AUS DER SINFONIE:
SCHEWTSCHENKOS TOD
Prolog
Was da als Falte auf der Erdstirn stand,
ist ein Jahrhundert Krieg und Kämpfertum.
Der Dnepr wie ein Weg vorm Fuß sich wand
und wälzte auf die grauen Weiden Ruhm.
Der Genius ward zum Meer und flutet fort
weit über Steppen und das Stadtgebiet.
Als Welle schäumt Gedanke auf und Wort.
Es steht des Genius Sonne im Zenit.
Der Grund wird tiefer, und die Ufer fliehn.
Auf reißt der Himmel seine blaue Naht.
Und Stürme stehen landweit auf und ziehn
von Wladiwostok bis nach Leningrad.
Aus Herzen werden Quellen stark geborn.
Die See wird brodeln und nicht sterblich sein.
Man gieße Liebe, Urteils-Galle, Zorn,
bewegte Achtung auch ins Meer hinein.
Kein Künstler kennt des Maßes Hungerturm.
Er selbst ist Stil, ist seiner Norm Bezirk.
Windstärke hundert, hundertjährger Sturm:
da stürz ich mich ins schäumende Gebirg.
Die dritte Vision
Er liegt auf dem Rücken, sieht nichts als das Leder
des Stiefelschaftes: Welch gräßlicher Hohn!
Ein Bein streckt sich vor, auf die Brust stellts sich später
dem Dichter (ists wirklich, ists eine Vision?)
Auf ihn stampft wer mit den Füßen
in den Nagelschuhen frech.
Hätt wohl gern das Herz zerrissen
mit dem scharfen Absatzblech.
Zu schlägt er mit seinen Beinen,
trampelt krachend unerhört.
Und im Schaume, im gemeinen,
böser Tanz der Dummheit gärt.
Über Herz und Brust stampfts schwer,
über Beine, übern Bauch.
„Streu ihm Pfeffer mehr und mehr!“
schreit es, und im dumpfen Rauch
gehn im Kreis die Offiziere
Orenburger Garnison.
Und, durchbohrt vom Schmerz und irre,
sind erstickt die Flüche schon.
In Qual wird er hart, und ihm wölbt sich die Brust.
Er wächst – da zerreißt ihm das blutige Hemd.
Das Elend fällt ab wie ein Krätzegekrust.
In Kneipenecken verkriechts sich verschämt.
Solch niedrige Kneipen, da stürzen die Mauern.
Das Dach fliegt dem Wind nach, und keiner hälts fest.
Nicht können Kasernen den Schmerz überdauern.
Die Wüste vor Angst sich ins Meer sinken läßt.
Der Mann liegt, als wäre er schon zu beweinen,
wenngleich unter ihm Orenburg wie Gesträuch
aufknistert und Flüsse wie Bächlein erscheinen
und Sturmschrei wie kindliches Atemgeräusch.
Vor Angst schreit er auf, denn es ist ihm, als krümme
die Hand überm Pol sich, die andre erkennt
das Schwarzmeer an seiner kosakenen Stimme.
Gern zärtlich die Weiden am Dnepr sie fänd.
Auf Petersburg hat sich sein Kopf schon gestützt.
Armee plant den Angriff, zielt dichterwärts.
Das Reich tanzt, es dröhnt Dynamit auf und blitzt:
Ein Anschlag aufs zornige Dichterherz!
Herrn aus der Ukraine, ach,
tanzen Hopak übers Herz.
Mancher rote Stiefel brach
ein: welch Wirbelsäulenschmerz!
Würgt ihn – es sei Gott gedankt,
daß da Schrecken rings ersteht,
bis ein andrer bangt und schwankt
und nicht diesen Weg begeht.
Hoppe-hopp im Hopak, hopp
in den Stiefeln rot und grob,
in den Mänteln kirschengrell
und bemützt mit Lämmerfell.
Er liegt auf dem Rücken. Die Kerze verlischt.
Zorn bohrt, doch er ist allein. Es fliegt
ukrainehin Schmerz, aber weit fliegt er nicht:
das Vaterland ist als Gefängnis gefügt.
Klagegesang der Mutter Ukraine
Und zu wem werd ich gehen,
in die Augen wem sehen,
wem kristallenes Blühen
in den Tälern erziehen?
Und wo soll ich dich finden?
Zwischen Gras und Ackerwinden?
Oder begraben im Sand,
wo Efeu das Kreuz umwand?
Und welch Tisch soll ich decken?
Und wem wird es schmecken?
Wem reiche den Becher ich dann
und stoß mit dem Kreuz mit ihm an?
Und wie soll ich dich ehren?
Soll ich Kirschfrüchte mehren
oder des Ahornblatts Glanz
heften an deinen Dornenkranz?!
