Hans Raimund: Der lange geduldige Blick

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hans Raimund: Der lange geduldige Blick

Raimund-Der lange geduldige Blick

BAUM
für Hermann Hakel

Stamm
dran die Wange legen
Lippen auf Borke
Atem des Anderen ahnend

Ast
dran wiegend hängen
nach Mürbe sich sehnend
und gelber Schwere

Zweig
in Unrast nie haltlos
Luft kalligraphierend
mit gälischen Rätseln

Um Sinn und Unsinn nicht wissend
Wohnung für Tiere und Nahrung
Fraglos Schatten verschwendend
Seit Anfang in Gleichmut
gewärtig des Blitzes

 

 

 

Aus Duino

Nach Schonzonen und Auf Distanz gegangen legt Hans Raimund, von Österreichs missachteten Autoren einer der bedeutendsten, seinen dritten Gedichtband vor: Der lange geduldige Blick. Raimund vereint gleich mehrere Tugenden, die dem Ansehen in seiner Heimat mehr schädlich als nützlich sind.
Er ist, als Übersetzer und Vermittler, ein genauer Kenner internationaler Strömungen, deren Verfahrensweisen er sich zum Teil spielerisch, bisweilen auch in schroffer Abwehr stellt. Er steht, freilich nicht als Epigone, in einer halb vergessenen österreichischen Tradition, die das lyrische Subjekt nicht nur in seinen sozialen Bezügen, sondern auch in seinem Verhältnis zur Natur oder deren verdinglichten Resten, bestimmt. Drittens vertraut er der Kommunikationsfähigkeit der Sprache, wählt sie also nicht zum Gegenstand seiner Dichtung.
Und schließlich lebt er außerhalb Österreichs, in Duino bei Triest – kein Ort, um in den Vorzimmern der Kulturbürokratie um Preise und Stipendien zu betteln, geeignet aber, sich durch ein Gedicht Zorn und Drohung des dortigen Fürsten, des jungen padrone di Duino zuzuziehen, „der den vom Vater geliebten Papagei / wie Italo der Straßenkehrer sagte / prompt an eine Trattoria verschenkt hatte / und der mitten im botanischen Garten / dem ganzen Stolz des Alten / wie Olga die Wirtin sagte / einen Swimmingpool für die Söhne bauen ließ“.
Man sieht schon: In Duino sind Rilkes Elegien passé, „schön wie eh und je geht die Sonne unter“, aber sonst:

Blechdosenbüsche
Kartonagenunterholz
Kassettenbänderurlaub
Flora
aus Präservativen Recycling Taschentüchern

Die lyrische Anstrengung des Autors erschöpft sich freilich nicht im langen geduldigen Blick auf die Objekte einer zerstörten Landschaft; immer wieder unternimmt Raimund den Versuch, sich auch selbst wahrzunehmen, oft mit verhaltener Verzweiflung hinter lyrischem Übermut, meist mit Zweifel, manchmal aber „reulos gelassen“.

Erich Hackl, Die Zeit, 25.5.1990

Zauber und Trauer

Ein österreichischer Lyriker, der als Wohnsitz Duino bei Triest wählt und den ersten Abschnitt seines neuesten Gedichtbandes „Postskripta aus Duino“ nennt, dem fehlt es nicht an Ironie. Denn was er aus Rilkes hehrem Elegien-Entstehungsort schickt, ist kein Postskriptum zu Rilke, kein elegischer Nachgesang, hat nichts Posenhaftes oder Epigonales an sich.
Dennoch ist sich Hans Raimund der Last des grossen Vorbewohners bewusst.
Mit dem schönen Titel der Sammlung, Der lange geduldige Blick, gibt er sich selbst ein Programm: Das, was weder die Wissenschaft greifen kann noch der ins Alltagsjoch gespannte Mensch wahrnimmt, das Flüchtige und doch Wichtige will er erfassen. Für den Lyriker heißt das: langsam und intensiv hinschauen, auch auf die eigene Begrenztheit, die eigene Unvollkommenheit. Wie genau dieser Blick ist, belegt der Schluß des Gedichtes „Bilanz“:

Für das Blühen des Ginsters im Karst
voll Ungeduld erwartet
hast du kein Auge gehabt
kein Ohr
für das Getöse der Vögel
im wetterschrägen Spalier
der Olivenbäume
keine Nase
für den Rauch brennenden Unkrauts
jäh aufsteigend
aus den eben gejäteten Gärten
stumpfsinnig wie eh und je stehst du
mitten im Sommer:
Im Sommer der andern.

