– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Leser“. –
RAINER MARIA RILKE
Der Leser
Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht
wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten,
das nur das schnelle Wenden voller Seiten
manchmal gewaltsam unterbricht?
Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß,
ob er es ist, der da mit seinem Schatten
Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten,
was wissen wir, wieviel ihm hinschwand, bis
er mühsam aufsah: alles auf sich hebend,
was unten in dem Buche sich verhielt,
mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend
anstießen an die fertig-volle Welt:
wie stille Kinder, die allein gespielt,
auf einmal das Vorhandene erfahren;
doch seine Züge, die geordnet waren,
blieben für immer umgestellt.
1908
Auch wenn wir nach heutigem Sprachgebrauch die Leserin vermissen, sie ist in dem generischen Titel natürlich mitgemeint und stellt bei Rilke im Besonderen und belletristischer Literatur im Allgemeinen statistisch die Mehrheit der Leserschaft (Mädchen inbegriffen). Daher gehen wir beim Lesen jetzt auch hier einmal pointiert von einer sie aus statt einem er.
Rilke thematisiert das Lesen als eine Aktivität, die das Leben verändern kann. Wie diese Veränderung aussieht, deutet die letzte Strophe an, wo von einer veritablen ,Umstellung‘ von Ordnung in Unordnung die Rede ist, also einer subversiven Arbeit an Intellekt und Psyche, die einem ,Umgraben‘ gleicht. Dabei findet ein Geben und Nehmen statt, eine Art Tausch von Verlust und Gewinn, ein regelrechtes Verringern und Vermehren, wobei letzteres überwiegt, so dass der spielerisch erworbene Ertrag an die „fertig-volle Welt“ weitergegeben werden kann zur Bereicherung des „Vorhandenen“.
Lesen heißt also die gegebene Welt anders zu sehen, nachdem man sich ins Buch vertieft und der Realität entfremdet hat. Aber nicht als „Weltfremde“ taucht die Lesende aus ihrer Lektüre auf, sondern im Gegenteil als Gestalterin, die das Alte mit neuen Augen sieht und so das Neue bereits in Angriff nimmt.
Von hier bis zur Einsicht Jean Piagets oder auch des Psychoanalytikers Bruno Bettelheim, dass ein realistisches Bild der Welt nur durch umfangreiche imaginative Vorarbeit entsteht, durch Vermittlung der plastischen Innenwelt mit der assertiven Außenwelt, ist es nur ein Schritt.
Wenn es stimmt, was der Versicherungsjustitiar Franz Kafka – ein Prager wie Rilke (der ihn las) – zu dem jungen Gustav Janouch gesagt haben soll, nämlich dass „wirkliche Realität immer unrealistisch“1sei, dann steckt dahinter genau diese Einsicht: dass die Realität uns fremd bleibt, wenn wir sie uns nicht imaginativ im Fantasie- und Gedankenspiel (also z.B. durch Lesearbeit) aneignen.
Derselbe Franz Kafka hatte Lesen vier Jahre, bevor dieses Rilke-Gedicht entstand, ähnlich, wenn auch etwas zupackender, als gewaltsame Seelenarbeit beschrieben, indem er das (ideale) Buch als „Axt für das gefrorene Meer in uns“ bezeichnete und empfahl:
man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?2
Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022
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