Kirschenwind
Die Kirschenblüt
am Kirschzweig glüht
Im Kirschenwind
vom Zweige flieht
Ihm stand bevor eine außergewöhnliche Reise.
Die einzige war es im Leben wie auch im Tod.
Hin ging sie durch all die Zeiten, die trauerverhüllten,
durch die ergrauten Völker und Völker des Frühlings.
Es trugen die Brüder auf Schultern ihn rings um die Welt.
Da trat an den Sarg aus unsterblichem Ahorn
Shakespeare aus seiner Jahrhunderte Grund.
Auf schlug er den Mantel
(Da glänzten wohl Diamanten
auf seiner Brust wie Gestirn),
beugte sich nieder und küßte ihn auf die Stirn.
Es wehte sein Haar überm Sarkophag,
in Schweigen erstarrt und ewig wie das Sein.
Man spürte den Atem der vollends durchlittenen Qualen –
auf stand der stürmische Beethoven in aller Entschlossenheit.
Die Löwenmähne aus schwarzen Blitzen
legte sich über des brennenden Bruders Brust
und Beethoven lauschte dem Donner in Taras Herz.
Schmal und rein und leicht wie ein Vogel
und zwischen den Lippen die Kirschblüte, weiß,
schwebte da Puschkin schwarzglühend herüber im Wind.
Und es floß nieder sein lockiges Haar
auf des grauen Kämpfers Hände.
Und Goya nahm ab den todvogelfarbnen Zylinder,
schleppte durch drohende Wolken seinen gebeugten Leib,
trug eine Eule auf breiten Schultern.
Da hatte ein jeder gebunden um einen Arm
ein leuchtendes Sticktuch, wies in der Ukraine der Brauch:
sie hoben auf die Schultern den würdigen Sarg.
Die Kirschenblüt
am Kirschzweig glüht
Im Kirschenwind
vom Zweige flieht
Statt Kerzen erglomm die Sonne
Die Kirschenfrucht
erstaunt die Welt
Lacht Sonne an
im Jahrflug dann
in Taras vielgemühten Händen
Solang die Welt
durch Zeiten schnellt
wird Kirschwind sein
sich Kirschblühn hält
Sie liefen um die Welt, ihn zu begraben.
Sie hielten dann am Mönchsberg Rast.
Ukraine ging zum ersten Mal den Weg
in Zeitentiefen und zu Aufstiegsdauer,
ging hinterm Sarg des Vaters und des Sohns.
Ihr schritten nach auf dauerhaftem Weg
Kleinrussen da, Chochols und die Ruthenen,
daß Ukrainer fortan sei ihr Name.
Die Kirschenblüt
am Kirschzweig glüht
Im Kirschenwind
vom Zweige flieht
Es flogen Schwalben, und vorüber glitten
die Stunden und die Tage, notbekränzt.
Und es verneigte sich ein dunkles Requiem
aus einer Wölbung schwerbewölkten Himmels.
Und Traueraugen blickten in die Seelen.
Es drang Ukraine in der Zeiten Tiefe,
mit frühlingshaften und ergrauten Völkern
ging sie nunmehr in unbekannte Länder.
Die Kirschenfrucht
erstaunt die Welt
Lacht Sonne an
im Jahrflug dann
Und kniend ward der Mönchsberg frei.
Er nahm des Sargs Unsterblichkeit in seinen reinen Schoß.
Die Ewigkeit der Pappeln stand zu Seiten.
Es war die Frühlingskirschenzeit.
Es schweben zum Dnepr die Pfade,
Es schweben die Wölkchen, die Wege,
es liegt eine Fahne aus Staub unterm Fuß.
Es schweben Studenten und Mönche,
es schweben die Uniformen und Mützen,
die Strohhüte schweben,
es, schweben die Krücken aus Ahornholz,
es schweben Kutschen und Fuhrwerke hin.
Jahrhunderte schweben. Es schweben die Völker.
Kirschwind ist auf Erden.
Kirschengedanken sind hinter der Stirn.
Solang die Welt
durch Zeiten schnellt
wird Kirschwind sein
sich Kirschblühn hält
1964
Übersetzung Andreas Reimann
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Nachbemerkung
Gestern erst, so schien es, sind die Leidenschaften um die ersten Veröffentlichungen des jungen Dratsch entbrannt. Dabei liegt es schon an die zehn Jahre zurück. Viele Bücher hat der Dichter seitdem publiziert. Er hat einen festen Platz unter den Poeten eingenommen. Ohne ihn wäre das Bild unserer ukrainischen Literatur heute nicht vollständig.
Es ist an der Zeit, Bilanz zu ziehen, die Erfolge des Autors zu würdigen, sachlich gerechtfertigte Kritik vorzutragen. Das um so mehr, als Iwan Dratsch ein außergewöhnlicher Dichter ist, der den Stempel der Zeit trägt. Seine Erfahrung ist die Erfahrung einer ganzen Generation.