Wer hat sich nicht schon gewünscht, einmal bewußt dabei sein zu dürfen, wenn sich das selbstverständliche Wunder des Frühlings ereignet? Man schafft es nie: die Blätter entrollen sich jedes Jahr vor unseren Augen, und doch sehen wir es nie. Wer hat diese Stumpfheit je so präzis in Worte gefaßt?
Hans Raimund ist unersättlich im Schauen, Hören, Riechen, Spüren: Er hortet Eindrücke, Empfindungen, Bilder, Düfte und weiß gleichzeitig, daß dieser Hunger nie zu stillen ist.
Seine Lyrik ist nicht nur genau im Wahrnehmen eigener Gefühle; sie hat etwas Veristisches an sich. In dem Gedicht „Villaggio del Pescatore“ ist die Romantik eines Fischerdorfes und seiner Umgebung so in Worte gefasst:

Blechdosenbüsche
Kartonagenunterholz
Kassettenbänderlaub
Flora
aus Präservativen Recycling Taschentüchern.

Trotz kritischen Tönen spielt sich dieser Lyriker nicht als öffentlicher Ankläger auf, ebensowenig wie als Egozentriker, der die eigene Seelenlandschaft für die einzig existierende hält. Tragik und Komik, Witz und Wahrhaftigkeit, ja ungeschminkte Ehrlichkeit vereinen sich zu Gedichten voll Zauber und Trauer. Raimund ist ein Lyriker, der keiner Mode den Hof macht. Sein freiwilliges Exil hat ihm die Sinne geschärft und die Muttersprache bewusster gemacht. Hier spricht nicht ein hoffnungsvolles Talent, sondern einer, der mit seinen Talenten zu wuchern versteht.

Sylvia M. Patsch, Neue Zürcher Zeitung, 6.12.1989

Grüße aus Italien

Nicht alle Österreicher finden es schön hier im Land. Kriechertum und Feigheit, Neid und Verlogenheit der lieben Mitmenschen verleiden so manchem das Zusammenleben. „Auswandern möcht’ ich!“ – kein schlechter Ausruf.
Ausgewandert ist vor fünf Jahren der österreichische Schriftsteller Hans Raimund. Da er den Gewaltigen des Literaturbetriebs nicht hofieren mochte, fand er sich auf die Kriechspur verwiesen, man ignorierte ihn ganz einfach. Während er im eigenen Land totgeschwiegen wurde, fand er in Italien, der Bundesrepublik und in den USA für seine Essays, Übersetzungen, Rundfunkbeiträge und Gedichte Interesse, Abnehmer und das Geld zum Leben.
Als Ort für sein freiwilliges Exil wählte Raimund Duino bei Triest. Duino für jeden Rilke-Freund ein elektrisierender Name, denn auf Schloß Duino schrieb Rilke einige seiner herrlichen Elegien. „Postskripta aus Duino“ nennt Hans Raimund den ersten Abschnitt seines neuesten Gedichtbandes, Der lange geduldige Blick (Edition Umbruch, Wien, 1989) – es ist ein ironischer Titel. Denn was er aus Duino schickt, ist kein Postskriptum, keine Nachschrift zu Rilke, kein elegischer Nachgesang. Dennoch ist sich Raimund der Last des großen Vorbewohners bewußt. Das geht aus den letzten Zeilen des „Postskriptums aus Duino“ hervor:

Auf den Feldern steht noch der Mais vom Vorjahr
staubig weiß raschelt im Wind
Wieder ist es zu spät
die Äcker abzubrennen
Platz zu machen für Neues Heuriges.

