Monika Rinck: Champagner für die Pferde

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Monika Rinck: Champagner für die Pferde

Rinck-Champagner für die Pferde

NACH DER POESIE:
Warten auf die Ablösung

Die Zukunft der poetischen Sprache liegt im Dunkeln, wie alle möglichen anderen Zukünfte auch. Das Einzige, was wir von ihr wissen, ist, dass sie später eintreffen wird als die, die wir kennen (und sicherlich nicht zur Gänze überblicken), dass sie also hinsichtlich der Gegenwartspoesie postpoetisch ist. Das Präfix „post“ meint ja nicht, dass ein Phänomen insgesamt zu seinem Ende gekommen ist und nun endlich abgelöst werden kann. Sowohl die Errungenschaften wie die Krisen der Moderne wirken schließlich in der Post-Moderne fort. Das Ende der Geschichte ist nicht eingetreten. Aber der Fortgang der Geschichte als beendete, vom Ende bedrohte, durch ihr vorstellbar gewordenes Ende befreite oder belastete Geschichte ist eingetreten. Versuche der Entledigung durch das Voransetzen der Vorsilbe Post führen zu Vermehrungen, Aufsplitterungen, Abspaltungen, Variationen, Versionierungen – oder zu gar nichts. Sie vermögen allerdings das Bewusstsein für ein kritisch umgebautes Fortwirken zu präparieren oder, optisch gesagt, die Perspektive auf einen möglichen Paradigmenwechsel hin auszuleuchten.
Wo sind „wir“?1 Immer deutlicher wird heutzutage die Anrufung (einer marktförmigen Identität) durch alle Formen der Bewusstseinsindustrie, aber auch durch die Allgegenwart von Werbung und Wettbewerb. Man denke nur an die Fernsehformate, die uns unablässig das Ausscheiden und Weiterkommen in allen möglichen Bereichen vorexerzieren, und an die Unart der öffentlichen Jurys, auch der literarischen, die mir zunehmend unangenehm geworden ist. Man täusche sich nicht: Ein Wettbewerb ist etwas anderes als ein Spiel.

Man identifiziert sich nicht mit den Teilnehmerinnen am Wettbewerb, sondern mit der Jury. All die Kränkung, die der bewertete Körper, die bewertete Stimme, die bewertete Performance, die duellierende Politikerin erfährt, übersetzt sich für die Zuschauerinnen in die Macht derjenigen, die die Regeln kennen und das Urteil fällen. (…) Gleichzeitig verankern sich aber über die Praxis des Bewertens die herrschenden Maßstäbe umso tiefer in unserem Denken und muss der Blick umso dringlicher von uns abgelenkt werden.2

Daneben treten wiedererwachte Nationalidentitäten, die vor allem sadomasochistische Züge tragen, das ist sogar ihr hervorstechendes Merkmal. In der Dialektik von Opfer, Vergeltung und Verrat finden diese wehleidigen und gefährlichen Akteurinnen und Akteure eine neue deutsche Grundform, in die hinein sie sich entwerfen können, süchtig nach etwas, das sie Normalität nennen und das sie für alle anderen zerstören. Es handelt sich nicht nur, wie gerne behauptet, um die Kampfgemeinschaft der Ausgemusterten, die gerade durch ihre Kritiker hervorgerufen worden ist. Es sind Vertreterler3 einer taktischen politischen Niedertracht, die den Rahmen nach rechts verschieben und das Unding einer nationalen Identität im Dreierpack veräußern. Gewalttätig verkehrt gilt auch hier, dass das Selbst die Gabe des Anderen ist. Das begann irgendwann in den 2000er Jahren, seit 2015 erleben wir einen deutlichen Fokus auf die Feindseligen, Wehleidigen und Unbeweglichen, die sich eine entmischte Vergangenheit erträumen, die es so nie gegeben hat.
Der steten kommerziellen Personalisierung mitverdankt ist der Eintritt in das Zeitalter des negativen Narzissmus, der konsumistische Ego-Essentialismen vervielfältigt, da Verkäuferler den Leuten erzählen, sie könnten auf Wunsch alles sein – wobei sie ihrerseits das genau darauf zugeschnittene Requisit im Sortiment führten. Und wer das doch nicht kann, ist gescheitert. Fürchterlich. Ob potentiell alles zu sein überhaupt wünschenswert ist oder ob dieser Anspruch einfach nur die Lautstärke der ideologischen Kakophonie des Allmöglichen hochregelt, bleibt unklar. Der Anspruch tut avanciert, bedient sich bei den Künsten, den Fiktionen, Filmen, Moden, Theoretikerlern – und reißt all dies hinüber in den panischen Ego-Raum einer generellen Machbarkeit, die bereits Züge eines Machbarkeitszwanges trägt. Die vorgebliche Realisierbarkeit ist das Problem.4 „Es ist das mich, das ich motivieren muss“, schreibt Luise Meier in ihrer bereits zitierten MRX Maschine und kurz darauf:

Folgt man der unternehmerischen Logik des Produktionsprozesses von Identität (…), nimmt es nicht wunder, dass auch das innere Proletariat am Ende keinen sicht- und sagbaren Anteil an seinem Arbeitsprodukt hat. (…) Wenn ich mich einmal zusammengerissen habe, wo versteckt sich das vormals Un-Zusammengerissene?5

Let go, will man sagen, trösten, lass gehen, lass gut sein, lass los. Vieles kann auf freundliche Weise nebeneinander existieren. Als Charakteristik des Imaginären betrachtet, handelt es sich um ein nicht zuletzt ästhetisches Vergnügen der phantasmatischen Multiplikation, die Freuden und Würde der Mischung. Aber das bedeutet eben auch, dass ich gewillt bin, das Imaginäre als realistischen Bezirk des Austauschs ernst zu nehmen und wertzuschätzen. Ja, es ist das Ausgedachte, aber das Ausgedachte findet kein Gegenüber, das nicht ausgedacht ist. Dies gilt insbesondere für den Wettbewerb der Identitäten, von denen die meisten sowieso im 18. Jahrhundert erfunden worden sind. Das Poetische sowie das Postpoetische sind sich darüber im Klaren und verzichten auf brutale Hilfskonstruktionen wie das Normale oder die Normalität – es sei denn, im Sinne der Anklage. Unveräußerlichkeit ist hier ein Argument dafür – im Sinne einer inneren, identitätsarmen und spielfreudigen Beweglichkeit; hakenschlagend.
Doch häufig wird eine andere Nutzung (und gleichermaßen Tilgung) des Imaginären beworben: als Hervorbringer oder Heimatatmosphäre der sprachlich-legitimierten Stillstellung von richtig fiesen fiktionalen Identitäten, für die man sich aber dennoch entscheiden muss. Die Zuspitzung besteht darin: Zwar leugnet niemand ihren fiktionalen Status, dennoch hat sich subkutan eine neue Zwangslage synthetisiert. Gerade weil sie fiktional sind, werden sie zu unlebensweltlichen Idealen, die auf Ausfüllung dringen. Alenka Zupančič stellt diese vertrackte Struktur schlüssig dar:

Die Frage nach der Wahrheit ist nie einfach die Frage, ob etwas wirklich geschehen ist oder nur vorgetäuscht, ,vorgespielt‘ wurde – die Frage nach der Wahrheit beinhaltet die Verbindung zwischen dem, was wir sehen (sei es die Realität oder ein Schauspiel), und dem Realen, das es strukturiert.6

