Gregor Kunz: Versensporn 7

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gregor Kunz: Versensporn 7

Kunz-Versensporn 7

GAGARINS WALD

Jäh ging die Nacht, in der noch niemand sprach,
kam mit dem Wind der Anfang von allem, Eros, das
aaaaaKind und das Spiel

Nacht und Wind setzten den Schmerz in die Welt,
brachten Eschen hervor, das Erz und endlich den
aaaaaMenschen,
setzten ans Wasser ein Spielding kindischer Götter,
aaaaaden grausamen, denkenden Fisch

Später den Wald, den niemand verläßt, in den niemand zurückkehrt.
Weiße Bahnen, Schorf und Schwärze, Grün der Käfer und für sich,
jedes einzelne Blatt, das noch niemand gesehen. So lebt das.
Fraßspuren noch in den Schritten und ausgetreten ins Netz,
man kennt das aus Elternhaus und Schule, Staat und Partei,
das Begegnen, die Pflicht: Also auf geht’s.
Längs der Traktorenstation, und rechts gibt es Milch,
dazwischen stand Wasser, und Himmel in Löchern, und Birken, Pappeln am Rand

Dahinter die Felder, nicht sichtbar, aber zu hören. Man hört sie nur fallen,
das Laub im Oktober, hart den Staub und die Worte. Alles normal!
Blau über Gelbem und Rotem, Löwe und Stier, Widder und Schlangen, die Pferde.
Schwarz und Weiß. Das bin Ich … Bescheiden, aber mein phantastisches Gedächtnis,
eingekapselt gehen Bilder auf und ab. Zeder an Sarja, Eos mit den Rosenfingern,
so seh ich den Wind. Doch nicht aus freien Stücken
Keine Götter, nur die geflügelten Tiere
zogen vorbei, Lemuren in der Bewegung, zwölffingrig im Halt,
Städte, bewohnt von Gespenstern,
junge Männer, junge Frauen, noch nicht geboren,
die auf den Tod warten ohne Bedauern.
Denn die Sprache der Engel sind Namen

Leer ist der Himmel und still.
In den Eierschalen Ich, Kopf über Fuß und die Hand vor den Augen.
So sind wir lustig, noch wenn wir rotieren.
Ich: ein Gemüt, es paßt in 106 Minuten. Gemessen und gewogen
würde ich besser verstehen. Hütten gibt es, geschlossen seit dem 12. April,
den Rauch, meine Fresse, das Brot und das Feuer

Kannst du es spüren? Auf geht’s

Mai, Juni, Oktober…
Es meldet Juri, Sohn des Nikita, Major der Flieger:
Dunkel ist’s draußen, Genossen, die Welt ist sehr dunkel.
Schön sind die Sterne, aber zu groß.
Schwer wird das Sprechen, alles verschwimmt.
Was für eine Schönheit! Ich sehe die Erde! Ich sehe die Wolken.
Habt Mitleid mit mir.
Jäh kommt der Winter, erwartet, gewiß.
Jäh kommt die Nacht, in der niemand mehr spricht.
Dunkel lag der Weg, und das Kind stand nicht lange.
Wenn aller Schmerz endet. Das Licht sah ich nur einmal

Auf Wiedersehen, Freunde. Macht’s gut. Bis bald

 

 

 

Schreiben, bis es stimmt.

Über das Warum der Gedichte ist leichter zu reden, als über das Wie. Nicht ihr einziger Grund, aber ihr wichtigster ist dieser: Gedichte fügen der Welt Wesentliches hinzu, das anders nicht zu haben ist – Sinn, Erhellung, das nicht und das so nicht Gewusste, Erkenntnis, Erfahrung und Schönheit. Wenn es Gedichte sind, wie ich sie offensichtlich brauche und also haben will. Für Giorgos Seferis war das „eigentliche Ziel des Dichters… nicht, die Dinge zu beschreiben, sondern sie benennend zu erschaffen. Das wäre“, sagt er, „auch seine größte Freude“. Mir gefällt das, nicht nur, weil ich es für richtig halte, sondern ebenso, weil Seferis über Freude redet, die jetzt auch meine ist, weiter gegeben über viele Jahre hinweg. Vom späten Argonauten zum noch späteren:

