JEDER TEXT IST EIN WORTBRUCH
vergiß das nicht wenn du dein haar
zurücklaufen läßt in die wurzeln
die sind dein geheimnis
du weißt doch: der vater
schnitt dir den blick
die mutter das blumige kleid
auf die knochen
(das leben hatte dich eben
geborgt um über die zeiten zu kommen
zwischen anfang und ende)
die blume im kurzen haar
sprach mit klebriger Zunge von liebe
du konntest geschlechter erraten
du kanntest die ausgänge schon
und durftest dein haar nicht wachsen lassen
heimlich umspann es dein zweites gesicht
und sagte die zukunft voraus
die du schließlich erreichtest
der weg ist vergessen der text
den du schreibst ist ein wortbruch
dein haar ist die brücke darüber
Kathrin Schmidt
von sprach- / placebos sind di szenen überfoll.
Aus dem Gedichtband brennstabm von Thomas Kling
Alle zwei Jahre erhalten wir „Meldungen vom lyrischen Betrieb“ – aus Darmstadt. Seitdem der Leonce-und-Lena-Preis zum ersten Mal vergeben wurde – 1979 an Ludwig Fels, Rolf Haufs und Rainer Malkowski (die Namen sprechen von der Güteklasse der Auszeichnung) −, ähneln sich beim Gespräch über Gedichte die Nachrichten, die Befunde und die in der Regel ratlose Kritik an dieser zur Institution gewordenen Veranstaltung. Um ein Beispiel in Sachen kritischer Ratlosigkeit gleich zu Beginn zu zitieren, sei der Berichterstatter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wiedergegeben:
Warum gerade dieses Dutzend, welche Kritierien liegen zugrunde?
Die Philippika in Sachen Poesie gehört auch beim Literarischen März in Darmstadt zum Ritual.
Aus fünfhundertachtundneunzig Einsendungen hat das Lektorat (Fritz Deppert, Christian Döring, Hanne F. Juritz und, als Doyen, Karl Krolow) zwölf Lyrikerinnen und Lyriker ausgewählt und – der Zufall wollte sogar die Geschlechterparität eingeladen.
Trotz der im Vergleich zu den vorausgegangenen Jahren gesunkenen Bewerberzahl: Das Schreiben von Gedichten bleibt allem schönen oder scheinbaren Anachronismus zum Trotz ein wunderlich „artistisches Massenhobby“, wie Alfred Andersch es in den fünfziger Jahren registrierte – oder wie ein professoraler Poesieexperte während des ersten „Darmstädter Gesprächs zur Lyrik dieser Zeit“ plakativ-polemisch formulierte: Lyrik erscheine als schlechte Angewohnheit, die man möglicherweise lebenslänglich beibehalte. Anders gesagt, noch immer gibt es Zeitgenossen, die auffallen, weil sie keine Gedichte schreiben. Mag sein, sie gehören zu den Lyriklesern, dann fallen sie noch mehr auf, denn die seit Jahren nicht steigenden Auflagen von Gedichtbüchern belegen, es werden mehr Gedichte geschrieben als gelesen. Und alle Kritiker seien beruhigt: auch das ist dem auswählenden Lektorat aufgefallen; genauso wie sich die Frage gestellt hat, wo das vitale, das existentielle Gedicht bei uns in der deutschsprachigen Mitte Europas gründet. Die Ohnmacht der lektorierenden und jurierenden Beobachter gegenüber solchen Fragen, sie ließen sich vermehren angesichts der deutschen Zustände auf dem in Turbulenzen geratenen Kulturkontinent, die nach „engagierter Dichtung“, um es altmodisch zu formulieren, zu rufen scheinen – diese Ohnmacht ist vermutlich nicht geringer als die Ohnmacht der Verfasser von Gedichten, die sich in Darmstadt mutig der Öffentlichkeit aussetzen, aber um das gesellschaftlich vorgezeichnete Paradox aller Poesie wissen müssen: daß diese immer noch, wie ein Hans Magnus Enzensberger vor langer Zeit es schon begriff, sich „vor die Wahl gestellt sieht, entweder auf sich selbst oder auf ihr Publikum zu verzichten“.
Ja, „es ist ein Jammer. Man kann keinen Kirchturm herunterspringen, ohne den Hals zu brechen“, der Namensstifter des in Darmstadt verliehenen Preises, Georg Büchner, hat von der Misere auch des Lyrikers, formuliert mit Lust am Spiel der Sprache, viel gewußt.
Das Schreiben von Gedichten mag Massenerscheinung sein, das Gedicht, seiner immer umstrittenen Maßstäbe eingedenk, bleibt Randerscheinung; das kunstvolle Sprachgebilde, in dessen allmählicher Verfertigung beim Schreiben Reflexion und Intuition, ästhetisches Kalkül und historische Erfahrung zusammenspielen und wachsen, es behält Seltenheitswert. Die beim Wettbewerb um den Leonce-und-Lena-Preis gehörten Gedichte sind summarisch nicht zu verorten. Aber eines ist festzuhalten, Poesie muß überhaupt nichts, und die in Darmstadt von jungen Autorinnen und Autoren vorgestellte lyrische Vielstimmigkeit kann und muß nichts repräsentieren, für nichts und niemand die Stimme erheben.