Was ist das Neue, Heurige an den Gedichten von Hans Raimund? Mit dem schönen Titel der Sammlung gibt es sich selbst ein Programm: Das, was weder die Wissenschaft greifen, noch der ins Alltagsjoch gespannte Mensch wahrnehmen kann, das Flüchtige und doch Wichtige will er erfassen. Für den Lyriker heißt das: langsam und intensiv hinschauen, auch auf die eigene Begrenztheit, die eigene Unvollkommenheit. Wie genau dieser Blick ist, belegt der Schluß des Gedichtes „Bilanz“:

Für das Blühen des Ginsters im Karst
voll Ungeduld erwartet
hast du kein Auge gehabt
kein Ohr
für das Getöse der Vögel
im wetterschrägen Spalier
der Olivenbäume
keine Nase
für den Rauch brennenden Unkrauts
jäh aufsteigend
aus den eben gejäteten Gärten
stumpfsinnig wie eh und je stehst du
mitten im Sommer:
Im Sommer der andern.

Wer hat sich nicht schon gewünscht, einmal bewußt dabei sein zu dürfen, wenn sich das selbstverständliche Wunder des Frühlings ereignet? Man schafft es nie: die Blätter entrollen sich jedes Jahr vor unseren Augen, und doch sehen wir es nie. Wer hat diese Stumpfheit je so präzis in Worte gefaßt?
Hans Raimund ist unersättlich im Schauen, Hören, Riechen, Spüren: Er hortet Eindrücke, Empfindungen, Bilder, Düfte und weiß gleichzeitig, daß dieser Hunger nie zu stillen ist.
Tragik und Komik, Ironie und Wahrhaftigkeit, ja ungeschminkte Ehrlichkeit vereinen sich zu Gedichten von poetischem Zauber und großer Trauer. Raimund ist ein Lyriker, der keiner Mode nachläuft. Sein freiwilliges Exil hat ihm die Sinne geschärft und die Muttersprache bewußter gemacht. Hier spricht nicht ein hoffnungsvolles Talent, sondern einer, der mit seinen Talenten zu wuchern versteht:

Wenn schon
sagt er
reinkarniert
Dann als Katz
sagt er
in Venedig
Oder als Ratz
sagt er
in Venedig
Oder als irgend-
was sagt er aber
in Venedig.

Sylvia M. Patsch, Vorarlberger Nachrichten, 27.–28.1.1990

Neues aus Duino

Vor fünf Jahren ist der österreichische Schriftsteller Hans Raimund ausgewandert. Da er die Gewaltigen des Literaturbetriebs nicht hofieren mochte, fand er sich auf die Kriechspur verwiesen.
Während er im eigenen Land totgeschwiegen wurde, fand er in Italien, der Bundesrepublik und in den USA für seine Essays, Übersetzungen, Rundfunkbeiträge und Gedichte Interesse, Abnehmer und das Geld zum Leben.
Als Ort für sein freiwilliges Exil wählte Raimund den Rilke-Wallfahrtsort Duino bei Triest. „Postskripta aus Duino“ nennt er den ersten Abschnitt seines neuesten Gedichtbades: ein ironischer Titel. Denn was er aus Duino schickt, ist kein Postskriptum, keine Nachschrift zu Rilke, kein elegischer Nachgesang. Dennoch ist sich Raimund der Last des großen Vorbewohners bewußt. Das geht aus den letzten Zeilen des „Postskriptums aus Duino“ hervor:

Auf den Feldern steht noch der Mais vom Vorjahr
staubig weiß raschelt im Wind
Wieder ist es zu spät
die Äcker abzubrennen
Platz z
u machen für Neues Heuriges.