Und auch die Seele
soll sie sich kennenlernen
muss in eine Seele
schauen:
den Fremden den Feind sahen wir im Spiegel

Angefangen habe ich mit Bildern, als ausdauernder Betrachter, dann zeichnend. Anfang der 8oer hörte das auf, diente der Stift nur noch zum Schreiben. Vor zwölf Jahren waren die Bilder plötzlich wieder da, Collagen diesmal, so selbstverständlich und zugleich heftig im Zugriff, dass sie wohl im selben Grund wurzeln, aus dem die Wünsche wachsen. Bilder und Texte sind dann lange nebeneinander hergelaufen und haben sich nur in den Bildtiteln berührt. Mittlerweile gibt es einen steten Austausch, ein Schieben und Fordern, derzeit auch zeitnah im selben Projekt Nach Ithaka.
Es scheint, als hätten diese Ausdrucksweisen im Miteinander die autonomen Themenbündel Geschichte / Identitäten / Mythos zusammengeführt und in Grundsituationen menschlichen Daseins formulierbar gemacht – da, wo sie auch herkommen. Anzumerken ist noch: Es gibt mehr Bilder als Gedichte. Für das Nachfolgende dürfte diese Mitteilung nützlich sein.
Farbe verlangt nach Farben, Struktur zieht Strukturen nach, Bewegungen fordern Bewegung: So kommt ein Bild zu sich, formieren Augen, Kopf, Hände und wieder der Kopf ein gespanntes Gleichgewicht. Was immer das bedeutet, es wird nicht abgefragt, es ist. Eine transparente schwarz-weiße Fotografie oder Fotomontage, darüber montiert, integriert die informelle Collage und hebt sie auf in der Figuration, die Handlung ist, Narration, gedehnter Moment. Der Titel, Wort oder Zeile, öffnet und beschließt die Arbeit, ist erste Interpretation. Alles reagiert mit Allem, positiv als auch negativ. Wo? Vorerst im Kopf eines privilegierten Betrachters, der ein Bild entdeckt, während er seine Elemente zusammenbringt. In meinem Kopf also.
Ähnlich kommt auch ein Gedicht zustande, nun aber zusammengeführt und ausgehandelt von innerem Auge, Kopf, äußerem Auge, Kopf, Stimme und nurmehr dienender Hand, ohne feste Grenze, ohne den Halt des Formats, dafür ausgreifend im Raum und beweglich in der Zeit.
Bilder können unmittelbar aus Form und Material gebaut werden und ihren Gegenstand wie ihre Aura im Arbeitsprozess bilden. Auch mit Gedichten kann das gehen. Aber etwas ist doch anders: Wiewohl sie aus Worten gemacht werden, haben sie ihren Anfang meist nicht in den Worten. Diesen Anfang setzen Bilder, die eigentlich keine Bilder sind, eher ein informeller Farbraum, ein visualisiertes Empfinden, ein Loch im Bewusstsein, so ungefähr. Dieser „Farbraum“, so scheint es mir, enthält eine Aufforderung und Möglichkeiten, färbt und stimmt den Text, trägt ihn und bestimmt seinen Sound. Die Worte kommen danach, gern in Gestalt einer ersten Zeile, die bekanntlich die Götter schenken, manchmal fast zeitgleich, manchmal spät, manchmal erst, wenn der Bildraum ob meiner Mühen die Farbe wechselt und Konkreteres entlässt. (Wenigstens bei mir ist das so. Wie es anderen damit gehe, weiß ich nicht, wüsste ich aber gern.)
Einmal in Gang gesetzt, holt sich der Text Landschaften und Identitäten und dazu noch Nachbars Katze, wühlt im Schutt der Geschichte und in den Schachteln der Kindheit, fischt im Bewusstseinsstrom und im gänzlich Trüben, marodiert in Masken und Mythologien, klopft die Gespenster aus ihren Kammern und die Gegenwart ab, nach Sinn unter anderem. Oder ich mach’s, im Auftrag und im Dialog. Der Rest ist Handwerk, Ausdauer, Geduld: Schreiben, bis es stimmt.