Der Leser dieser Anthologie kann die Urteile der Jury (Peter Benz, Volker Braun, Walter Helmut Fritz, Ursula Krechel, Rainer Malkowski, Johanne Pfeng und Ilma Rakusa) prüfen am je einzelnen Gedicht.
Den mit 15.000 DM dotierten Leonce-und-Lena-Preis erhielt Kathrin Schmidt. Ihre Gedichte, so begründete es die Jury, „sind ebenso zwingender wie überraschender Ausdruck von Erfahrung. ,Jeder Text ist ein Wortbruch‘, formuliert sie und behauptet damit ihre Individualität gegen die Phrase. Mit Sprachwitz und Phantasie legt sie souverän Zeugnis ab von schwieriger Zeitgenossenschaft.“
Den ersten der bei den mit 7.500 DM honorierten Förderpreise erhielt Dieter M. Gräf. Denn, so bemerkt die Jury, seine „Gedichte sind eine vielstimmige Provokation. Aus störrischem, wildem Wirklichkeitsmaterial werden verblüffend blitzende ,Wortmaschinen‘ montiert.“
Den zweiten Förderpreis erhielt Ludwig Steinherr. Seine „Gedichte überzeugen durch ihre Lakonie, ihre Klarheit, ihre in ruhigen Sätzen mitgeteilte Unruhe. In kondensierter Form, zuweilen aphoristischer Zuspitzung objektivieren sie persönliche Erfahrung.“
Im Rückblick auf den achten Leonce-und-Lena-Preis (dem im Jahre 1995 hoffentlich ein weiterer folgen wird) sei für alle fünfhundertachtundneunzig Bewerber und Bewerberinnen und die drei Preisträger Robert Walsers kleine Geschichte „Von einem Dichter“ in Erinnerung gerufen:
Ein Dichter beugt sich über seine Gedichte, deren er zwanzig gemacht hat. Er schlägt eine Seite nach der anderen um und findet, daß jedes Gedicht ein ganz besonderes Gefühl in ihm erweckt. Er zerbricht sich mit großer Mühe den Kopf, was das wohl für ein Etwas ist, das über oder um seine Poesien schwebt. Er drückt, aber es kommt nichts heraus, er stößt, aber es geht nichts hinaus, er zieht, aber es bleibt alles wie es ist, nämlich dunkel. Er legt sich ganz auf das geöffnete Buch in seine verschränkten Arme und weint. Dagegen beuge ich mich nun, der Schelm von Verfasser, über sein Werk und erkenne mit unendlich leichtem Sinn das Rätsel der Aufgabe. Es sind ganz einfach zwanzig Gedichte, davon ist eines einfach, eines pompös, eines zauberhaft, eines langweilig, eines rührend, eines gottvoll, eines kindlich, eines sehr schlecht, eines tierisch, eines befangen, eines unerlaubt, eines unbegreiflich, eines abstoßend, eines reizend, eines gemessen, eines großartig, eines gediegen, eines nichtswürdig, eines arm, eines unaussprechlich, und eines kann nichts mehr sein, denn es sind nur zwanzig einzelne Gedichte, welche aus meinem Mund eine, wenn nicht gerade gerechte, so doch schnelle Beurteilung gefunden haben, was mich immer am wenigsten Mühe kostet. Eins aber ist sicher, der Dichter, der sie gemacht hat, weint noch immer, über das Buch gebeugt; und mein Gelächter ist der Wind, der ihm heftig und kalt in die Haare fährt.
Christian Döring, Vorwort
im zweijährigen Rhythmus den Literarischen März, bei dem der Leonce-und-Lena-Preis für neue Lyrik verliehen wird. Der Literarische März ist – so die Frankfurter Allgemeine Zeitung – „der bedeutendste deutsche Lyrikwettbewerb“, mit dem die Stadt Darmstadt – angeregt durch den Schriftsteller Wolfgang Weyrauch – die deutschsprachige Lyrik fördert. Dabei gilt die Aufmerksamkeit dem Nachwuchs: junge LyrikerInnen finden beim Literarischen März ein aufmerksames Forum.
598 Einsendungen trafen zum Literarischen März 1993 ein. Zwölf KandidatInnen wurden ausgewählt und zum Vortrag nach Darmstadt eingeladen.
Den 1. Preis des Literarischen März 1993 erhielt Kathrin Schmidt aus Berlin. „Mit Sprachwitz und Phantasie“, so die Jury, „legt sie souverän Zeugnis ab von schwieriger Zeitgenossenschaft.“
Förderpreise bekamen Dieter M. Gräf aus Köln und Ludwig Steinherr aus München.
Brandes & Apsel Verlag, Klappentext, 1993
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