich noch etwas gewinnen zu können.
Den so entstehenden Freiraum will ich für die Unterbringung antiker und mittelalterlicher Autoren nutzen. Die aufgeklärtere Neuzeit mit ihrem generell vernunftgebundenen und fortschrittsorientierten Denken kann mich nicht mehr produktiv interessieren, ebenso wenig das postmoderne intellektuelle Vagantentum.
Dagegen ein Demokrit, ein Lukrez! Auch ein Augustin, ein Boetius und noch Montaigne, dann Pascal! Da steht schon alles, was mich wesentlich angeht, mir wesentlich hilfreich sein kann. − Mehr brauch ich nicht für die kommende Etappe.
aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne
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