Wenn ich mich dieser Art des performativen Entscheidungsfurors aussetze, bin scheinbar ich es selbst, die einen sehr mürbemachenden Naturalismus zweiter Ordnung erzeugt. Doch wo finde ich einen noch nicht vereinnahmten Pausenraum, um in Ruhe nachzudenken? Darauf muss die Sprache nicht nur ästhetisch, sondern auch sozialwissenschaftlich reagieren. Oder: Ästhetik ist in dieser Hinsicht als Sozialwissenschaft zu verstehen. Will sagen: Die Aufgaben und Möglichkeiten der Sprache sind gewachsen – und zwar an jeder Front, auch an der Gegenfront. Daher müssen die Möglichkeiten der poetischen Sprache, die Möglichkeiten der dichten Deutung ausgebaut und ihrerseits in jeder Hinsicht beworben werden.
Das gute Gedicht als ein Phänomen poetischer Sprachverwendung befindet sich sowohl jenseits der Außengrenzen des Identitätsgeschehens als auch zuinnerst darin. Es muss all das besonders gut machen, oder alternativ: besonders schlecht. Beides wäre Protest und Korrektur. Wenn es nicht Entmischung meinte (die ich aus begreiflichen wie auch aus begrifflichen Gründen ablehne), könnte man im Sinne einer bestens herausfordernden Überbietungslogik fordern: Eigentlich darf man ab jetzt nur noch poetisch sprechen. Poetisch sprechen mit metaphorischen Kollisionen ungleicher Teile, analytisch, musikalisch, singend, interventionistisch, mit unklarer Schärfe, scharfer Klarheit, sanfter Klinge, klingelnder Sanftmut, nicht zu erwartenden Sprüngen, hier zu knapp, dort wiederum viel zu ausführlich, mit Auslassungen und irreführenden Details, in frivolen Reimen, mit viel zu langen Pausen, in steilen Bildern, dichten Begriffen, in Katarakten, mit hastigen wie klappernden Schlüssen, im diffusen Singsang, besiedelt mit willkürlichen, arbiträren Objekten, undurchdringlich wie Kautschuk, zäh wie Knirschschienen, mit Tieren, mit Noten, mit Noise, apodiktisch, apophatisch, begrifflich und schaumig, aufgeschäumt, verklausuliert, dann wieder von einschneidender Offensichtlichkeit. Und so weiter und so fort. Es wird hier kein einfaches Wort mehr gesprochen. Es wird ab heute nur noch sehr ernst gespielt. Da dies alte Vorurteile bedient, die gegenüber der poetischen Sprache ohnehin bestehen, muss ich mich den Bedingungen des begrifflichen (und in gleichem Maße auch: des formlosen) Denkens stellen.
Poesie und Begriff – poetische und begriffliche Sprache: Im Gespräch mit Anke Hennig am 19. Mai 2012 in den Räumen des Merve-Verlags (in der Reihe: Poesie und Begriff – zur spekulativen Poetik)7 kamen wir auf die strukturschaffende Figur der Verzögerung durch eine einstweilen gültige begriffliche Fügung zu sprechen. Was wäre demnach ein Begriff? Eine Rast, für einen Moment das Ende der Eile – bevor das unablässig aus- und umdeutende Geschehen der skeptischen Vorstellungskraft, der Widerstand von unbewussten Szenarien, die verstandesgemäße Korrektur, die affektuelle Intervention aufgrund von Erfüllung oder Enttäuschung, das Eindringen des noch Formlosen, die Ablenkung von außen, die Erfahrung, die Rede der anderen Menschen, das Wetter (und viele andere Agenten mehr) erneut verändernd eingreifen.
Doch auf der anderen Seite wird es sich als günstig erweisen, diese begriffliche Rast so weit wie möglich hinauszuzögern – im Sinne einer Verlängerung des Wegs, einer Verdichtung der Phänomene und der Erhöhung des Anteils der Einzelheiten innerhalb der sprachlichen Versammlung, bevor die Setzung diese Vielfalt auf einen Begriff bringt, und damit die zuvor noch regen Widersprüche tilgt. Lasst uns das Sammeln lieber noch ein wenig fortsetzen, bevor wir allen sagen, worum es sich handelt – im Gedicht ist jede begriffliche Setzung eine These, die verteidigt werden muss. Es wimmelt. Kein Kontext, keine Narration ist da und kein Charakter, sie zu stützen.
Das Gegenteil des Begriffs ist ja nicht die Poesie. Ebenso wenig wie das Gegenteil von Poesie der Begriff ist. Die Poesie müsste, so wollten dies die Romantiker, in der Lage sein, den Begriff und den Un-Begriff aufs Beste miteinander zu verbinden: zu einer Wortkunst mit universalisierbarem Erkenntnisanspruch, als apotheotische Aufhebung der Spaltung im poetischen Denken. Was kann die Poesie, was das abstrakte Denken nicht kann? Und woraus setzt sich das poetische Denken zusammen? Müssen wir mehr über das Gehirn erfahren, um diese Frage zu beantworten? Wie es derzeit mancherorts unter dem Schlagwort „Empirische Ästhetik“ in Angriff genommen wird? Oder wäre es, wie Pastior dies auf dem Podium zu Poesie und Wissen: Literarische Neugier und die Wissenschaften vorführte, das im Mai 2004 im Literaturhaus Berlin stattfand, mit der Erforschung des Gedichtes als einem vollgültigen Produkt des menschlichen Gehirns getan?
Die Sestina, sagte Oskar Pastior damals, könne die Hirnforscherler der Zukunft quasi archäologisch das Denken des Menschen lehren, die Kombinatorik und Akrobatik einer eingefleischten Logik. Man leite dies dann retrospektiv aus des Hirns delikatesten Produkten ab. Das scheint mir heute noch einleuchtender als der Versuch, die Zukunft der Literatur magnetresonanztomographisch in der sogenannten Hölderlin-Röhre zu lesen. Vielmehr gilt es, die Deutung zu verfeinern – ebenso wie die vorausgehende künstlerische Zeitdeutung, die die Literatur ist.
Zurück zu Poesie und Begriff: Der „Begriff“ genießt nach wie vor ein hohes Ansehen. Wahrscheinlich ist der Begriff des Begriffs einer der letzten Begriffe, die mit solcher Emphase in den verschiedensten Kontexten gebraucht werden können. Ah, ein Begriff vom BEGREIFEN. Hier gibt es einen zupackenden Reflex (wie am Abgrund), der das Verstehenspathos längst hinter sich gelassen hat. Verstehenspathos ist kaputtbesänftigt worden, ja, eigenartigerweise. Verstehen gibt es als dramatisches Geschehen eigentlich nicht mehr, obwohl das Nicht-Verstehen nach wie vor in jeder Hinsicht ein furchtbares Drama zu sein scheint.8 Es stellen viele auch kluge Leute angesichts von Gedichten das Denken ein, was eine unnötige und für beide Seiten bedauerliche Situation ist. So dass man sich ohne jede Polemik fragen muss: Wer hat ihn, wer hat sie denn so zugerichtet? Das Gedicht selbst kann es nicht gewesen sein. Niemand kann auf Deutung verzichten, und eine gute Deutung ist mehr als das Tilgen der Irritation aus einem Verhältnis, das sich nicht unmittelbar enthüllt und mit hoher Verträglichkeit zum sofortigen Genuss angeboten hat. Dass Verzögerung ein Vergnügen sein kann, müsste den Leuten aus ihrem Liebesleben doch eigentlich vertraut sein.
Lorenz Wilkens hat es einmal sehr schön formuliert:

Zu jeder Lust gehört die Angst, deren Überwindung zu ihr führte.9

Auch dies bewegt sich in einer zeitlichen Abfolge, einem Davor und einem Danach. Und darum soll es hier gehen, nicht zuletzt im Sinne der künftigen poetischen Sprache – die den Zeitverlauf und auch die Dauer im Verstehensprozess wieder ins Augenmerk rückt, und damit der steten Beschleunigung, die ja letztlich eine Aufgabe des Nacheinanders zugunsten einer panischen Gleichzeitigkeit ist, einen Widerstand entgegensetzt. Ich nehme an, dass dies in Zukunft immer wichtiger, wenn auch allgemein immer stärker abgelehnt oder zumindest immer weniger ertragen werden wird. Sei’s drum.
Die US-amerikanische Dichterin Laura Riding schrieb 1930 im Vorwort ihres Lyrikbandes Poems A Joking Word, „damit etwas, das sein muss, auch sein kann, muss ihm etwas vorausgehen, das nicht sein muss. Diese Gedichte mussten sein. Oder anders: Wenn sie nicht wären, dann müsste es sie geben. Oder noch anders: Ich musste nicht mich fühlen und denken Gericht, sondere ich dachte mich und fühlte Gerichtetheit. Das heißt, wenn etwas sein muss, dann muss ihm auch etwas vorausgegangen sein.“10

Wenn sie nicht wären, dann müsste es sie geben.

