ZEIT DER ZAHLEN
„Die Zahl ist in allem“
Baudelaire, Raketen
Das Einmaleins, auf Wasser
Und Mauern hingeschrieben,
Im Birnenfleisch geläutert,
Aus goldnem Wachs getrieben,
Gebändigt von den Geistern,
Die aus der Stunde steigen!
Die Zeit der Zahlen duftet
Im alten Ulmenschweigen,
Im rostenden Metalle,
Von leichtem Licht umflossen.
Man dividiert sie immer
Zu spät. Die Ankertrossen
Sind längst schon aus der Tiefe
Des Jenseits hochgewunden.
Die Zeit der Zahlen endet
Im Abgrund der Sekunden,
Des Pfiffs, der von vier Fingern
Im Mund fliegt in die Wolke.
Das Einmaleins: Geschichte,
Geraunt vom Schiffervolke!
Krolow ist ein romanisches Temperament. Seine Verse sind mit all der Dunkelheit befrachtet, deren die moderne Lyrik fähig ist. Mit Mystik, Wesensdrang und Seelenschwulst läßt sich das nicht vergleichen; meist sind deren Rätsel zufällig und einer mißlungenen Leidenschaft zur Sprache anzurechnen. Aber Dunkelheit aus Absicht, als Methode, zwecks Stil ist beherrscht. Sie hat weniger mit Nebel, mehr mit Algebra zu tun. Sie ist ein Weg, das Wort dem Unbekannten zu nähern, das im brauchbaren Bewußtsein keine Gegenbilder hat – sie schwärzt die Phänomene nicht, sondern macht sie leuchten.
In Krolows neuen Gedichten Tage und Nächte hat sie eine bestürzende Transparenz. Seine Lyrik hat sich stets darin geübt, die Konturen der Dinge genauer nachzureißen, als sie die Wirklichkeit der Sprache überläßt. Seine Gegenstände werfen keine Schatten. Ihr Umriß ist massiv, ihre Stofflichkeit hauchdünn. Ihren Schwerpunkt hat die Phantasie des Autors für sich behalten. Diese schwebende, von innen angeführte Sinnlichkeit ist eine Wirkung des Gedichts, keine Eigenschaft seines Inhalts. Wo sie der reinen Imagination entspringt, liegt sie dem Leser wie Laub in den Fingern. Ihre Abkunft ist irreal. Im ersten Kapitel „Im Blau beieinander“ werden Landschaften, Stimmungen und Impressionen durch mehrere Strophen dekliniert. Sie sind in intensiven Färbungen gearbeitet, einer heftigen Melodie ausgesetzt, ein jäher Rhythmus hält sie zwischen Sangbarkeit und Tanz in Balance. Hier liegt die Initiative noch beim Autor, nicht beim Wort. Wo sich ein Erlebnis als zu schwach erweist, um neu hervorgebracht zu werden, rettet ein formaler Versuch die Vollzähligkeit der Verse.
Um ihn abzugelten, bedarf es grammatischer Konvulsionen und erfundener Reimschemen – eines unerhörten, mit sich selbst beschäftigten Spiels der Sprache. Analogien zu Trakl, Lehmann, Benn liegen hier am nächsten. Nur: Krolows Berauschtheit ist jubelnder, seine Landschaften sind – im Gegensatz zu jenen – fast naturlos leicht.
Die Gedichte der nächsten Kapitel, „Untreue der Minute“ und „Wahrnehmungen“, halten sich in einer Zone jenseits des Subjekts, auch jenseits der Gegebenheiten auf. An den Rand der Wirklichkeit gerückt, an der sie keinen Zweifel lassen, prallt ihre Sprache auf die Welt zurück und deformiert die simplen, nutzbaren, scheinbar so gesicherten Bezüge. Die Dinge bleiben bei sich selbst, aber – aus einer eisigen Umklammerung befreit – gewinnen sie die drohende Magie zurück, die sie besessen haben mußten, als die Erde noch nicht bevölkert war. Poesie löst die Tabus. Das geschieht bei Krolow mit einer lautlosen Gelassenheit, mit einer unvergleichlich tiefen Zärtlichkeit zum Wort, daß die Einzelheiten des Gedichtes manchmal den Kontakt verlieren. Doch auch dies ist ein Verfahren: Zusammenhänge und Kontraste dem Impuls der Sprache überlassen. Ihre Wirkung ist fast körperlich: ein intensives Tasten des Wortes nach dem Leser, ein Anrühren mit Fühlern, das tiefer und viel nachhaltiger erschreckt als ein Attentat.
Krolow hält die Augenblicke ein. Er geht ihnen nach, bis in den Traum zurück, bis an ihr unabsehbares Ende voraus.