Ich habe mit eigenen Augen, mit den Augen des Kollegen, die ersten Schritte des Dichters verfolgt, und möchte für mich und vielleicht auch für andere einige Aspekte und Tendenzen im Schaffen Iwan Dratschs klären.
Der Auswahlband Ukrainische Pferde über Paris gibt einen Querschnitt durch das Schaffen eines Jahrzehnts. Wie hat sich Iwan Dratsch während des Aufstiegs zu den Höhen literarischer Meisterschaft verändert? Ohne Zweifel ist er gereift. Reifere Züge kennzeichnen sein Porträt. Kein einziges Mal wandelte er auf fremden, vielleicht bequemeren Pfaden, wählte er eine andere, vielleicht vorteilhaftere Haltung.
Dratsch hat vor allem durch die Frische in der Wahrnehmung der Umwelt, durch sein Temperament und die hohe Engagiertheit seiner Lyrik, durch die Kühnheit, mit der er Terminologie unserer Zeit in das durchsichtige Gewebe der Poesie hineinwebt, die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. In seiner poetischen Welt erklangen die Stimmen der Eltern und van Goghs, Sarjans und Horpynas, Pablo Nerudas und der geliebten Großmutter. Es leben Synchrophasotron und Schneeballstrauch friedlich vereint nebeneinander.
Heute wird das alles als ganz normal hingenommen, aber vor zehn Jahren wurden Zeitsprünge, gewagte Vermischungen thematischer Ebenen, in riskanter Entfernung liegende Assoziationen als etwas Extravagantes angesehen oder überhaupt nicht akzeptiert. Es kam so weit, daß der Leser, an besonnene, thematisch disziplinierte und gemessene Lyrik gewöhnt, nicht immer bereit war, sich umzustellen und auf jedem Quadrat Intellekts den größeren Druck der Expression zu ertragen. Darin gerade liegt das Verdienst des Dichters, daß er sich treu blieb, nicht den Weg des geringsten Widerstandes ging.
Er besitzt die glückliche Fähigkeit, seine Ideen in Themen zu verwirklichen, die scheinbar kaum freies, assoziatives Herangehen zulassen. Poet von Natur her, versteht es Dratsch, Publizistisches von innen, mit seinem Ich auszuleuchten. Daher gibt es bei ihm keine Grenze zwischen der intimen und der gesellschaftlichen Lyrik.
Iwan Dratsch ist im besten Sinne des Wortes ein feinnerviger Dichter. Er führt ein angestrengtes geistiges Leben. Wie eine Membran fängt er die geringsten Schwankungen in allen Sphären unseres geistig-gesellschaftlichen Lebens auf. Als wesentlich sozialer Lyriker interessiert ihn nicht nur das Lokale, sondern der ganze Planet. Ihn verletzt die geringste Ungerechtigkeit, ihn beunruhigt die Kriegsgefahr, die wie ein Damoklesschwert über der Menschheit hängt.
Über das Poem „Messer in der Sonne“, aus dem für die vorliegende Auswahl die Gedichte Ukrainische Pferde über Paris und „Radiogramm der japanischen Fischer“ ausgewählt wurden, ist unter den verschiedensten Aspekten geschrieben worden. Besondere Betonung wurde auf sein Antikriegspathos gelegt. So berechtigt das ist, scheint mir diese Charakterisierung doch ein wenig zu eng. Ich würde tiefer suchen. Der Schlüssel zu seinem Verständnis liegt meiner Meinung nach in der These des Dichters:
Die Sonne ist als Verkörperung der menschlichen Sehnsucht nach Wahrheit, Schönheit, Kühnheit, Gerechtigkeit, Zärtlichkeit usw. zu betrachten. Wie ist sie entstanden? Die Sonne entstand im Zentrum menschlicher, auf den Himmel gerichteter Betrachtungen, denn der Mensch hat die Eigenschaft, in den Himmel zu schauen, da er kein Tier ist.
Und so ist die Sonne in der Poesie Iwan Dratschs nicht in erster Linie das Himmelslicht, die Energiequelle unserer Welt, sondern vielmehr eine moralisch-ethische Kategorie, Symbol und Zeichen sauberer und höherer Grundsätze, wie sie jedem Menschen zukommen. Sie ist das Höhere, das Edle, nach dem jeder streben sollte, wenn er sich Mensch nennen will. Sie ist der äußerste Antipode des Spießertums, das sich von seiner niedrigen und satten Philosophie des Magens leiten läßt, nur in den Tag hineinlebt und gleichgültig ist nicht nur gegenüber dem Schicksal der Welt, sondern auch des Nächsten.