Hm. Diese schillernde Zweizeitlichkeit führt zurück in die sich selbst quasi unausgesetzt ein- und ausladende Containerlandschaft von Un-Begriff und Begriff. Ein Unbegriff ist keineswegs identisch mit einem Bild, es ist eher das, was der Begriffsfindung vorausgeht. Import-Export ohne Ende. Nehmen wir einmal an, eine gute begriffliche Fügung sei nichts anderes als ein privilegiertes, sehr deutliches Beispiel.11 Ich stelle mir eine sowohl begriffliche wie auch poetische Sache vor, die so anschaulich und klug ist, dass sie zu ihrem eigenen Beispiel wird. Das ideale Beispiel, das stabile Beispiel, das Beispiel, das auf sein Obsoletwerden noch ein wenig warten darf. Das Beispiel, das immer auch für etwas steht, was über es selbst hinausgeht. Das Beispiel, das auf die Funktionsweise von Repräsentationen hinweist. Das Beispiel, das sowohl allgemein wie auch besonders ist. Das Beispiel, das sich selbst von seiner Obsoleszenz erholen könnte, nach einiger Zeit und als ein neues Beispiel zurückkäme. Oder so:

Das Subjekt in der Ethik ist kein Subjekt, das in seiner gegebenen Situation sein subjektives ,Gepäck‘ mitbringt und damit die Situation beeinflusst. Das Subjekt ist im Gegenteil etwas, das aus dieser Situation (oder der Handlung) hervorgeht und nicht schon vorher existiert. Das (sittliche) Subjekt ist der Punkt, an dem das Allgemeine zu sich kommt und seine Bestimmung erreicht.12

Doch ist nicht die Fortschrittsgläubigkeit der Aufklärung wie andere stramme Fortschrittsfiguren inzwischen zu Recht etwas fragwürdig geworden? Immer noch besser als Niedergangshörigkeit, Kulturpessimismus und nostalgische Privilegierung des Gestern, höre ich mich sagen. Hm. Es gilt, sich zu fragen, was das Neue ist. Auch sich zu fragen, ob es nötig ist.

Was sich in Bewegung setzt, muss die Vorstellung von dem, was kommen wird, aufgeben, um sich dorthin zu bewegen, wo es noch nicht war.13

Sich fragen, was in diesem Zusammenhang der Fortschritt ist. Etwa wie man zuweilen von „avancierten Schreibhaltungen“ spricht und eine ungefähre Vorstellung von etwas Gutem damit verbindet. In Zukunft etwas genauer, bitte. Ha, hier schon wieder, der erwartungsvolle Blick ins Künftige. Man bekommt etwas, man verliert etwas. Das hat die Modernisierung eben so an sich – und um die meisten Dinge ist es auch wirklich nicht schade.
Als Begriff bestimmten wir einstweilen (als seine rudimentärste, quasi tiefste Funktion): das Geschenk einer Rast. Also begabten wir ihn mit einer festungsähnlichen Idee von Stabilität. Oder dachten ihn als Hügel, Hügelchen, Draufsicht, Übersicht. Hieran zeigt sich: Begriffliche Vorstellungen bestehen immer auch als (und in) Bildern. Bilder – sie eilen pausenlos von überall hinzu. Ebenso wie Begriffe. Sie lösen einander ab. Oder besser: Sie dienen einander wechselseitig als Filter.14 Sie verzögern die Wahrnehmung, insofern als sie immer wieder gemeinsam eingreifen.
Eine interessante Ausprägung dieser Abläufe wurde mit der Deutsch-Deutschen Übersetzungswerkstatt, die im Jahr 2010 stattgefunden hat, kenntlich. Elke Erb und Raphael Urweider bildeten eines der Tandems, die einander übersetzten. Man achte bei der Lektüre dieser Variationen und Übersetzungen insbesondere auf das Verzögern des begrifflichen Einhakens, auf das sich Elke Erb versteht wie keine andere.15 Hier zeigt sich eine Qualität, die an der poetischen Sprache zukunftsnotwendig (oder auch: notwendig zukünftig) ist: die Veränderlichkeit der Dinge in ihrer Beschreibung aufzubewahren und dennoch vor Setzungen nicht zurückzuschrecken. Das ist nicht einfach.
Machen wir uns das biblische Bilderverbot klar. Lorenz Wilkens stellt in seinem Aufsatz zum Bilderverbot die These auf (ich vereinfache), das Bilderverbot richte sich in erster Linie gegen die Tendenz des Bildes zum Stillstand, welche das plötzliche Umschlagen des Gedankens verhindere, oder zumindest nicht befördere.16 Das Denken kann ständig umschlagen – das Bild als Artefakt kann es nicht. Müsste man dann nicht poetische Bilder herstellen, die gerade dazu in der Lage wären? Bilder, die – wie durchwurzelt von Wandelbarkeit – als Trickster dem Einhaken der Erkenntnisvermögen entgehen, aber das tun, ohne ungerührt über die Bedürfnisse nach Anschaulichkeit und Bannung des entropischen Raumes im Bild hinweg zu segeln? Das wäre wirklich große Kunst. Allein die Bewegung dürfte als unmittelbar gefeiert werden, alles andere aber müsste unbedingt mit aller Sorgfalt vermittelt (das bedeutet auch: distanziert und entfremdet) werden.17 Was würde man dann lesen? In jedem Fall hätte man es mit einer Distanzendialektik zu tun, die die Nähe in der Ferne und die Ferne in der Nähe behauptet, ohne das eine im anderen einzuschmelzen.
Vielleicht müsste man daneben aber so etwas sagen: Die poetische Sprache weiß, dass beim vorherrschenden Unmittelbarkeitskult nichts mehr zu holen ist.18 Denn der Immediatismus ist keine geistesgegenwärtige, taumelnde Augenblickskunde mehr, sondern meint inzwischen immerwährende Verfügbarkeit, ständige Ansprechbarkeit, Auslöschung der Lücke. Wir (ich und das Gedicht) wollen aber nicht mehr ständig ansprechbar sein. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass es sich bei der ständigen virtuellen Ansprechbarkeit durch Geräte um „Zeitmissbrauch“ (abuse of time) im schlimmsten Sinne handelt, der sich groteskerweise auch noch als Nutzung (oder gar Ausnutzung) jeder freien Sekunde tarnt.

Wissen zu wollen, wie man gelebt haben wird, macht müde.19

Die poetische Sprache der Zukunft wagt den Entzug. Sie propagiert ihn, statt ihn zu erleiden. Nein, ich spreche nicht vom tyrannischen Stolz der Schmerzpatientin oder von Formen entschiedener österreichischer Selbstverletzung, wie sie zuweilen in Bezug auf poetische Sprachgebungen ins Feld geführt werden. Ich spreche schlicht von einem anderen Timing – das sich eben auch in seiner Wahrnehmung realisiert. Weil das Gedicht kein Geld hat, hat es Zeit. Allerdings möchte ich die immense Brutalität der Idealisierung des Marginalen nicht übergehen. Idealisierung trägt hier gar Züge einer dämonischen Verkörperung, ja, schlimmer noch, eines Körperraubs. Wir sollten genauso damit aufhören, das Gedicht in masochistischer (oder sadistischer) Weise zu idealisieren oder zu entwerten. Mehr Realismus bitte, aber mit dem ganzen Irrsinn, den unsere Realität derzeit zu bieten hat. Alles andere wäre Betrug. Oder schlechte Prosa. Was nahezu identisch wäre mit Betrug.
Die poetische Sprache wagt in Kürze vielleicht Aussagen wie: Ich habe ein vorsprachliches Gefühl. Sie weiß nämlich, dass auch das Vorsprachliche von der Sprache mit hervorgebracht wird und daher an dieser Stelle keine dichotomen Dramatisierungen mehr notwendig sind. Es gab doch früher keine Maschine, in die man mitten in der Nacht „Kiefer Schläfen Schmerzen“ eingeben konnte und die sogleich eine unheilbare Trigeminus-Neuralgie mit all ihren Symptomen ausspuckte? Das führt wohl zu einem anderen Umgang mit der nicht ganz zu Ende bestimmten Gemengelage des halb körperlichen, halb geistigen Unwohlseins, das der Engländer Feeling Funny, Feeling Peculiar nennt.

