KLEIST VORÜBER
Der sich weitende Himmel
der den Blick an sich zieht
Tage mit den Augen die Bahn
bis zum Ziele vollendend
rausgeschüttelt aus der
schludrig vorübergetriebenen Zeit
die Erinnerung mächtige Mutter
unfreundlich sind sie
keiner grüßt den anderen
so Unsterblichkeit jetzt
aus vorfrühem Morgengrau
nebelbepelzt wenn ich lange
noch schaue erster Anfang
Gedanke nicht mehr
Astrid Schleinitz
Dichten – ein unbarmherziges Geschäft.
Gottfried Benn (Georg-Büchner-Preis 1951)
Der Künstler hat kein Programm mehr, sondern
nur noch Nerven und einen feinen Spürsinn für Koordination.
Durs Grünbein (Georg-Büchner-Preis 1995)
Die Schwämm, wer das nur lesen könnt.
(Georg Büchner)
Wir wollen nicht übertreiben, aber unser Quartett in Sachen vernachlässigter Lyrik, wir Lektoren des Leonce-und-Lena-Preises, sähen vorliegendes und in zweijährigem Rhythmus erscheinendes Buch, diese Summe eines literarischen Wettbewerbs, gerne als kleines Kursbuch zur deutschen Gegenwartslyrik, als Orientierungshilfe in unübersichtlichem Terrain.
Erklärend sei hinzugefügt, daß „deutsch“ allein die Sprache der Gedichte meint, so wie es H.C. Artmann unmißverständlich ausdrückt:
Ich bin Österreicher und ein deutscher Dichter.
Von den sechshunderteinundzwanzig Bewerbungen kamen vierundvierzig aus Österreich, vierundzwanzig aus der Schweiz, je zwei aus Frankreich und den Niederlanden, je eine aus Belgien, Schweden und den Vereinigten Staaten von Amerika; und dem Zusammenzählen frönend, wollen wir als Randbemerkung auch festhalten, daß allein aus Berlin uns sechsundneunzig Bewerbungen erreichten und das Durchschnittsalter bei knapp dreiunddreißig Jahren lag, letzteres machte manchen Beobachter Staunen – sogar Lyrik ist vor dem grassierenden Jugendlichkeitskult nicht mehr gefeit.
Wir wollen aber deutlich sagen, über die Zuverlässigkeit unseres Wegweisers, unserer „Meldungen vom lyrischen Betrieb“ aus Darmstadt, entscheiden die jungen Lyrikerinnen und Lyriker, die uns ihre Gedichte vorlegen, befinden das Lektorat, das die Vorauswahl trifft (Fritz Deppert, Christian Döring, Hanne F. Juritz und, als Doyen, Karl Krolow) und nicht zuletzt die diesmal prämierende Jury (Peter Benz, Michael Braun, Karl Otto Conrady, Kurt Drawert, Friederike Mayröcker, Guntram Vesper, Ruth Wagner).
„Wir wissen nichts vom Gedicht“, sinniert stellvertretend der Lyriker Gerhard Falkner, „nach erstaunlich vielen geistreichen Einkreisungsversuchen, auch in neuerer Zeit, ist es noch immer nicht dingfest gemacht…“ Und alle, die beim 9. Literarischen März, diesem Wettbewerb um den Leonce-und-Lena-Preis 1995, teilgenommen haben, ob als Schreibende, Zuhörende oder nun Lesende, werden diese Erfahrung teilen – das kunstvolle Sprachgebilde namens Gedicht, bei dessen Verfertigung Reflexion und Intuition, ästhetisches Kalkül und historische Erfahrung zusammenspielen, es verflüchtigt sich beim Versuch, es „dingfest“ zu machen. So wie in Darmstadt während der Lesungen das große weiße M (wie März oder wie Musen?) vom blauen Bühnenvorhang hinuntertanzte – die Buchstaben bekommen Flügel und die Lettern flimmern, wenn ein frischer Wind in den Wettbewerb weht. „Chaos in die Ordnung bringen“, so lautet Theodor W. Adornos zum geflügelten Wort gewordene Formulierung in den „Minima Moralia“, die auch Georg Büchner gefallen hätte. „Das ist Lyrik“, diesen Originalität und Wissen beanspruchenden Zwischenruf müssen wir weiterhin unseren Vertretern im Deutschen Bundestag überlassen.
