– Zu Christian Morgensterns Gedicht „Fisches Nachtgesang“ aus Christian Morgenstern: Alle Galgenlieder. –
CHRISTIAN MORGENSTERN
Fisches Nachtgesang
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Das Vollkommene zu kommentieren ist eine unfruchtbare Übung. Jeder unbefangene Leser wird diesem Satz zustimmen. Aber gibt es das: einen unbefangenen Leser? Goethes wohlgemeinter Ratschlag, das Unerforschliche ruhig zu verehren, ist bei Philologen und Kritikern stets auf taube Ohren gestoßen. Also meinetwegen! Her mit dem Großen und dem Kleinen Besteck. Wer sich, mit der Harthörigkeit des Experten, interpretierend über dieses Gedicht hermacht, dem wird man mildernde Umstände zubilligen müssen; ein scharfes Ohr nämlich gehört nicht unbedingt zu den Voraussetzungen für die Lektüre.
Also nur feste zugegriffen und hervorgeangelt, was der Ewige Vorrat hergibt; gelernt ist gelernt:
Die Sommernacht
∪ ∪ – ∪, ∪ ∪ – ∪, ∪ ∪ –,
∪ ∪ – ∪, ∪ ∪ –, ∪ ∪ – ∪,
∪ ∪ – ∪, ∪ ∪ – ∪,
∪ ∪ – ∪ ∪ –.
So steht es in meiner Ausgabe von Klopstocks Gedichten. Darunter freilich sind drei Strophen zu lesen, deren Silben aus den fünfundzwanzig Buchstaben des Alphabets bestehen. Bei dieser Übung sind auch die andern großen Poeten der Nacht geblieben: Hölty („Die Mainacht“, 1774); Hölderlin („Die Nacht“, 1785); Novalis („Hymnen an die Nacht“, 1800: „Erinnrung schmilzt in kühler Schattenflut“); Goethe („Nachtgesang“, 1805: „Bannst mich in diese Kühle“); Eichendorff („Nacht ist wie ein stilles Meer“, 1810?); Brentano („Heil’ge Nacht, heil’ge Nacht,“ 1812); Lenau („Der nächtliche Gang“, etwa 1832: „Und die Welle rauscht von dannen“). Und so weiter.
Der Pedanterie der sogenannten „Motivgeschichte“ sind natürlich keinerlei Grenzen gesetzt. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wird der poetische Umgang mit der Nacht immer skrupelloser; das Nachtlied wird sozusagen verramscht: „ein Verrauschen, ein Verschwinden“, um es noch einmal mit Lenaus Worten auszudrücken. Der einzige, der diesen Untergang der romantischen Tradition begriffen hat, war Christian Morgenstern.
Er hat zugleich eine neue begründet, die der Avantgarde. Keine Rede von Dada, von konkreter oder visueller Poesie: „Fisches Nachtgesang“ ist 1905 erschienen, also zu einer Zeit, wo sich noch nicht einmal die schüchternsten Anzeichen des Expressionismus hervorgewagt hatten, und man wird konstatieren müssen, daß sein Text seitdem an formaler Radikalität von niemandem übertroffen worden ist. Was uns heute an den Produktionen der literarischen Avantgarde, von 1911 bis 1960, ein bißchen anödet, langweilt, auf die Nerven geht, ihr aufgeregtes Gestikulieren, dieses ambitionierte Auf-den-Putz-Hauen, dieses aufgeplusterte theoretische Gegacker – davon ist bei Morgenstern keine Spur zu finden.
Lakonischer als „Fisches Nachtgesang“ kann ein Gedicht nicht sein; das Wort einsilbig wäre bereits eine Übertreibung. Diskret bis zur Lautlosigkeit wird hier die Subversion betrieben: wir haben es mit einem vernichtenden Schlag gegen das poetische Herkommen zu tun, aber dieser Schlag wird mit der Eleganz eines Klassikers geführt, in vollendeter Form und mit einer Sparsamkeit der Mittel, die nur Bewunderung erregen kann. Das Gedicht, soviel steht fest, hat keine Silbe zuviel und keine Silbe zu wenig.
Es ist das außerdem einzige Gedicht, das ich auswendig rezitieren kann.
Hans Magnus Enzensberger, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977
In der Zehnten, meiner letzten Schulklasse von 1971/72, fand ich dies Gedicht in unserem Lesebuch – und verstand es nicht.
Keiner, die ich fragte, konnte es mir erklären.
Der Name Christian Morgenstern war, egal was ich las, mit diesem “komischen” Gedichr verbunden.
Naja, mit komisch lag ich ja nicht so falsch.
Als Rentner, immerhin mit Verwaltungsdiplom, starte ich nun eine erneute Verstandesannäherung.
Verstehen muss ich das ja nicht, aber die obigen Informationen helfen schon.
Christian,!, ich komme!