Gregor Kunz, aus Aron Koban und Annett Groh (Hrsg.): denkzettelareale, Verlag Reineke & Voß, 2019

 

Abseits der Aggregatzustände

− Zu Gedichten von Gregor Kunz. −

Immer gibt es eine Handvoll Dichter, die sich dem gängigen Literaturfeld aus den unterschiedlichsten Gründen entziehen. Gregor Kunz gehört dazu. Nach zwanzig Jahren veröffentlicht er wieder eine eigenständige Lyrikpublikation in der Heftreihe Versensporn. Es sind 19 Gedichte, die es ohne Ausnahme in sich tragen, deren Zeilen ohne Pathos sind und die gleichzeitig Pathos haben. Deren Worte sehr heutig anmuten und auch zugleich Gegenzeit atmen. Man merkt den Texten ihre Unabdingbarkeit an, eine Art kristalline Spannung (Max Raphael), die Energie im Kopf freisetzt. Ohne Trend haben die Gedichte ihren Rhythmus, die Stimme des Dichters bemerkt man, mal mit einem Ausdruck alkäischen Hauchs, mal als Staccatozäsur, zutiefst eigen. Als Beleg möge die erste Strophe des Gedichtes „In Böhmen“ zitiert sein:

Grün, das vor allem, und gleich danach Trauer.
Nicht jene, die du mit fortnahmst, nicht jener zahngezeichnete Knochen.
Jene in fallenden Farben, aus Holz und Stein, aus Pflanzen heraus.
Leer ist die Straße, steigt oder fällt,
ein blasses Band über dunklen Dächern der Himmel,
da das Grün in den Blättern verschwindet, das Laub sich verdichtet,
nie makellos schwarz … Das Gold,
ja, das Gold: Man muß sich beeilen, alles verschwindet. 

(…)

Nicht nur Gold, auch ein grünes Farbempfinden durchweht so einige Gedichte, rein subjektiv von mir als biografisches Element gedeutet (Forstarbeiter in Forst), aber auch die Erwähnung anderer Farben belegen eine Nahe zur Visualitat. Und so verwundert es nicht, dass Collagen und Montagen von ihm auch in mehreren Ausstellungen zu sehen waren. Und es verwundert auch nicht, dass Beitrage über bildende Kunst von Gregor Kunz manchmal in Zeitungen und Zeitschriften erscheinen. Das erste Gedicht im Heft stellt das (poetisch gemalte) Bild des Dichters in seinen Intentionen dar. Vorm Spiegel – ein Selbstporträt, nicht in Öl gemalt. Hölderlinatmosphärisch oder mehr noch eine Georg-Büchner-Empfindung löste es unter anderem beim Rezensenten aus, als er die Worte Türmchen, fleckiger Mond und „ganz der ihre“ (ohne Unterthänigkeit) las.
Im Zwischenraum von Text und Bild scheinen sich seine Gedichte auszubreiten. Liest man die Zeilen genauer, stößt man unweigerlich auf eine besondere Textsyntax, eine Freiheit des Satzbaus, die zu einer poetischen Erhöhung führt. Dadurch entsteht eine spezifische Versdichte, die der Leser selbst „bedenken“ kann, weil die Verbindungen zwischen Inhalt und Idee im Kontext stehen und von Hintersinn überwölbt werden.
Auffällig ist in der Gedichtauswahl von Kunz auch die Affinität zur antiken Welt, die er mit heutigen Situationen abzugleichen scheint, was sind auch 2.000 Jahre torkelnde Christenheit in Teilen von Europa gegen die alten Götter, die „niemand sterben sah“. Das kann man so sehen. Mir fällt das Bedauern unserer Weimarer Klassiker ein, die den Abgang der Vielfalt der Götter beklagten und einen monotheistischen Gott als langweilig empfanden.
Eigentlich ist es unüblich, über ein dünnes Heft eine Rezension zu schreiben, vielmehr ist es allgemeine Praxis, eine ganze Reihe oder auch Bücher mit eigenständigen Besprechungen zu würdigen. Das ist auch in Ordnung so. Hier aber, angesichts der Textqualität, kam ich nicht umhin, meiner Begeisterung Raum zu geben.
Die Reihe Versensporn lehnt sich offensichtlich an die Reihe Poesiealbum an, die in der DDR bekanntermaßen Auflagenorgien feierte. Besonders erwähnt werden sollte, dass die Reihe mit Unterstützung der Stadtwerke Energie Jena-Pößneck erscheinen konnte. Unüblich wohltuend ist es, Literaturforderung in dieser Art und Weise zu begegnen.