Vielleicht handelt es sich um eine milde Form der klassischen Spukerfahrung, in der man spürt, von einer Kraft übernommen zu werden, die nicht wirklich dem Selbst zugehört und die uns doch kontrolliert (…) oder zumindest böswillig oder destruktiv beeinträchtigt. Oder die Schuld liegt anderswo, und zwar in der Annahme, dass wir mit uns selbst übereinstimmen und nicht aus unserem eigenen Zentrum verdrängt werden sollten, während die Wirklichkeit menschlicher Subjektivität zeigt, dass es immer einen Fremden im Innern gibt, der sich sowohl produktiv als auch unangenehm und friedensstörend in uns betätigt.20

Zudem entstehen mit Hilfe der Suchmaschinen und der programmlichen Strukturen der Anwendungen, die wir (und die im Gegenzug auch uns) täglich anwenden, neue quasi-elementare Oppositionen. Hier geht es um Vorhaltezeiten, Lösch-Robots, unendliche halbkaputte Online-Archive, Blauschaltungen, die Bewältigung von Bilderfluten in Media-Libraries, die Zugänglichkeit von beinah allem und jeder Obsession, die Tatsache, dass man unterscheiden lernen muss zwischen einer Liste, die ein Suchergebnis darstellt, in die ich nichts hineinziehen kann, sondern nur hinaus, und einer anderen Liste, die die Listenansicht abbildet, in die ich etwas hinausziehen, aber auch, und das ist wichtig, hineinziehen oder dort sogar neu anlegen kann. Das sind grundlegende Oppositionen, die bisher nicht wichtig waren und die vermutlich weitere hervorbringen werden, deren Wichtigkeitslogik wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Und die das Denken verändern werden. Genauso wie sie die heute vielleicht noch spürbare Metaphorik in ihrer sprachlichen Beschreibung stufenweise konkretisieren und naturalisieren werden. Und irgendwann werden wir wiederum diese Strukturen verwenden, um unser Denken zu beschreiben. Krass.

Von der großen Datenumwälzmaschine lässt sich wenig verlangen. Sie ist darauf geeicht, unsere Wünsche durch deren verschobene Erfüllung gegen uns zu wenden. Wir können ihre Programmierung nur zerstören.21

Hinzu treten außerdem Fragen der Verwertung, des Gemeinbesitzes von Wissen und Produktionsweisen, der Patentierung und großangelegten Enteignung.

Die ungeheuren Renditen von Microsoft, Amazon, Google und Facebook entstehen ja weniger dadurch, dass sie der Welt eine neue Dimension hinzufügen, als dass ihre Algorithmen das bestehende System von Produktion, Zirkulation und Kommunikation rationeller, schneller und billiger machen und die Unternehmen aus dieser Rationalisierung eine permanente Monopolrente beziehen. Das Internet beschleunigt den Umschlag der Waren; als universale Kommunikationsmaschine horcht es Kunden aus und stupst Bedürfnisse an; gleichzeitig ermöglicht es neue Formen der Ausbeutung wie die Crowdwork, in der isolierte Individuen an ihren Rechnern Teilarbeiten verrichten, ohne Arbeitszeitbegrenzung und Gewerkschaft.22

Vieles, was vorgeblich brandneu aus der Zukunft in die Gegenwart herüber entwickelt wird, bleibt hinter den Utopien der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Marketing jeder Couleur hat freilich ein Interesse daran, die jüngsten Konsumgüter als bahnbrechende Erneuerungen anzupreisen, an denen kein Vorbeikommen ist. Utopische Theorien gelten als überkommen, obwohl es keine Lösung für die Probleme gibt, auf die sie reagierten. Die Frage ist, welche Gegenwärtigkeit ich einem Gedanken, einer Theorie, einem Kunstwerk zubillige.

Nichts, woran Sie sich erinnern können, ist vorbei. (…) Erinnerungen halten Nichtbewältigtes, nichtgelöste Konflikte fest; bedeuten nicht die Bewegung nach innen, das Wegtauchen in Ursprünge, in denen man sich konfliktenthoben heimisch fühlt, sondern fordern dazu auf, in den mühsamen Prozess der Auseinandersetzung mit gattungsgeschichtlich unerledigten Konflikten einzutreten und in ihm fortzufahren. Nicht das Zurücktauchen in einen konfliktenthobenen Zustand, sondern die Auseinandersetzung mit dem Misslingen des Auftauchens aus Konflikten: exakt das ist in der Psychoanalyse intendiert. In der analytischen Situation ist der Rückgang ja nie ein Rückgang, vielmehr via Erinnerung ein mühseliger, vieles in der Schwebe lassender Vorwärtsgang.23

Es handelt sich um eine dialektische Bewegung, kommentiert Klaus Heinrich, dessen Psychoanalyse-Vorlesung das obige Zitat entstammt.
Wenn der Rückgang kein Rückgang ist, ist dann auch das Vorauseilen kein Vorauseilen mehr? Nein, das nicht. Eines ist allerdings klar: Es gibt kein Zurück, wie sehr nostalgische Bewegungen sich dies auch wünschen mögen. Gestern war gestern, und die Verbrechen sind gerade mal ein durchschnittliches Menschenleben her. Wir befinden uns schon lange nach der Poesie. Doch nichts ist jemals vorbei. Die ausgehakte Operette baumelt. Wir adressieren die Gegenwart des Raumes mit Hilfe unseres Atems. Wir oszillieren und unsere Kammern flimmern. Unsere Organe lungern. Wir lesen. Wir haben Zeit.

[2013/2018]

 

 

 

Eine Feier der Poesie!

In Risiko und Idiotie, ihren hoch gelobten „Streitschriften“, erzählt Monika Rinck an einer Stelle von Marilyn Monroe: Wie die berühmte Diva stets nur aus frisch geöffneten Champagnerflaschen und stets nur das erste Glas trank, so dass es immer Champagner für alle gab. Und nun sollen selbst die Pferde nicht leer ausgehen. Das umfangreiche Lesebuch, das die Autorin zusammen mit ihrer Verlegerin Daniela Seel zusammengestellt hat, steht ganz im Zeichen der Fülle: Gedichte, Essays und Kurzprosa aus mehr als zwanzig Jahren. Es geht um Witz und Literatur, um Liebe und Freundschaft, Schwimmen und Schlafen, Glück und Erschöpfung. Es geht ums Sammeln und Wegwerfen, um Poetik und Psychoanalyse, Vorsilben und Nachsätze und die Ekstase der Wiederholung. Ein opulentes, wildes Buch, ein Streifzug durch Monika Rincks Gesamtwerk und eine Feier der Poesie.