Was ist das Neue, Heurige an den Gedichten von Hans Raimund? Mit dem schönen Titel der Sammlung gibt es sich selbst ein Programm: Das, was weder die Wissenschaft greifen, noch der ins Alltagsjoch gespannte Mensch wahrnehmen kann, das Flüchtige und doch Wichtige will er erfassen. Für den Lyriker heißt das: langsam und intensiv hinschauen, auch auf die eigene Begrenztheit, die eigene Unvollkommenheit. Wie genau dieser Blick ist, belegt der Schluß des Gedichtes „Bilanz“:

Für das Blühen des Ginsters im Karst
voll Ungeduld erwartet
hast du kein Auge gehabt
kein Ohr
für das Getöse der Vögel
im wetterschrägen Spalier
der Olivenbäume
keine Nase
für den Rauch brennenden Unkrauts
jäh aufsteigend
aus den eben gejäteten Gärten
stumpfsinnig wie eh und je stehst du
mitten im Sommer:
Im Sommer der andern.

Wer hat sich nicht schon gewünscht, einmal bewußt dabei sein zu dürfen, wenn sich das selbstverständliche Wunder des Frühlings ereignet? Man schafft es nie: die Blätter entrollen sich jedes Jahr vor unseren Augen, und doch sehen wir es nie. Wer hat diese Stumpfheit je so präzis in Worte gefaßt?
Hans Raimund hortet Eindrücke, Empfindung, Bilder, Düfte und weiß gleichzeitig, daß dieser Hunger nie zu stillen ist.
Die Gedichte sind reimlos; sie huldigen nicht dem langweiligen Infinitiv-Stil vieler moderner Schreiberlinge. Tragik und Komik, Ironie und Wahrhaftigkeit, ja ungeschminkte Ehrlichkeit vereinen sich zu Gedichten von poetischem Zauber und großer Trauer.
Raimund läuft keiner Mode nach; sein Exil hat ihm die Sinne geschärft und die Muttersprache bewußter gemacht. Hier spricht nicht ein hoffnungsvolles Talent, sondern einer, der mit seinen Talenten zu wuchern versteht:

Wenn schon
sagt er
reinkarniert
Dann als Katz
sagt er
in Venedig
Oder als Ratz
sagt er
in Venedig
Oder als irgend-
was sagt er aber
in Venedig.

Sylvia M. Patsch, Der Standard, 17.–18.3.1990

Hans Raimund: Der lange geduldige Blick

Ein österreichischer Lyriker, der als Wohnsitz Duino bei Triest wählt und den ersten Abschnitt seines neuesten Gedichtbandes „Postskripta aus Duino“ nennt: einem solchen Dichter fehlt nicht die Ironie. Denn was er aus Duino schickt, ist kein Postskriptum zu Rilke, kein elegischer Nachgesang, hat nichts Posenhaftes oder Epigonales an sich. Dennoch ist sich Hans Raimund der Last des großen Vorbewohners bewußt. Das geht aus den letzten Zeilen des „Postskriptums aus Duino“ hervor:

Auf den Feldern steht noch der Mais vom Vorjahr
staubig weiß raschelt im Wind
Wieder ist es zu spät
die Äcker abzubrennen
Platz zu machen für Neues Heuriges.

Was ist das Neue, Heurige an den Gedichten von Hans Raimund? Mit dem schönen Titel der Sammlung gibt es sich selbst ein Programm: Das, was weder die Wissenschaft greifen, noch der ins Alltagsjoch gespannte Mensch wahrnehmen kann, das Flüchtige und doch Wichtige will er erfassen. Für den Lyriker heißt das: langsam und intensiv hinschauen, auch auf die eigene Begrenztheit, die eigene Unvollkommenheit. Wie genau dieser Blick ist, belegt der Schluß des Gedichtes „Bilanz“:

Für das Blühen des Ginsters im Karst
voll Ungeduld erwartet
hast du kein Auge gehabt
kein Ohr
für das Getöse der Vögel
im wetterschrägen Spalier
der Olivenbäume
keine Nase
für den Rauch brennenden Unkrauts
jäh aufsteigend
aus den eben gejäteten Gärten
stumpfsinnig wie eh und je stehst du
mitten im Sommer:
Im Sommer der andern.