Helmut Krapp, Darmstädter Echo, 22.2.1957
Hans Hennecke: Dichtung und Wirklichkeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.12.1956
Hans Egon Holthusen: Zwischen Angst und Bezauberung
Süddeutsche Zeitung, 27./28.10.1956
Dem Vernehmen nach war der dritte Autorenabend im Schauspielhaus die erste der ausverkauften Veranstaltungen dieser Festwochen. Wenn man gefürchtet hatte, diese Dichterlesungen würden nur schwer ein genügendes Publikum anlocken, so hat man sich getäuscht. Es herrschte starke Spannung auch an diesem letzten Abend, der der jüngsten Generation der schon Erfolgreichen vorbehalten war: Krolow, Ingeborg Bachmann, Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger ließen sich von unserem Dürrenmatt auf die Bühne locken und saßen da, wie es sich für einen heutigen Lyriker schickt, den man wie den Löwen im Zoologischen Garten dem Publikum zur Schau stellt: etwas unwirsch, etwas unselig – man ist vielleicht in Wirklichkeit recht liebenswürdig, aber man „trägt“ das zur Zeit nicht. Auch unter den Lyrikern herrschen die zornigen jungen Männer. Dürrenmatt übernahm die Vorstellung, und nach dem Schema: mal was anderes! stellt er uns Zürcher Publikum den fremden Gästen vor. Er sagte ihnen Dinge, die sie vielleicht lieber hörten als wir, vielleicht auch eher glaubten als wir. Jedenfalls versuchte er sich im weltmännischen Zeremoniell und wußte zu seinem Trost zu berichten, die Menschenfresser hätten ganz besonders fein gesponnene Rituale der Vorstellung bei ihren mörderischen Veranstaltungen. So waren wir denn gewarnt und konnten bei dem Folgenden nur aufatmend feststellen, ganz gefressen habe uns Dürrenmatt denn doch nicht. Jedenfalls hatten wir noch die Kraft zu applaudieren, ihm und den Dichtern, die nach ihm zu uns sprachen.
Wie schon Emil Staiger kam auch Dürrenmatt auf die Schwierigkeit des heutigen Schweizers, sich mit dem heutigen Deutschen zu verständigen. Dieser habe die Sintflut für einmal hinter sich gebracht, wir seien davor verschont geblieben, nun schon zum mehrten Mal, so seien wir vorsintflutliche Menschen, die sich vor der Sintflut fürchteten, jene aber Nachsintflutliche, die neue Hoffnung schöpften. Wir lebten im Frieden, uns bereitet durch viel Glück und einigen Verstand, seit hundertfünfzig Jahren, aber der Sinn stehe uns immer noch nach Heldentum, und so bedächten wir denn weder Marignano noch Napoleon, sondern fühlten uns als Nachfahren der wilden Reisläufer als wenigstens potentielle Helden. Emsig flickten wir die lecken Steilen unseres Schiffes, ein Feind sei uns noch ein Feind – jene aber seien die Schiffbrüchigen, in deren Weltbild der Feind längst bloß ein Mensch geworden sei. Was uns rette in unserer geistigen Lage, das sei der Selbsthumor – ohne ihn könne man nur schwer ein Schweizer sein. Dürrenmatt hat diesen Humor, er hatte ihn auch für uns und malte uns nicht ohne groteske Züge an den Theaterhimmel. Oft traf er ins Schwarze, manchmal etwas daneben. Denn er hatte wohl vergessen, daß das Publikum, das sich hier versammelt hatte, ein recht anderes war als an den Premieren: sehr viele junge Leute, noch mehr Lehrer, als er schon vermutete – aber ist das nicht ein ganz lebendiges Weltstädtchen, das zu Dichtern dieses Kalibers, Dürrenmatt inbegriffen, noch mehr als die von diesem berechneten 18 Prozent Pädagogen schickt? Man kann diesen wohl kaum Scheuklappen andichten. Dürrenmatt versuchte dann doch noch, uns auch in wenigen Worten diese deutschen und österreichischen Dichter in ihrer bezeichnendsten Wesensart vorzustellen: er wies auf ihre unablösbare Bindung an die Politik hin, auf den ihnen unerläßlichen Mut, auf ihre Gänge auf den Schleichwegen zur Freiheit und auf ihre einzige, wirklich bindende und tragende Heimat, die Sprache. Ihr Gedicht sei ohne ästhetisches Programm, sei Gedicht vom Menschen an den Menschen. Schön sei gleich notwendig, vollkommen sei gleich gefährlich, ein richtendes Wagnis sei es, sich dem Gedicht zu unterwerfen. Denn unser Sein sei weitgehend ein Akt der Entscheidung.
Als erster setzte sich dann Karl Krolow, der Hannoveraner, an das Pult. Er versuchte, eingehends vom Wesen des Gedichts zu sprechen und schien dabei aus Versehen schon ein Gedicht zu machen. Vielleicht waren diese theoretisch gemeinten Worte das im herkömmlichen Sinne Lyrischste, was uns dieser Abend bescherte. Krolows Verse jedenfalls wirkten dagegen hart und beinahe stofflich, karg, gedrängt. Es sind Gebilde, die dem langen Nachsinnen rufen, die man vor sich sehen möchte, wiederholen möchte, die die lange Pause brauchen und also für eine solche Vorlesung sich nicht allzugut eignen. Wie bei gewisser modernen Musik hätte man da capo rufen mögen, um sich das Ungewohnte und Unverbundene dieser Art von Dichtung einzuprägen.
Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow
Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980
Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980
Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990
Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995
Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995
Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015
Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015
Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015
Alexandru Bulucz: „Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015
Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015
Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999
Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999
Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999
Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999
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