– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Dichter“. –
RAINER MARIA RILKE
Der Dichter
Du entfernst dich von mir, du Stunde.
Wunden schlägt mir dein Flügelschlag.
Allein: was soll ich mit meinem Munde?
mit meiner Nacht? mit meinem Tag?
Ich habe keine Geliebte, kein Haus,
keine Stelle auf der ich lebe.
Alle Dinge, an die ich mich gebe,
werden reich und geben mich aus.
1905/1906
Ob Rilke den geflügelten Kairos von Francesco Salviati kannte? Die Allegorie der glücklichen Stunde geht auf die Antike zurück, wo sie da und dort mit dem Götterboten Hermes verschmolz, dessen Fersen bekanntlich mit Flügeln versehen waren. Der Florentiner Maler Salviati machte einen Engel daraus, was durchaus dem christlichen Verständnis der gottgegebenen „Inspiration“ entsprach.
Ikonographisch eher eine Randnotiz der Kunstgeschichte, spielt der Kairos gerade für die Künstler eine entscheidende Rolle. Niemand sonst war und ist so auf „Eingebung“ angewiesen wie sie, und doch wissen auch sie nicht mehr über die Bedingungen inspirierter Arbeit als andere.
Sigmund Freud, der bekanntlich von einer psychischen Gesetzlichkeit ausging – „was wir im Seelischen Willkür heißen, ruht auf […] Gesetzen“1 –, gestand gerade dem Dichter als dem „tiefsten Kenner des menschlichen Seelenlebens“ zu, er brauche „diese Gesetze nicht auszusprechen, nicht einmal sie klar zu erkennen, sie sind infolge der Duldung seiner Intelligenz in seinen Schöpfungen verkörpert enthalten“.2
Als Rilke dieses Gedicht im Winter 1905/6 schrieb, stand er im Dienst Auguste Rodins als dessen Privatsekretär in Meudon, eine Arbeit, die vor allem in der Erledigung der Korrespondenz bestand und die ihn auf die Dauer mehr beanspruchte, als ihm lieb war. Doch war das noch längst nicht die Zeit des inspiratorischen Stillstands, wie er dann drei Jahre später tatsächlich anbrechen und mit einem halben Dutzend Unterbrechnung (z.B. zweier Monate Anfang 1912, als er auf Schloss Duino „Das Marien-Leben“ und die beiden ersten der zehn Elegien verfasste), mehr als ein Jahrzehnt dauern sollte.
In jenem Winter in Meudon schrieb er zahlreiche Gedichte, darunter auch „Buddha“ („Als ob er horchte…“). Monate der künstlerischen Entfaltung sollten alsbald folgen, sobald er wieder in Paris lebte, und das in einem Ausmaß, wie Rilke es bis dahin nicht erlebt hatte. Die „Arbeitsströmung“, wie er es nannte, gipfelte in den beiden Requiems für Paula Modersohn-Becker und Wolf Graf von Kalckreuth, beides schwierige Langgedichte, die er in kaum einer Woche im November 1908 niederschrieb. Sie geben einen Vorgeschmack auf das, was kommen sollte, allerdings fast eineinhalb Jahrzehnte später.
Drastisch erzählt das kleine Gedicht von der Not des Verstummens, die das Dasein des Dichters in Frage stellt, indem es den Sinn seiner schöpferischen Organe und seiner Zeit untergräbt. Er hat alles auf das Wort, das Lied, das Besingen der „Dinge“ gesetzt und dafür alles geopfert, was das Leben der Normalsterblichen wertvoll macht.
Wenn er sagt, er „habe keine Geliebte, kein Haus“, so ist das kein Lamento – bei Rilke stimmt in summa nur (bedingt) das letztere –, sondern das Eingeständnis anderer Prioritäten, die freilich nichts mit Kunstliebhaberei, sondern wesentlich mit künstlerischer Identität zu tun haben.
Das wird vor allem in dem Gedicht „Der Tod des Dichters“ klar:
diese Tiefen […] waren sein Gesicht.
Auch in dem Dankgedicht an Karl von der Heydt: „So will ich gehen, schauender und schlichter […]“, dessen Besprechung des Stunden-Buchs in den Preußischen Jahrbüchern voll des Lobs gewesen war, erfolgt „dieses unbeirrte Gehn und Sagen“ im Auftrag unbestimmter, vermutlich innerer „Mächte, die mich so verpflichten“.
Ebensowenig ist es eine Übertreibung, wenn jener Dichter von seiner Hingabe an die äußere Welt berichtet, die er bereichert, während sie ihn „ausgibt“. Auch dieser Akt der Selbstaufgabe zugunsten der künstlerischen Mission ist nicht das Ergebnis einer freiwilligen Wahl, sondern Berufsschicksal, wie Rilke das in den „Briefen an einen jungen Dichter“ betonte, wo er empfahl, „es genügt […] zu fühlen, daß man, ohne zu schreiben, leben könnte, um es überhaupt nicht zu dürfen.“3
Der unvollendete Charakter des Gedichts – die dritte Strophe und damit die Synthese scheint zu „fehlen“ –, macht das prekäre Leben des Dichters umso klarer. Tatsächlich gibt es keine Versicherung des Erfolgs in diesem Metier. Das Scheitern sitzt dem Künstler immer im Nacken.
Aber es ist nicht nur der materielle oder soziale Misserfolg, der droht. Das wahre Scheitern hat bei Rilke weniger das Gesicht des an sich zweifelnden Talents oder der überhand nehmenden Skrupel, sondern des ratlosen Wartens auf den Augenblick der Inspiration. An die Fürstin Taxis schreibt er am 16. Mai 1911 von Paris aus:
Ich gehe viel mit mir zu Rath, weshalb ich immer noch nicht arbeite, es wäre Zeit, diese lange Trockenheit bringt mir nach und nach meine Seele wirklich in Hungersnot. Wie geht so etwas zu? Es ist, als hätte ich völlig die Fähigkeit verloren, die Umstände herbeizuführen, die mir helfen können, wo ich nach welchen greife, sinds neue Erschwerungen und Ausreden, die Tage gehn hin und mit ihnen wer weiß wie viel Leben. Ob man nicht eine groteske Figur ausdenken müßte, nur um schließlich den Satz anzubringen: „er brachte die letzten sechs sieben Jahre damit zu, einen Rockknopf zu schließen, der immer wieder aufging.“
Schließlich ist da als „Berufsrisiko“ der besonderen Art noch das „Wissen“ des Weisen, das ihm eine einsame Stellung beschert und damit die Qualen des Andersseins auferlegt. Er verdankt es seiner zum Programm werdenden Einfühlsamkeit, die ihm das Wesen der Dinge und alles Lebendigen nahebringt, ähnlich wie es Kinder noch vermögen, die mit allem Kreatürlichen vertraut sind.
Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022
Schreibe einen Kommentar