Thomas Ernest, Ostra-Gehege, Heft 68, Dezember 2012

Ich suche noch heute die Mitte der Welt

− Große Texte in kleiner Form: der Dresdner Dichter Gregor Kunz. −

Verleger, die ausschließlich Gedichte drucken, bringen es selten zu materiellem Reichtum, das ist hinreichend bekannt. Und dennoch oder gerade deshalb gibt es kleine Formen, beherzte Herausgeber und inzwischen auch erstaunliche Sponsoren, wie die Stadtwerke Jena-Pößneck, die derartige Unternehmungen unterstützen.
Versensporn – Heft für lyrische Reize nennt sich eine Reihe, die seit 2011 in Jena erscheint und mit einer Auflage von 100 Exemplaren interessierte Leser einlädt, sich mit Gedichten von vergessenen und verkannten Autoren der Moderne auseinanderzusetzen – auf 35 Seiten pro Heft, also einer Prise Poesie, die Lust auf mehr macht. Herausgeber ist ein Verein mit dem wunderbaren Namen Poesie schmeckt gut. Bisher erschienen Hefte zu Walter Rheiner (1895–1925), „Matthias“ BAADER Holst (1962–1990), Bess Brenck-Kalischer (1878–1933), Gerd Adloff (*1952), Wilhelm Runge (1894-1918) und Karin Boye (1900–1941). Das 7. Heft schließlich enthält 17 Lang-Gedichte des Dresdner Dichters Gregor Kunz (Jg. 1959).
„Ich wäre“, schreibt Kunz in einem der Texte, „ein guter Tischler geworden, / aber so wurde ich Seemann, genauer: ein Dieb. / Was soll man machen? / Wer hat denn kein Heimweh?“ Tom Riebe, einer der beiden Herausgeber, hat für den Ton der Gedichte ein passendes Attribut gefunden – er nennt sie „struppige Gebilde“. Wohl auch deshalb, weil hier keiner am Werk ist, der sich in geschliffenen Metaphern gefällt, der keine Drahtseilakte vollführt um im Feuilleton zu landen, einer der sich offensichtlich niemandem andient, mit dem was er schreibt, der schreiben muss, denn „auch deshalb gibt es mich mehrfach / und nur dann, wenn ich spreche, mit Händen und Füßen“. Bemerkenswert an diesen Gedichten sind Fundstücke aus fast allen denkbaren Bereichen: Kindheit, Geschichte, Kunst, Tiere und Bäume und ach! all diese Farben:

gelbes Gelichter, Feuerwehrrot, Gelb und Ocker, violette Schatte, Kalkweiß im Glanz der Metalle…