Wer hat sich nicht schon gewünscht, einmal bewußt dabei sein zu dürfen, wenn sich das selbstverständliche Wunder des Frühlings ereignet? Man schafft es nie: die Blätter entrollen sich jedes Jahr vor unseren Augen, und doch sehen wir es nie. Wer hat diese Stumpfheit je so präzis in Worte gefaßt?
Hans Raimund ist unersättlich im Schauen, Hören, Riechen, Spüren: Er hortet Eindrücke, Empfindungen, Bilder, Düfte und weiß gleichzeitig, daß dieser Hunger nie zu stillen ist.
Seine Lyrik ist nicht nur genau im Wahrnehmen eigener Gefühle; sie hat geradezu etwas Veristisches an sich. In dem Gedicht „Villaggio del Pescatore“ ist die Romantik eines Fischerdorfes und seiner Umgebung so in Worte gefaßt:

Blechdosenbüsche
Kartonagenunterholz
Kassettenbänderlaub
Flora
aus Präservativen Recycling Taschentüchern.

Trotz kritischer Töne spielt sich dieser Lyriker nicht als öffentlicher Ankläger auf, ebensowenig wie als Egozentriker, der die eigene Seelenlandschaft für die einzig existierende hält.
Viele seiner Gedichte sind dramatisch, haben eine Handlung, die früher in Balladenform gegossen worden wäre: heute ist die Wortausstaffierung spärlicher; der Schrecken, wenn das Unvermutete, nicht Einzuordnende in ein Leben bricht, springt den Leser unmittelbar an.
Die Gedichte sind reimlos, sie huldigen nicht dem langweiligen Infinitiv-Stil vieler moderner Schreiberlinge. Sie kennen ein Ich, ein Du, ein Wir, und wenn es in einem Gedicht auch heißt, „Simple Sätze: Subjekt / Prädikat / keine Objekte“, so spart Raimund das Objekt nicht aus, weder Mensch noch Ding. Nur – für ihn ist nichts selbstverständlich: daß die Welt da draußen fragwürdig ist, macht er in einem Gedicht eindrucksvoll – auch formal – anschaulich. Da wird zunächst schlagwortartig das Interieur eines Salons beschrieben. Alles, was im ersten Teil des Gedichts als Tatsache dasteht, wird im zweiten in Fragen verwandelt: eine Bewegung, die jede Sicherheit auflöst.
Raimund ist auch aphoristisch witzig. Seine Bemerkung „Die Empfindung ist eine Waage für Eigenschaften nicht Mengen“ möchte man im rechten Zitieraugenblick parat haben.
Wenn er über das Schreiben schreibt,  fällt wohltuend sein Mangel an bombastischer Selbsteinschätzung auf:

Ich sitze am Schreibtisch
mache Literatur
wie andere Regen machen
oder Gold
und es macht Spaß
wie es Spaß macht
einen Luftballon aufzublasen
bis er platzt mit einem Knall
auch Kaugummiblasenmachen macht Spaß
will gelernt sein geübt
Aber genaugenommen will ich im Süden spazierengehen
am Meeresstrand in Pinienhainen unter Zitronenbäumen/
Auch Datteln esse ich gern und frische Feigen…

So weit der Anfang des Gedichtes „Literatur“, das eine höchst unerwartete Wendung nimmt.
Tragik und Komik, Witz und Wahrhaftigkeit, ja ungeschminkte Ehrlichkeit vereinen sich zu Gedichten von poetischem Zauber und großer Trauer. Raimund ist ein Lyriker, der keiner Mode den Hof macht. Sein freiwilliges Exil hat ihm die Sinne geschärft und die Muttersprache bewußter gemachL Hier spricht nicht ein hoffnungsvolles Talent, sondern einer, der mit seinen Talenten zu wuchern versteht.