S. Fischer Verlag, Ankündigung

 

Die Freischwimmerin

– Monika Rinck blickt tief in die Verfasstheit der Dinge und denkt dabei das Verdinglichende des Denkens stets mit. –

Erkenntnissattes, aufmerksamkeitsgeschärftes Bewegtsein ist, was die Texte von Monika Rinck hervorrufen. Davon überzeugen kann man sich nun mit dem 500-seitigen Sammelband Champagner für die Pferde. Rinck, die am 29. April ihren 50. Geburtstag feiert, hat ihn mit ihrer Verlegerin Daniela Seel zusammengestellt als eine Zwischenbilanz über zwei Jahrzehnte ihres Schaffens. Champagner für die Pferde enthält Gedichte, Essays, Lieder, poetologische Reflexionen, Texte zur Kunst Dritter und Auszüge aus dem „Begriffsstudio“, einem Archiv, benannt nach einem Kunstwort, das erst durch seine letzten Buchstaben die Differenz zum Adjektiv „begriffsstutzig“ markiert, und unter dem die Autorin seit 2001 Stilblüten sammelt: Verhaspler, Versprecher, Schilder in semantische Sackgassen, die Teil- oder Richtig-Verkehrtes transportieren.
Die Beweglichkeit und Bewegungen von Monika Rincks Denken, Sprechen und Schreiben deuten sich schon in der Gliederung des Bandes an. Seine fünf Kapitel sind überschrieben mit den Titeln von Rincks hier erstmals veröffentlichten Münster’schen Poetikvorlesungen aus dem Winter 2015: Ansprechen, Schwimmen, Schlafen, Verkörpern und Sammeln, mit Verben also, den „Muskeln der Sprache“, die Aktivität, ein Geschehen, einen Vorgang oder Zustand bezeichnen.
Wie hier ein In-der-Welt-Sein mündet in ein Schreiben, in dem das Sprunghafte, Assoziative, Alogische, Fragende und Fragmentarische vieldeutig aufgehoben ist, zeigt sich besonders eindrücklich an Schwimmen: Am letzten Tag der Berliner Freibadsaison 2015 sitzen wir mit der Autorin am Schreibtisch. Ein Text harrt der Abgabe. Noch einmal bestünde die Möglichkeit, im Freien zu schwimmen, ehe man sich dem Hallenbadchlormuff ergeben muss. Die Autorin schaut prospektiv von einem noch nicht eingetretenen Novembertag aus auf die Stunden im Freibad, auf die „türkisblauen Wasserflächen“, die „Edelstahlsäule des Wasserpilzes“, auf Routinen und Kabinen, die veränderte Perspektive vom Wasser, fühlt dem Schwimmen nach und gerät in einen Zustand, in dem sich Erinnerung, Traum, historische Exkurse mit Meditationen über den Zusammenhang von Körper und Schreiben, von Erkenntnis und Erfahrung, überblenden:

Das Schwimmen ist ja niemals schöner, als wenn die Aufmerksamkeit der Technik gilt. Es gibt dann eine Selbstvergessenheit, die wegführt von mir. Techne bringt Sophia hervor, indem sie einen von einem missgünstigen und zum Kreiseln neigenden Eigengeschehen weglenkt.

Ja, könnte man sagen, „it’s work“. Das Handwerk des Dichters hat eben auch mit Übung, Training, Verzicht zu tun. Fällt also die Entscheidung zugunsten des Schreibens? Der Schluss griffe zu kurz, wie überhaupt alle vorschnellen Schlüsse, da die Autorin selbst sie immer wieder anzweifelt. Also doch schwimmen? Ginge es, so Rinck, nicht eben darum: die eigenen Fähigkeiten weniger aus Fleiß, sondern aus Freiheit unter Beweis zu stellen?
Ständig steht man mit Rincks Texten vor neuen Fragen: War da nicht noch was? Wird nicht aus jeder Einsicht eine neue, andere Aussicht? Worum geht es, faktisch? Und worum könnte, sollte, müsste es doch gehen, utopisch? Hat man tatsächlich genau genug hingeschaut, während man schon überzeugt oder hingerissen war, auch vom Ulkigen oder Circensischen, das Monika Rincks intellektuell durchtränktes wie empathisches Werk immer mit sich führt, das sich in einem so klangvollen Gedicht wie der „hoho hortensie“, einer Pastiche auf Rilkes „Blaue Hortensie“ äußert? Oder in einem so herzzerreißend traurigen, analytisch tiefen wie „alleine weinen“, das 2012 in dem mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichneten Gedichtband Honigprotokolle erschienen ist:

Denke, dass ich verwahrlost bin, wo mich nur Stimmen treffen,
Mautgesang, ein jeder hat sein Ding. Mich dünkt, ich habe
keines. Meine Taille steht herum, die Beine stehn herum,
ich muss mich selber halten, etwas andres hält mich nicht.
Ich weine auch alleine. Alleine weinen taugt mir nicht
.

Einige von Rincks Gedichten haben längst Eingang in Lyrik-Anthologien gefunden. „mein denken“, „zum fernbleiben der umarmung“, „wie bitte geht vorbereiten“ oder „was machen die frauen am sonntag“.
(…)
Bei aller theoretischen Versiertheit der Autorin, bei aller Vertrautheit mit dem Werk von Dichterinnen und Dichtern aus vielerlei Sprachen, bleiben Rincks Texte in gewisser Weise klein wie die von ihr in „Tierbabybingo“ bedichteten Tiere. Sie zählen zum Klügsten, Eindrücklichsten, was die deutschsprachige Gegenwartsliteratur derzeit bereithält.

Beate Tröger, Der Freitag, 29.4.2019

Alle Türen auf, Putzi!

– Die Lyrikerin Monika Rinck zelebriert in ihren Gedichten Eleganz, Heiterkeit und poetische Unruhe. Das ist ein großes intellektuelles Vergnügen. –

Das neueste literarische Wappentier der Dichterin Monika Rinck hört auf den Namen Barkouf. Es ist ein Straßenköter aus einer Operette von Jacques Offenbach, ein allseits beliebter Hund, der es zum Gouverneur einer Stadt bringt und sich in das Herz des Volkes bellt. Solche grotesk-übermütigen und karnevalesken Motive, assoziativ kombiniert mit der ihr attestierten „Seiltänzerkühnheit“, sind der Stoff, aus dem die Gedichte und Essays der gedankenschnellsten deutschen Poetin gemacht sind.

Der Literaturwissenschaftler Christian Metz hat Monika Rinck kürzlich in einer enthusiasmierten Studie zur „Monarchin“ einer neuen „Lyrikaristokratie“ nobilitiert. Zwar dienen solche Labels primär der Legendenbildung, aber in diesem Fall lässt sich verifizieren, dass Monika Rinck längst eine Ausnahmedichterin von großem Einfluss geworden ist, deren Strahlkraft weit über den kleinen Kosmos der Lyrikcommunity hinausreicht. So ist es auch kein Zufall, dass sie kürzlich das Frankfurter Projekt Fokus Lyrik kuratierte, den seit Jahrzehnten größten Lyrikkongress in Deutschland.
Die Dichterin zelebriert die Reflexionseleganz und Heiterkeit ihres Denkens anlässlich ihres fünfzigsten Geburtstags in diesem Frühjahr gleich in zwei neuen Büchern. Der Köter Barkouf hat einen zentralen Auftritt im neuen Gedichtband Alle Türen, der ansonsten im Zeichen einer poetischen „Galoppade“ und einer großen Lobpreisung der Operette steht. Neben Barkouf trifft man noch auf weitere Tiere im Rinckschen Universum: Kängurus, Tapire, Kaninchen und vor allem Pferde besiedeln ihre poetische Arche Noah. Neben dem Gedichtband bei kookbooks ist im S. Fischer Verlag das opulente Lesebuch Champagner für die Pferde erschienen, das in einer subtilen Auswahl und Rekombination von Gedichten, Essays, Partituren und Zeichnungen aus zwanzig Jahren die enorme Beweglichkeit ihres Denkens vorführt.
Denn Monika Rinck ist nicht nur Dichterin und Essayistin, die ihre Anregungen vornehmlich aus den Texten französischer Philosophen bezieht, zum Beispiel aus den Schriften des im Lesebuch häufig zitierten Sprachwissenschaftler Émile Benveniste, sondern eben auch Komponistin und Zeichnerin. Die Grenzüberschreitung zwischen den Gattungen und Disziplinen ist dabei Programm.
Als Literaturwissenschaftlerin erkundete sie Ende der Neunzigerjahre die Mystik des spätmittelalterlichen Philosophen Meister Eckhart, als Philosophin entwarf sie eine blitzgescheite Theorie der Liebe (Ah, das Love-Ding, 2006) und richtete ein „Begriffsstudio“ im Internet ein. Als Dichterin schrieb sie assoziationsreiche wie begriffswütige Honigprotokolle, als Zeichnerin hat sie ihren Band Helle Verwirrung. Rincks Ding- und Tierleben illustriert. Als Übersetzerin startete sie das ungewöhnliche Experiment, den Band Homullus absconditus des schwedischen Dichters Magnus William-Olsson unter Hypnose ins Deutsche zu übertragen. Und zuletzt sang sie auch noch mit dem exzentrischen Dichter, Übersetzer und Tenor Christian Filips Lieder für die letzte Runde und initiierte anlässlich der Verleihung des bedeutenden Kleist-Preises im Herbst 2015 mit dem Publikum einen veritablen Kanon.