Es knirscht zwischen den Zeilen, es staubt, es ist schartig und scharf und zuweilen wagen sich Götter hervor, um zu schweigen.
„Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet“, schrieb der französischer Maler Paul Cézanne vor über hundert Jahren in einem seiner Briefe. In einem Gedicht von Gregor Kunz taucht dieses Motiv scheinbar beiläufig wieder auf und doch scheint es tragend für seine gesamte Poetik zu sein.
Denn fernab von modischen Trends ist hier ein eigenwilliger Dichter auf einer abenteuerlichen Reise mit und zu den Dingen unterwegs, ein Dichter der die Sprache beim Wort nimmt, einer, dem es nicht um das eine oder andere geht, sondern für den die Dinge sowohl als auch existieren, sich reiben, knirschen und zuweilen Funken schlagen.

Undine Materni, Sächsische Zeitung, 30.1.2013

Gregor Kunz, Jahrgang 1959,

schreibt schon sehr lange, eine Doppelbegabung, er macht auch wunderbare Collagen. Seine Gedichte sind eigentlich auch Collagen. (…)
Es sind Texte, die immer sehr lang sind, die mäandern. Es sind Kaleidoskope, in den Landschaft vorkommt, in denen Geschichte vorkommt. Sie werden so zusammengesetzt, als wenn man unter dem Kaleidoskop verschiedene Dinge hinlegt und dann guckt man durch und dann ergibt sich ein ganz eigenes Bild. So sind diese Texte.
Man muss sie sehr oft lesen und sehr lange und sich wirklich damit auseinandersetzen. Ich mag sie sehr. Und ich finde, dass er ein absolut vernachlässigter Autor ist.

Annett Gröschner über Versensporn, radio 1, rbb, 26.8.2012

Der 1959 in Berlin geborene,

in Dresden lebende Gregor Kunz wird in Heft 7 als Lyriker und bildender Künstler vorgestellt. Faszinierend nicht nur die komplexen Gedichte, teils aus entlegenen Publikationen der Jahre 2000 bis 2011 wiederabgedruckt, teils bisher unveröffentlicht, sondern auch die auf dem Umschlag abgebildete Collage. Die Texte, assoziativ, ebenso sinnlich-konkret wie vielschichtig, einen Echoraum von Hölderlins Spätwerk über Trakl bis zu Inger Christensen eröffnend, mit harten Brüchen zwischen gehobenem Stil und Umgangssprache, entfalten eine starke Sogwirkung und reizen ebenso zu wiederholter Lektüre wie sie sich rationalem Erfassen entziehen. Adloff und Kunz – für mich nicht die einzigen, aber doch die wichtigsten literarischen Entdeckungen, die ich den Versensporn-Herausgebern bis jetzt verdanke.

Thomas Reinecke, Versensporn. Eine neue Lyrikreihe, in: Marginalien – Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie, Heft 211, 3/2013

He, Gagarin, alter marxistischer Grieche!