Sylvia Patsch, Literatur und Kritik, Heft 243/244 April/Mai 1990

Der lange geduldige Blick

Das äußerlich solide gestaltete Buch DER LANGE GEDULDIGE BLICK ist der mittlerweile 3. Gedichtband des in Duino bei Triest lebenden Niederösterreichischen Schriftstellers und Übersetzers Hans Raimund.
Raimund beobachtet und schreibt exakt. Seine Gedichte sind Fotos, keine Urlaubsfotos von glücklichen Menschen, sondern Fotos, die die Empfindungen hinter den Dingen und Menschen sichtbar machen, ohne das oft häßliche Sichtbare zu verachten.
Raimunds Gedichte speisen sich aus dem Wahrnehmbaren:

… im Ohr das Getöse der Autobahn
den Schrei der Möwe: jäh
stößt sie nieder aufs Wasser
schon glitzert im Schnabel der Fisch

Hier gibt es keine Idylle im herkömmlichen Sinn, nichts ist einfach nur heile Welt. Alles verfällt, ist marode, nicht mehr zu gebrauchen. Und wenn doch einmal von IDYLLE gesprochen wird, so erzählt jemand, ist sie Vergangenheit, Kindheit:

Nirgendwo anders
wollte sie damals sein
sogt Cis nirgends und
nicht für viel Geld
Der Baum das Haus
der Zaun der Schuppen
der Kompost sagt Cis
das war die Welt

Diese Welt ist untergegangen.
Doch Dreck und Verfall machen nicht ganz mutlos, nur melancholisch, vorübergehend, denn da lebt noch etwas, es gibt noch Möglichkeiten, wenige:

Eichelhäher kreischen
Vereinzelt dotterschnäblige Amseln
Kadaver plattgefahrener Igel Kröten
aus Müllcontainern quellen
Katzen

Natur überlebt, wenn auch nicht unbeschadet, aber immerhin. Hans Raimund besitzt wirklich einen „langen geduldigen Blick“. Einen Blick, der oft vom Leser schon selbst Gesehenes sieht, oder Eingänge in die Landschaft und Dinge zeigt, die man allein vielleicht nicht gefunden hätte.
Dies ist vor allem ein Verdienst von Raimunds klarer Sprache, die eben diesen Blick deutlich umsetzt. Die sagt, wie es ist, aber dann nicht haltmacht. Wie gute Fotos.

Peter Jüde, Delta, Heft 9, III. Tertial 1990

Wesentliches aus Duino

In seinem dritten, jetzt erschienenen Gedichtband fordert Hans Raimund seinem ungeduldigen und insgeheim leidenschaftlich sprunghaften Herzen „den langen geduldigen Blick aufs Objekt“ ab. Diese Empfehlung Adornos, Devise des Gedichtbandes, führt jeden, falls er bis zuletzt ausharrt, zu einer Art Umkehr: der lange geduldige Blick, sich fokussierend auf einen Zielpunkt, schlägt in die Innenschau um, so daß zwischen Augen-öffnen und Augen-schließen, zwischen objektbezogener Anschauung und objektentzogener Mystik keinerlei Unterschied mehr besteht. In einem der suggestivsten, der Erinnerung an Rilke gewidmeten Gedicht heißt es nach einigen einfachen Sätzen, wie sie in jedem Sprachlehrbuch für Anfänger zu finden sind („Die Sonne scheint / Die Bäume rauschen – / Der Wind weht … u.s.w.):