„Was ist schöner als der Mensch?“, heißt nun eine Grundfrage in ihrem Lesebuch, und die Antwort fällt eindeutig aus:

Ich sage: Pferde.

Bereits in ihrem ersten Gedichtbuch Verzückte Distanzen kokettierte Rinck mit ihrer Affinität zum „cowboyhandwerk“:

Ich bin wie ein Cowboy so sensibel. kann mich
in die pferde denken, in die rinder, in den rand.

Das poetische Spiel mit dem Pegasus, dem Flügelpferd der antiken Mythologie und Sinnbild der Dichtkunst, wird nun gedankenreich variiert. Eine der schönsten Eintragungen in ihr Begriffsstudio, das ein riesiges Materiallager für ihre Gedichte ist, handelt denn auch von ihrer Passion für Pferde:

mein beruflicher Pferdegang.

Die begriffliche Klammer, mit der die Autorin ihr stilistisch und thematisch so facettenreiches Lesebuch zusammenhält, sind vier Poetikvorlesungen, die sie im Jahr 2015 in Münster gehalten hat und die hier die Grundrisse für den Rinckschen Denkkosmos liefern. Eine der Vorlesungen ist dem „Schwimmen“ gewidmet, und ganz leichthändig führt darin Rinck vor, wie die Kunst des Schwimmens, „de arte natandi“, mit der Kunst des Schreibens zusammenfließt:

Die Balance zu finden einer lockeren Spannung, einer nicht störrischen Streckung ist große Kunst.

So eindrücklich und originell hier die Schwimmkunst mit der poetischen Tätigkeit enggeführt wird, so originell und witzig betreibt Rinck auch in den übrigen Kapiteln des Lesebuchs das Switchen zwischen Psychoanalyse, Sprachtheorie, Religionsphilosophie und Gender-Theorie. Da wird in jedem Gedankensprung eine selbstverständliche, ja symbiotische Verbindung von Poesie und Begriff zelebriert, denn das Gedicht wie den Essay versteht Rinck als „Wortkunst mit universalisierbarem Erkenntnisanspruch“.
Der absolute Feind dieses assoziativen Essayismus ist der „smarte Dichter“, der das einmal Erprobte immer wieder aufführt und mit seinen Standards in Serie geht. Gegen die „smarte“ Unbeweglichkeit der denkfaulen Traditionslyriker setzt Rinck daher die Tugenden der Komödie: „das Prinzip Operette“, die „Albernheit“ und das „vom Dämon untergrabene haltlose Gelächter“. Der traditionellen poetischen Form zieht sie das Prinzip der ästhetischen Kollision vor:

Poetisch sprechen, mit metaphorischen Kollisionen ungleicher Teile, analytisch, musikalisch, singend, interventionistisch… mit nicht zu erwartenden Sprüngen, in steilen Bildern, in Katarakten,… aufgeschäumt, verklausuliert, dann wieder von einschneidender Offensichtlichkeit.

So funktionieren auch ihre Gedichte als das große Nebeneinander kleiner Phantasmagorien, sinnlicher Momentaufnahmen, vokabulärer Zufallseinfälle und blitzartiger Impressionen. Ihr neuer Gedichtband Alle Türen speist sich aus dem Nachdenken über die Funktion offener und geschlossener Tapeten- und Geistertüren in der Operette und ihre Bedeutung als Grenze zwischen Innen und Außen – und sie beschreibt sie auch als „Schwellenwesen“, als Portale, die den Zugang zur Seele ermöglichen. „Besser als ein Gedicht“, so hatte Rincks Dichterkollege Rolf Dieter Brinkmann noch in den Sechzigerjahren behauptet, „ist eine Tür, die schließt“.

Bei Monika Rinck tönt es kategorisch:

Alle Türen auf, Putzi!

Die Entriegelung der geschlossenen Türen und Denksysteme ist auch in diesem Buch die Domäne dieser Dichterin. Rincks poetische Unruhe ist Voraussetzung für unser intellektuelles Vergnügen:

Ich bringe Schönheit in die hirnverbrannte Welt!

Michael Braun, Die Zeit, 16.4.2019

Monika Rinck – Champagner für die Pferde. Ein Lesebuch.

– Monika Rincks neue Textsammlung Champagner für die Pferde nennt sich harmlos „Lesebuch“, ist aber eine der derzeit spannendsten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Zeitgeist. –

Wollen sich die Intellektuellen wieder auf die Rolle des widerspenstigen Kritikers einlassen? Ist Mitmachen plötzlich wieder out? Monika Rincks neues Werk Champagner für die Pferde, das den unverfänglichen Untertitel „Lesebuch“ trägt, legt den Gedanken nahe. Rinck, eine der wichtigsten literarisch-intellektuellen Stichwortgeberinnen ihrer Generation, versteht es nicht nur, politische Positionen zu beziehen, wie einst Grass & Co. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auch auf die veränderten Strukturen der Öffentlichkeit. Das klingt, bis in die Wortwahl hinein, manchmal überraschend nach Theodor W. Adorno, dem lange belächelten Großvater der Kulturkritik.

Wer sind „wir“? Immer deutlicher wird die Anrufung einer marktförmigen Identität durch alle Formen der Bewusstseinsindustrie, aber auch durch die Allgegenwart von Werbung und Wettbewerb. Man denke nur an die Fernsehformate, die uns unablässig das Ausscheiden und Weiterkommen in allen möglichen Bereichen vorexerzieren. […] Man täusche sich nicht. Ein Wettbewerb ist etwas anderes als ein Spiel. Man identifiziert sich nicht mit den Teilnehmerinnen am Wettbewerb, sondern mit der Jury.

Auf diese Weise werden die am besten verkäuflichen „Werte“ Allgemeingut. Und wo keine Jury vorhanden ist, bewerte ich mich selbst, setze auch meinen Körper und Verstand dem Trend zur Daueroptimierung aus. Parallel dazu bilden sich im Schutz des Netzes die Gruppen der Selbstbestätigung von mehr oder weniger „Abgehängten“, die Schwierigkeiten haben, sich am Wettbewerb zu beteiligen, seit kurzem aber viel Aufmerksamkeit erregen.
„wehleidige und gefährliche Akteurinnen und Akteure“ eines neuen Nationalismus, „die sich eine entmischte Vergangenheit erträumen, die es so nie gegeben hat.“
Nach dem Scheitern von Merkels Willkommenspolitik und Trumps Erfolgen wollen die Medien die Abgehängten plötzlich „verstehen“, geben ihnen Raum, machen sie zum beinahe schon rituellen Gesprächsstoff.