Wenn ich Gedichte von Gregor Kunz lese, denke ich unwillkürlich an Peter Weiss. Im ersten Band der Ästhetik des Widerstands führt Weiss in der Beschreibung des Pergamon-Altars auf der Berliner Museumsinsel, die zunächst geradezu zeitlos erscheint, allmählich in die konkrete historische Ausgangssituation seines Romans ein, in der drei junge Kommunisten im Jahr 1937 in die Betrachtung des Altars vertieft sind und ihn allegorisch zu ihrer eigenen Situation zu sehen beginnen. Der Kampf der Götter gegen die (erdgeborenen) Giganten hätte nicht siegreich verlaufen können ohne einen Sterblichen – Herakles. Der aber fehlt auf dem Fries, nur seine Löwen-Pranke ist zu sehen. Herakles hätte den Sieg der Giganten bewirken können, hätte er nicht seine irdischen Anteile „verraten“, was die Götter ihm nach seinem Tod mit der Erhebung in den Olymp dankten. Seine Pranke aber bleibt ein Instrument, das zu nutzen nun, in Abwesenheit seines Körpers, den Giganten freistünde: Sie könnten ihr Schicksal wenden, indem sie sie ergreifen und damit zuschlagen. Diese Verheißung durchzieht den gewaltigen Roman von Peter Weiss bis zum Ende. Auch Gregor Kunz tut sich in der griechischen Mythologie dergestalt um, dass er es nicht einfach bei der Erwähnung von Herakles belässt, sondern es zieht ihn Nach Lerna, wo Herakles der Sage nach mit der Hydra kämpfte; er zoomt nach Arkadia, wo ein Leben jenseits gesellschaftlicher Zwänge verklärende Gestalt gewann und die Idee individueller Freiheit ihren Anfang nahm; er spricht Von den Inseln, die er womöglich in der Arktis ansiedelt und mit dem antiken Namen Thera versieht, in der Mehrzahl, deren Existenz aber, gleich der des Sannikowlandes, nicht unwidersprochen bleibt. Dennoch sieht mein inneres Auge das griechische Archipel Santorin, wie es entsteht und vergeht im Gedicht. Und so siedeln sich viele seiner Gedichte (bei mir) in Griechenland an. Dafür spricht nicht nur die Kargheit und Ausgedörrtheit ihrer Landschaften, das Raue und Rissige ihrer Oberflächen. Vielmehr scheint mir die Suche nach archaischen Mustern, nach denen das moderne Leben sich nach wie vor selber strickt, das Bezeichnende seiner Texte. So erklärt sich schnell die völlige Abwesenheit von Moden, das Beharren auf dem einmal gefundenen Ton, das fleißige, sehr beharrliche Arbeiten, das aus den Worten spricht. Ich gebe zu, dass etwas Abweisendes ausgehen kann von der selbstverständlichen Verwendung griechisch-mythologischen Vokabulars, wenn man sich selbst nicht sicher ist in dessen Verwendung oder aber das auch gar nicht sein will. Wenn man jedoch das zu Klärende für sich geklärt hat (und dazu reicht, Verzeihung, Google aus in diesem besonderen Fall, denn es geht weniger um die antike Ideengeschichte als um die „ewigen“ Präzedenzfälle), dann sind diese Gedichte regelrechte Offenbarungen menschlicher Grundsituationen. Atmen. Essen. Sprechen. Trinken. Sehen. Handwerken. Mitleiden. Ackern. Verschwenden. Verschwinden…

Was nie verschwindet, ist der Dichter. Dass er eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit Karl Marx aufweist, scheint nur gerecht. Das Primat menschlichen Seins gegenüber dem Bewusstsein wird hier auszuloten versucht bis an die schmerzliche Verfallsgrenze des Marxismus. Dass einer das macht, ist mehr als lobenswert, es ist unabdingbar. Auch an dieser Stelle bin ich an Peter Weiss erinnert. Und so möchte ich, in Anlehnung ans Gedicht, rufen: He, Gagarin, alter marxistischer Grieche!

Meine Hochachtung geht ungebrochen an die kleine Edition POESIE SCHMECKT GUT in Jena, die uns das Heft Versensporn Nr. 7 mit neunzehn Gedichten von Gregor Kunz zugänglich gemacht hat. Meine Hochachtung für den Dichter übersteigt andererseits das Rätsel bei weitem, dass für eine wirklich umfängliche Edition seines wirklich umfänglichen Werkes noch immer kein Interesse aufkam im deutschen Verlegerwald. Siehe oben.

Kathrin Schmidt, Ostragehege, Heft 70, 2013

 

 

GREGOR KUNZ

Von Trauer verwelkt die Blumen im Wind
Am Boden zerstört trinkt Rotkäppchen Wein
Tränen schaben über ihre Wange
Wir sind das Volk aber nicht mehr lange
Traurig tritt die leere Hütte aus dem Wald

Peter Wawerzinek

 

 

 

Fakten und Vermutungen zu Versensporn

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + Facebook +
Künstler

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00