Simple Sätze: Subjekt
Prädikat
Kein Objekt

Warum macht uns dieses Gedicht so betroffen? Einige Trivialsätze genügen, uns plötzlich vor ein Welträtsel zu stellen: Ob es denn überhaupt in Wirklichkeit „Gegenstände“, also Materialien für eine fremde Willenskraft gibt, ob nicht die ganze Natur ein wollendes Subjekt ist und ob uns nicht bloß eine anthropomorphe und pragmatische Grammatik gängelt, wenn sie uns Objekte vorspiegelt, obwohl diese Gegenstände in Wahrheit denselben Anspruch auf Subjektivität haben wie wir selber. Ist es also nicht die Sprache, sind nicht wir es als Sprechende, welche den Keil der Entfremdung so lange und so tief in die Welt und zwischen die Dinge und uns treiben, bis wir, von dieser universellen Entfremdung angesteckt und demoliert, immer „sachlicher“ und das bedeutet: unmenschlicher und brutaler miteinander verkehren? Ein Gedichtband, der auf solche existentielle Fragen hin konzipiert ist, hat das Recht, als außerordentlich zu gelten. Außergewöhnlich ist nicht nur die Spannweite der Anlage, sondern auch deren verbale, wortschöpferische und plastische Inszenierung. Charakteristisch für diesen großen Bogen ist die Wahl des Vorspruchs. Denn der Satz André Gides, wonach die Gewichtung nicht in den Dingen liegt sondern im Schauenden, nimmt sich wie ein Echo des Vorworts zu den Bunten Steinen von Adalbert Stifter aus. Und so ist denn ein Distelleben oder ein „Interieur“ genug, um uns in die Unausweichlichkeit eines Verhängnisses zu verstricken, während in einer Waldviertler Idylle der Komposthaufen ein wenig von der Hoffnung eines archaischen Tempelberges vermittelt.
Freilich auch dem Gegenstück zu dieser bäuerlich harmonischen Verrottung entrinnen wir nicht. Duino, der derzeitige Wohnort Hans Raimunds, bedeutet sicherlich einen unübersehbaren Faktor in des Dichters innerer Entwicklung, denn das Triestino entgrenzt ihn sowohl sprachlich wie thematisch. Zur geologischen Ruine des Karsts gesellt sich der Ruin der ehemaligen Guckkastenschönheit einer Küstenlandschaft. An die Stelle der Privatmythologeme, die in den Reisegedichten Cis-Alpiner Schriftsteller zumeist vorwalten, setzt Hans Raimund die Verismolandschaft der Umweltkatastrophe. Der italienische Verismo wirkt aber weit über die Alpen nach und bestimmt auch die Gedichte, die von dem Alterselend der daheimgebliebenen Elterngeneration handeln. Unvermeidlich haftet an dem Verismo eine gewisse „Kulinarik des Leidens“, eine sado-masochistische Komponente, die ihr auch noch in der Entstellung des griechisch-römischen Tragödienerbes die Weltbühnen erobert hat.
Bereits in seinen frühesten Gedichten zeigte sich Hans Raimunds Begabung für das „Aktions-Gedicht“, in dem sich sein Gefühl für Rhythmus, für das unaufhaltsam Veränderliche in einer balladesken Dynamik auszudrücken vermag. Nun gehen „Aktionsgedicht“ und Verismo eine Verbindung ein: („Brief aus Wien“, „Essen mit den Eltern“). Während bei Beckett die beiden Eltern bereits oberschenkelhalsbruchsicher in ihren Mistkübeln sitzen, haben sie in dem Gedicht „Essen mit den Eltern“ noch einiges vor sich. Denn der liebe Sohn läßt sie, nachdem er das Geld eingesteckt hat, „auf dem vereisten Gehsteig“ Fuß vor Fuß setzen. „Halt suchend an Hausmauern und parkenden Autos“ landen sie vielleicht eher in der Unfallstation als in ihren vier Wänden.
Das sind keine simplen Sätze mehr wie in dem Rilke-Gedicht. Da wimmelt es reichlich von „Objekten“. Ja, wenn es bloß die vielen Autos wären! Doch nein, der Mensch und zwar derjenige, den die „bürgerliche Moral“ gewohnheitsmäßig am leichtesten als den „Nächsten“ zu qualifizieren weiß, ist zum Objekt eines betroffenen, sich beleidigt und erniedrigt fühlenden Subjekts geworden: Ein  tragischer Mechanismus,  mit dem wir alle ein Leben lang zu kämpfen, an dem wir ein Leben lang zu leiden haben. Wie ihn durchbrechen?
Vor dieser Frage, weit über „Literatur“ und „Verismo“ hinauswseisend, stehen wir jeden Tag. Und jeder Tag fordert von uns eine neue und andere Lösung, eine neue Variation des einen Urmotivs. Dies bewußt zu machen, auch dies ist ein Verdienst dieses spannungsreichen Buches.

Franz Richter

 

Arnulf Knafl: Die nicht mehr schöne Natur in Podium, Heft 85, September 1992

Konstantin Kaiser: Scharfsichtige Melancholie in Die Presse, 3./4.2.1990

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

David Axmann: Wider-Klang der Welt-Betrachtung
Wiener Zeitung, 3.4.2015

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram +
ÖM + Kalliope
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.

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