Seit 2015 erleben wir einen deutlichen Fokus auf die Feindseligen, Wehleidigen und Unbeweglichen.

Soll sie sich anpassen, so einfach wie marktgängig sprechen und klare Feindbilder pflegen oder im Elfenbeinturm bleiben? In ihrem brillant schillernden Eröffnungstext „Nach der Poesie“ schlägt Monika Rinck eine Doppelstrategie vor. Das Problem im derzeitigen Kulturbetrieb sei erstmal:

Wo finde ich einen noch nicht vereinnahmten Raum, um in Ruhe nachzudenken.

Doch dieser Rückzug soll nicht Abschied von der Öffentlichkeit bedeuten, sondern Basis für neue Einmischung werden. Das heißt für Lyriker vor allem, sich mit der geregelten Sprache der Öffentlichkeit zu befassen, ihr nicht zu folgen:

Eigentlich darf man ab jetzt nur noch poetisch sprechen. Poetisch sprechen mit metaphorischen Kollisionen ungleicher Teile, analytisch, musikalisch, singend, interventionistisch, mit unklarer Schärfe, scharfer Klarheit […] nicht zu erwartenden Sprüngen, hier zu knapp, dort wieder viel zu ausführlich, mit Auslassungen und irreführenden Details, in frivolen Reimen.

Ein gutes Gedicht, so Monika Rinck, „muss all das besonders gut machen… oder alternativ: besonders schlecht.“ Wichtig ist, den Selbstläufer Kulturbetrieb zu stören. Etwa durch widerständigen Satzbau, der in eine unerwartete Pointe mündet.

Den Morgen auf einer wirbelnden Scholle
Weggetragen, eingeschlafen auf der Fahrt,
trat in den Raum von Aufbruch und Rückkehr
das plötzliche Bedürfnis, irgendjemanden
in einem winzig kleinen Zimmer zu siezen.

Das klingt gut, aber es ist andererseits nichts grundlegend Neues. Es wirkt eher wie eine Wiedererinnerung. So gern wie geschickt benutzt Rinck die Sprache der Klassischen Moderne in ihren verschiedenen Schattierungen. Auch dann, wenn sie sich plakativ gibt, und, wie Brecht und seine Verwandten aus der neuen Sachlichkeit, hemdsärmelig-ironisch Alltagsgespräche aufnimmt.

Plötzlich war das Plastik da,
obwohl es niemand nie erfunden hatte.
Mehr als hundert deutsche Wissenschaftler mit gekämmten
Bärten haben es erfunden oder gar niemand.
Plastik hatte keine Eltern.
Es wuchs in Heimen auf.
Niemand hat es je geliebt,
es war schlecht, leicht und stank,
wenn es brannte. Wir benutzten es als Einkaufstasche,
als Luftballon, als fast alles,
aber wenn man es beschimpfte, verteidigten
wir es nicht.
Aus Rache ist es nie verschwunden.

Ein Gedicht, das sitzt. Aber eine Erneuerung der lyrischen Sprache ist schwieriger als gedacht.

Hans-Peter Kunisch, WDR 3, 29.7.2019

Aber leben kann man davon nicht

– Monika Rinck ist die Lyrikerin, auf die sich alle einigen können. Ihr neues Buch zeigt aber auch: Lyriker sind heute mit Festivals und Dozenturen so beschäftigt, dass die Gedichte mitunter leiden. –

„Glück, das heißt, etwas ausdrücken und Anklang finden“, zitiert Monika Rinck Antonio Negri, und Anklang findet sie selbst seit vielen Jahren. Wo immer man sich über Gegenwartslyrik unterhält, leuchten die Augen, sobald ihr Name fällt. Gehört sie also, gerade fünfzig geworden, zum Mainstream? Oder ist der Zirkel der Lyrikenthusiasten, trotz des Booms der Gattung seit fast zwei Jahrzehnten, immer noch so klein, dass sein Mittelpunkt von allen Seiten erkennbar ist?
Die 1969 in Zweibrücken geborene Schriftstellerin ist in einem Maße anerkannt, wie es im Literaturbetrieb selten vorkommt. Verzückte Distanzen hieß ihr erster Gedichtband aus dem Jahr 2004. Gerade ist Alle Türen, ihr vierter Gedichtband, bei kookbooks erschienen. Sie ist aber nicht nur Lyrikerin, sondern auch Essayistin – und dies auf genuin literarische Weise, wenn man Literatur mit einer klugen Fügung Peter Sloterdijks als „syntaktische Glückstechnik“ versteht. Im selben Gespräch sagt er auch, wie das funktioniert:

Mit der nicht-alltäglichen Zusammenfügung von zwei, drei Wörtern beginnt die Levitation.

Die Wörter so zusammenzufügen, dass sie nicht alltäglich klingen und trotzdem auf verlockende Weise verstehbar, das ist eine ihrer Fertigkeiten. Sie ist eine lustvolle Denkerin und Gesellschaftskritikerin, aber keine Apokalyptikerin. Auch ihre Gedichte sind Denkbilder oder genauer: Denkbewegungen. Sie erkunden nicht unbedingt die Dinge, die es schon gibt, sie vervielfältigen die Möglichkeiten, über referenzlose Objekte zu sprechen. Oder hat schon mal jemand die Liebe gesehen? Mit dem erzählenden Essay Ah, das Love-Ding, der 2006 als ihr zweites Buch erschien, und dem Gedichtband Honigprotokolle von 2012 hat sie zwei vollkommene Artefakte erschaffen. Als Gegenstände zur Welt- und Selbsterkundung vereinen sie Verve, Energie, Komik, Verlangen und eine kleine Portion Koketterie. Es ist eine Atmosphäre, in die man sofort eintauchen will, wohlig, aber nicht ohne Gefahr.
Ihre Welt gehört der unseren an und hat doch einen Spin ins Surreale. Sie ist dem Traum ebenso nah wie dem Spiel. Das Imaginäre regiert ganz ungeniert in diesem Kosmos hochgeschraubter Wortverwicklungen. Man kann das auskosten, etwa, wenn man ein paarmal hintereinander eines ihrer Gedichte aus Honigprotokolle liest, zum Beispiel „Duft“. Es beginnt mit einer Halbzeile, die in 48 von 66 Gedichten des Bandes wiederholt wird:

Hört ihr das, so höhnen Honigprotokolle, es kann sein, dass ein Duft,
ein betörender Duft, den durchquerend ich scheu wurde vor Freude,
würzig, wie von gepflegten, rasend schnellen Pferden, ein Duft,
in dem Zuneigung und Umsturz einander hingerissen noch stützten,
dass so ein Duft eines Tages aufgespalten in seine Bestandteile wird
(eines sei Harz, ein andres Moosfäule, ein drittes steif wie Säure),
die dann so vereinzelt, jeweils herber, plumper, blöder, träger würden.