Jeder, so behauptet Dratsch, muß seine eigene Sonne haben, seine ersehnte Höhe, durch die er sich vom Zufälligen und Kleinlichen reinigt, sich selbst erhebt und besser wird.
Mit wachsender Meisterschaft kristallisierte sich immer deutlicher die poetische und politische Position des Dichters heraus. Seine Vorstellung vom Ideal wuchs über den reinen, hilflos-naiven Protest gegen Pragmatismus und Kopekenhimmel hinaus. Dratsch festigte und stabilisierte ein konstruktives Programm, das sich auf das ewige Vorbild des menschlichen Genies stützt. Naturen, die stark waren in ihren Werken und Ideen – Lenin, Michelangelo, Kibaltschitsch, Mozart, Schewtschenko –, wurden seine Sonnen. An ihrem Höhenflug maß der Dichter jeden seiner eigenen Schritte, aber auch die Taten, Handlungen und Gedanken anderer. Daher auch der Maximalismus in der Beurteilung der menschlichen Charaktere und Handlungen, eine sarkastische, fast grausame Unduldsamkeit gegenüber jedwedem Falsch.
Sogar am Beispiel ganz früher, einst bespöttelter Verse des Dichters, der „Ballade von den gewaschenen Hosen“, wird klar, daß er nicht einfach mit Worten spielt, sondern ein konkretes Angriffsziel vor Augen hat, nämlich die Schönrederei, die keine Alltagsthematik in der Poesie zuläßt, und die Süßlichkeit und gespielte Feierlichkeit gewisser Balladen.
Iwan Dratsch kennt den Wert der Arbeit in all ihren Dimensionen – von der weltumspannenden geistigen („Corbusiers Ende“) bis zur alltäglichen, unscheinbaren häuslichen Arbeit („Ballade vom Onkel Hordi“). Er wendet sich nicht ab von rauhen, aufspringenden Fußsohlen und schwieligen Händen, denn er weiß, daß der Intellekt nicht vom Himmel zur Erde, sondern von der Erde zum Himmel wächst.
Iwan Dratsch sucht nicht Zuflucht in der naiven und gewöhnlichen ländlichen Exotik, er idealisiert nicht, er paßt sich nicht dem „häuslichen“ Stil an, der „so modern“ ist, er „flirtet“ nicht mit dem „Volk“. Er stellt sich auch nicht belehrend über das Volk. Er erhebt sich mit ihm zur vollen Größe geistiger und seelischer Schönheit. Er idealisiert das Volk nicht, er liebt es so, wie es ist, mit seinem praktischen Verstand und seinem Kollektivgeist, der sein Wesen ausmacht und der in den vergangenen fünfzig Jahren zur Norm wurde.
Dratsch arbeitet auch als Nachdichter. Hervorzuheben sind seine Übersetzungen des Georgiers Otar Tschiladse, des Litauers Justinas Marcinkevicius, des Russen Andrej Wasnessenski, des Spaniers García Lorca, des Türken Nasim Hikmet und des Franzosen Paul Éluard.
Auswahlbände des Ukrainers Dratsch erschienen bereits in russischer, aserbaidshanischer, lettischer, polnischer, tschechischer, slowakischer Sprache.
Iwan Dratsch, geboren am 17.10.1936, trat nach Abschluß der Filmhochschule in Moskau auch als Drehbuchautor hervor. Er lebt heute in Kiew.
Borys Olijnyk, Nachwort
Iwan Dratsch
Der 1936 geborene ukrainische Dichter Iwan Dratsch wehrt sich dagegen, als „fertiger“ Künstler zu gelten. Er ist offen gegenüber neuen Gedanken und lyrischen Versuchen. Das verleiht seinen Gedichten Lebendigkeit und Aufrichtigkeit. Dratsch scheut sich auch nicht, Gegenstände aufzugreifen, die gemeinhin noch als unpoetisch gelten. Ungewöhnlich bei ihm ist die eigenartige Brechung von intellektuell umgeformter Folklore und einer naiven Philosophie, die in einer zerrissenen Welt nach Harmonie sucht. Schönheit und Vernunft findet Dratsch in den seinem Ideal nachgeschöpften Michelangelos, Mozarts, Einsteins. Die Klugheit des Lebens verkörpern die „Picassos“ und „van Goghs“ aus dem Volk. Hierhin geht er zur „Wahrheit, zum Grund des Lebens. Umflochten kilometerweit von Philosophien… Und bist manchmal nur um des Herzens Breite weg von jener einzig ozonenen Wahrheit.“
Die Auswahl beginnt mit den frühen Gedichten Dratschs aus den sechziger Jahren und führt bis 1974.
Verlag Volk und Welt, Beipackzettel, 1976
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973








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