Auf die Suche nach dem Gebrauchswert des lyrischen Sprachkunstwerks haben sich schon viele begeben, in Erinnerung rufen wir einen lyrischen Wettbewerb aus dem Jahre 1926, den „Die literarischen Welt“ veranstaltete und bei dem Bertolt Brecht als Preisrichter mitwirkte. Unter den über 400 eingesandten Gedichten wurde er nicht fündig, denn man hätte keines, so Bertolt Brechts Begründung „ohne weiteres auf den Gebrauchswert untersuchen können“. Wo liegt er – der „Gebrauchswert“ (Brecht) in der „Ausdruckswelt“ (Benn) des Gedichts? Mal wird die Wirklichkeit wiederentdeckt, mal die Sprache, mal die Entgesellschaftung, mal die Vergesellschaftung von Literatur und damit von Lyrik eingeklagt; das Bekenntnis des Zeitgenossen Oskar Pastior – „Ich weiß nicht, was Lyrik ist“ – erscheint uns am ehrlichsten.
Wir wollen nicht übertreiben – wie gesagt.
Es ist ein Jammer. Man kann keinen Kirchturm herunterspringen, ohne den Hals zu brechen.
Dieses Wissen um die Misere des lyrischen Wagnisses hat Namenspatron Georg Büchner den meisten jungen Lyrikerinnen und Lyrikern voraus. Aber es bleibt bemerkenswert, wieviele Gedichte geschrieben werden, wieviele junge Autorinnen und Autoren sich diesem scheinbar anachronistischen Massenhobby weiterhin zuwenden. Wir haben unsere Beobachtungen dazu im Vorwort unseres letzten „Wegweisers“ festgehalten. Es ist Aufgabe der professionellen Vor-Leser, der Lektoren, hier auszuwählen und auszulesen. Und diese Auswahl muß eine ästhetische Entscheidung sein, über Geschmack läßt sich trefflich streiten, nicht aber über eine Gebrauchslyrik, die Kunst mit Chronistenpflicht verwechselt.
Wir wollen festhalten: Der Wettbewerb um den Leonce-und-Lena-Preis spiegelt den Umbruch in der deutschen Lyrik des vergangenen Jahrzehnts. Den „Schwächeanfall der poetischen Phantasie“, den Hans Magnus Enzensberger zwar nicht ungerechtfertigt, aber unter seinem Niveau als Lyriker viel zu flächendeckend beklagte, sehen wir überwunden. Das Lamento über Krise und Ende der Poesie verdankt sich seiner Uninformiertheit. Im Gegenteil, wir behaupten: die deutsche Literatur der neunziger Jahre zeigt sich in der Lyrik von ihrer stärksten Seite – vor allem auf der Höhe ihrer Zeit. Und wir wünschen uns Darmstadt als Ort einer „differenzierten Lyrik- und Poetik-Diskussion“, wie es Michael Braun, selbst Jury-Mitglied und Kenner der zeitgenössischen Lyrik, engagiert fordert. Die Preisträger unter den Eingeladenen, sie stehen für unsere Kursbeschreibung ein, jeder repräsentiert nur sich selbst; Stil oder Thema, große Geste oder Ausdruck verbürgen nicht mehr Exklusivität, wie es Durs Grünbein – Büchner-Preisträger des Jahres 1995 und wegweisend mit einem Stipendium prämierter Teilnehmer beim Literarischen März 1989 – ausdrückt. In aller exzessiven Sprachdynamik und Sprachzersprengung wird sichtbar: Jenseits aller ästhetischen Doktrinen und Postulate, die zeitgenössische Lyrik in der Vielstimmigkeit ihrer Sprechweisen auf Gewißheiten einengen möchten, so als ob Poesie etwas „muß“, wird unsere Wirklichkeit mit neuen Themen neu entworfen und darin erst angemessen erfahrbar. „Jede Sicht der Dinge, die nicht befremdet, ist falsch. Wird etwas Wirkliches vertraut, so kann es nur an Wirklichkeit verlieren…“, so formulierte es Paul Valéry, den Adorno weiter zitiert mit dem Wunsch an Dichtung, dem wir uns anschließen, „im Befremdenden sich dem Wirklichen stellen“.
