Mit Mauthner gegen Aristoteles

Im zweiten Rang eines meiner Bücherregale bin ich gestern, beim Auf- und Wegräumen, wieder einmal auf Fritz Mauthners Wörterbuch der Philosophie gestossen: Ich kam, noch stehend, gleich ins Lesen; seit meiner Studienzeit hatte ich die zwei schwergewichtigen Bände nicht mehr unter der Hand gehabt.
Ein Wörterbuch als polemische Fibel, hinreissend provokant, gewollt einseitig, konsequent gegen den Strich aller Schulphilosophie!
So ist bei Mauthner − zum Beispiel − über Aristoteles nur Widriges zu erfahren, mit dem Fazit, er sei in allen Belangen zwischen Grammatik und Zoologie (ausgenommen die formale Logik, die seinen in Wirklichkeit „geringen Ruhm“ ausmache) als obsolet zu betrachten, letztlich eine unglaubwürdige Kreatur christlicher Theologie und konservativen, weltabgewandten Philosophierens. In keiner Weise könne Aristoteles rationalistischen, materialistischen, positivistischen Kriterien (die Mauthner für sakrosankt hält) entsprechen und sei demzufolge abzuschreiben.
Solches zu lesen, ist ebenso vergnüglich wie ärgerlich. Denn jeder noch so starke Denker − oder Künstler − kann durch ideologisch verengende Scheuklappen abgewertet, lächerlich gemacht, gar verworfen werden; und auch umgekehrt − jede voreingenommene Belobigung kommt, wie etwa die Textsorte des Nachrufs es belegt, einer Fälschung gleich.
Hier nun aber: Aristoteles als „mangelhafter Schriftsteller“, als „elender Physiologe“ (und Psychologe), als „Kompilator“ eines zu Beginn schon unhaltbaren Weltbilds, als „Anwalt des finstern Mittelalters“ und der „begriffsspalterischen, abergläubischen, scholastischen, fast möchte ich sagen: talmudischen Gottesgelahrtheit“, schliesslich als „Büchermensch“, der für das Buch der Natur blind gewesen sei − kurzum: „Aristoteles ist tot, weil er wortabergläubischer war als sonst vielleicht ein namhafter Autor aus der Philosophiegeschichte.“
Die Rezeptionsgeschichte des Aristoteles ist durch zahlreiche heftige Peripetien mit wechselnder Inanspruchnahme nachhaltig geprägt. Der Philosoph wird im Verlauf der Jahrhunderte − wenn er nicht gerade in völlige Vergessenheit abgesunken ist − vorgeführt wie auf einem Schleuderkurs, wird ebenso oft als Genie ausgewiesen wie als Idiot, was jedoch, wie ich finde, nichts daran ändert, dass er so oder anders interessant bleibt, auch dort, wo er sich gravierend irrt, sich auf Götter statt auf Fakten beruft oder ausblendet, was er konkret vor Augen hat. Immer von Interesse! Und viel mehr als das:
Mehr noch als Platon ist mir Aristoteles eine ferne Lichtgestalt, Repräsentant einer alles umgreifenden Weisheit, die auch den Irrtum zulässt und ihn einbezieht, die mithin nicht rigide unterscheidet zwischen Wahr und Falsch, Gut und Schlecht, die vielmehr das In- und Miteinander des Diversen, selbst des Gegensätzlichen als gegeben annimmt. Solche Weisheit schliesst auch das Unwissen, das Vergessen, die Verblendung, den Widerspruch, den Irrweg, die Spekulation als integrale Komponenten ein. Ausser bei Aristoteles sehe ich Vergleichbares nur bei Lukrez, Montaigne, Pascal, vielleicht noch bei Goethe eingelöst.
Fritz Mauthners scharfe Abrechnung erschöpft sich in Detailkritik, verwechselt über weite Strecken das Werk des Aristoteles mit dessen ebenso disparater wie epochaler Wirkung, mindert letztlich nicht das Licht, das bis heute bei seiner Lektüre aufkommen kann. Kritik bleibt notwendigerweise defizitär gegenüber jeder Form von Würdigung.
Abgesehen davon: Allein die Tatsache, dass Aristoteles durch seine umfangreichen Kompilationen das vorsokratische Denken vorm Verlöschen bewahrt und in den philosophischen Kanon gerettet hat, ist Leistung genug, bezeugt seine eigene Klugheit, bekräftigt seine Unentbehrlichkeit.

 

aus Felix Philipp Ingold: Endnoten
Versprengte Lebens- und Lesespäne

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