In diesem Sinn hat die Jury vielstimmig entschieden und den Leonce-und-Lena-Preis (dotiert mit DM 15.000,-) und drei (statt bisher zwei) Stipendien (dotiert mit jeweils DM 5.000,-) mit folgenden Begründungen verliehen:
• Raoul Schrott schreibt Gedichte, die in Sprachfluß Alltagsmaterialien und mythisch-literarische Stoffe zu einer poetischen Welt ordnen. Die Ankündigung eines scheinbar gesicherten Standorts verbindet sich mit der Fortführung einer Tradition der lyrischen Gesänge. Dieser weit ausgreifende Entwurf gelingt in erstaunlicher Präzision und fulminanter Sprache.
• Ulrike Draesner hat sich als eine Autorin vorgestellt, deren Gedichte in artistischer Sprachfügung und intensiver Todesbildlichkeit Situationen der Trennung und des Verlustes evozieren.
• Thomas Gruber ist ein poetischer Montagekünstler, der in Gedichten von furioser Sprachdynamik die geläufige Alltagsrede aufbricht und uns damit die Fragwürdigkeit unserer Kommunikationsroutine bewußt macht.
• In den Gedichten von Christian Lehnert sind zeitgeschichtliche Momentaufnahmen mit einer Skepsis vor der Gültigkeit der Sprache und des Sprechens auf authentische, lyrische Weise miteinander verschränkt, und Geschichte wird so zum Anlaß, über das „mögliche Ende einer Films“ nachzudenken.
Aber da das Schreiben und vor allem das Reden über Lyrik beliebter ist als diese selbst, wollen wir im Rückblick auf den neunten Wettbewerb um den Leonce-und-Lena-Preis mit einem Dank an alle Bewerber den Dichter Ferdinand Schmatz zitieren:
NUR ALS BEISPIEL
aaaaaaaaafür priessnitz
der deuter:
begann um,
auf zu. schrief, wurde
wußt, heiss haß,
log.
tu, wechselt, wäubte,
schau(er)ret, schwug,
überhaupt: der schwelg.
schlies, lob hob, der augen
such; schwoll,
schloss und kürte
die fuge.
dann: kehrt, meinte der
hermen neue, metrig sinn,
ja, ob, doch, nun, gar,
wohl, hin zu, aus
schluss.
kühl. (kühl.)
Christian Döring, Vorwort
veranstaltet die Stadt Darmstadt im zweijährigen Rhythmus den Literarischen März, bei dem der Leonce-und-Lena-Preis für neue Lyrik vergeben wird. Der Literarische März ist – so die Frankfurter Allgemeine Zeitung – „der bedeutendste deutsche Lyrikwettbewerb“, mit dem die Stadt Darmstadt die Nachwuchs-Lyrik fördert.
Indem die Jury die „reifsten Vertreter unterschiedlicher Ausdrucksformen prämierte“, vermochte sie, wie die Badische Zeitung schreibt, mit der Vergabe des Leonce-und-Lena-Preises 1995 die „konkurrenzlose Stellung des Wettbewerbs im deutschsprachigen Raum zu rechtfertigen“.
Den Leonce-und-Lena-Preis 1995 erhielt der in Frankreich lebende Raoul Schrott für Gedichte, die – so die Jury –, „in rhetorischem Sprachfluß Alltagsmaterialien und mythisch-literarische Stoffe zu einer poetischen Welt ordnen“. Förderpreise bekamen Ulrike Draesner aus München, der in London lebende Thomas Gruber und Christian Lehnert, Dresden.
Brandes & Apsel Verlag, Klappentext, 1995
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