Dass Vereinzelung plump und träg und blöde macht, ist eine Erkenntnis, die Monika Rinck nicht allein aus der Olfaktorik gewinnt. Sie entspricht ihrem Tier- und Menschenbild. Was man in Gemeinschaft machen kann, sollte man nicht alleine tun, auf jeden Fall macht es gemeinsam mehr Spaß. So hat sie den einfallsreich komponierten Sammelband ihres Werks, der gerade bei S. Fischer erschienen ist, zusammen mit ihrer kookbooks-Verlegerin Daniela Seel herausgegeben. Eine schöne Kooperation nicht nur zweier Dichterinnen, sondern auch zweier Verlage, die für die Lebendigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stehen.
Nichts an diesem Buch ist Zufall, es ist so streng komponiert wie ein Gedicht. Vom Untertitel, „Ein Lesebuch“, der sich als Referenz an die Eltern, ein Lehrerpaar, deuten lässt, bis hin zum Titel, der an exzentrischer Flapsigkeit kaum zu überbieten ist: Champagner für die Pferde! Es versteht sich von selbst, dass er sich durch unterschiedliche Kontexte, die das Buch darbietet, immer weiter anreichert. Pferde aller Art kann man als Monika Rincks Wappentier durchgehen lassen – vom geflügelten Pegasus der Dichtkunst über das zottlige Pony bis hin zu einem dünnen Stofftier. Und in der Tat hat die Art ihrer Sprachakrobatik auch etwas von Reitkunst, mal scheint der Schenkeldruck der Dressurreiterin die Dinge voranzubringen, mal hängt sie mit langer Peitsche an der Longe des im Kreis galoppierenden Pferds, mal ist sie Teil der Voltigiergruppe, die sich auf dessen Rücken zur Kür-Formation verrenkt. Aber natürlich lässt sie sich auch als Zuschauerin eines Trabrennens imaginieren, mit Pilotenbrille, wie auf der Fotocollage des Covers, an dem die Kollegin Ann Cotten ihren Anteil hat. Im Alltag scheint ihr das Schwimmen näher zu sein, davon erzählt der ein oder andere Text und rückt das Schwimmen in die Nähe des Schreibens.
Leiblichkeit und Transzendenz sind bei Monika Rinck eng verknüpft. Es gibt kein Denken ohne den Leib. Aber die Kräfte des Aufschwungs, wie sie in den Praktiken und Symbolisierungen der Religionen eingeübt werden, spielen für ihr Schreiben eine gleichermaßen bedeutende Rolle. Sie hat (neben Geschichte und Vergleichender Literaturwissenschaft) Religionswissenschaft bei Klaus Heinrich an der FU in Berlin studiert und schwärmt von den Freiheiten des Studentinnenlebens in den Neunzigerjahren. Die fünf Kapitel des Lesebuchs heißen „Ansprechen, Schwimmen, Schlafen, Verkörpern, Sammeln“, ein Prolog und ein Epilog setzen die Akzente. Es ist eine sehr spezielle Form der Gesellschaftskritik, wenn sie vorschlägt, man sollte Ästhetik als Sozialwissenschaft verstehen. Wie kommt sie darauf?
Es ist eine der klügsten Ideen in diesem geistreichen Buch, die Zeitstruktur, die Lesen, Schreiben, Nachdenken brauchen, als eine Art ästhetischen Widerstand aufzufassen. Wer sich mit diesen Tätigkeiten befasst, weiß, wie unverhältnismäßig lang Verstehen dauert, wie viele Durchläufe nötig sind, bis man der Eigenart eines Gedankens oder einer poetischen Fügung auf die Spur kommt. Wer das in einen Stundenlohn umrechnet, ist schon verloren. Aber geht es darum? In gewisser Weise geht es ums Gegenteil. „Weil das Gedicht kein Geld hat, hat es Zeit“, schreibt sie im Prolog, der überarbeiteten Fassung eines Zeitschriftenbeitrags zur „Zukunft der Literatur“, wohl wissend, dass die „Idealisierung des Marginalen“ ebenso vermieden werden muss wie seine Entwertung.
Die Debatten um die Lyrik der Gegenwart sind fast immer von diesem Zwiespalt geprägt. Zunächst werfen alle die Orgel an, wie gut es um die Lyrik steht und was für eine tolle Sache Gedichte sind, dann stellt irgendein Spielverderber die blasphemische Frage, ob man davon leben könne, und die Beteiligten kriechen gedemütigt vom Podium. Nein, man kann davon nicht leben. Also muss man anderes tun: Poetik-Dozenturen annehmen, Vorträge halten, Literatur übersetzen, auf Lesereise gehen, Festivals und Kongresse kuratieren. Das alles schadet womöglich gar nicht. Aber es raubt Zeit – und es perforiert die Konzentration.
Das merkt man beispielsweise an den vier bisher unveröffentlichten Vorlesungen der Münsterschen Poetikdozentur aus dem Winter 2015, bei denen die Attitüde des Nachdenkens gelegentlich den Vorgang selbst ersetzt. Auch wenn die Leserin an anderer Stelle entdeckt, dass das nervige „Hm“, das in den Vorlesungen ständig auftaucht, ein Dylan-Zitat ist – „All the tired horses in the sun / How’m I supposed to get any ridin’ done? Hmm.“ –, lässt sich doch nicht übersehen, dass sich darin Routine mit sanfter Unlust paart. Ähnlich verhält es sich mit dem neuen Gedichtband Alle Türen.
Allzu oft lassen die Gedichte erkennen, dass es sich um Gelegenheitstexte handelt. Die Vorzüge der offenen Form, die Monika Rinck, wenn sie mit Leib und Seele bei der Sache ist, so glänzend zum Summen und Leuchten bringen kann, geraten ins Hintertreffen, wo der Zeitdruck schnelle Lösungen verlangt. Natürlich finden sich auch in diesem Band gelungene Gedichte – wie ein Gedicht über die Körperlichkeit von Traurigkeit mit dem lakonischen Titel „Schnauf“.
Sind die „luftwesen der begeisterung“, wie es in der Kleinschreibung früherer Gedichte heißt, mit den Jahren einfach etwas seltener unterwegs? Oder hat sich die Zeitstimmung geändert? Die Begeisterung für das schnelle Hin und Her digitaler Kommunikation hat auf jeden Fall abgenommen. Seit sie ihren Facebook-Account mit all den Ablenkungen, Angriffen und Projektionen geschlossen hat, bekennt Monika Rinck, sei sie „ein viel glücklicherer Mensch“.
Wie Handke und Strauß hat auch sie eine Zeit lang die Figur des Idioten gegen den Zeitgeist ständiger Ansprechbarkeit und Verfügbarkeit gespielt. Risiko und Idiotie heißen ihre „Streitschriften“ von 2015. Darin profiliert sie auch „das Prinzip Diva“ als Figur der „lebenserhaltenden Überspanntheiten“, mit denen sich Angebote auch mal ausschlagen lassen, damit die Kreativität nicht versiegt.
Von Marilyn Monroe erzählt Monika Rinck, sie habe stets nur aus frisch geöffneten Champagnerflaschen getrunken und nur das erste Glas. So gab es „Champagner für alle – immer. Den Rest eben. Und das war schon viel: Verweigerung und Fülle.“
Vielleicht hat die charmante Champagner-Logik, die sich im Titel kundtut, mit den großen Preisen zu tun, die Monika Rinck in den letzten Jahren bekommen hat. Für Schriftsteller und Schriftstellerinnen sind sie das Pendant zum bedingungslosen Grundeinkommen, für das der Soziologe Hartmut Rosa plädiert, um jenes Phänomen zu fördern, an dem sich gutes Leben bemisst: Resonanz.

Meike Feßmann, Süddeutsche Zeitung, 27.5.2019

Fürchtet nicht die Dämonen!

– Warum Eindeutigkeit eine Sackgasse ist: Zwei neue Bände belegen, warum in der gefeierten Lyrikerin Monika Rinck auch eine Utopistin steckt. –

So richtig passt sie in keine Kategorie. Weder geriert sie sich als Sentimentalistin, noch als verkopfte Sprachkritikerin. Der poetische Raum, den die Lyrikerin Monika Rinck seit Anbeginn ihres Schreibens besetzt, ist jener der Schwelle: zwischen Seele und Körper, Vergangenheit und Zukunft, Realität und Imagination. Kaum ein anderer als der im Jahr 2019 erschienene Band Alle Türen beschreibt wohl schon im Titel treffender die Selbstverortung der 1969 in Zweibrücken geborenen Autorin. Mal geschlossen, mal angelehnt, trennen sie die Welt in Draußen und Drinnen. Die Poetin rät uns allerdings grundsätzlich:

Lass sie offen, du sperrtest dich sonst mit Dämonen ein.
Diese sollten kommen und gehen. Binde sie nicht.

Dann die Angst, gar nichts mehr festhalten zu können.

Einerseits, so suggeriert der letzte Vers, gibt es die begründete Sehnsucht, Halt zu finden, andererseits könnte genau dieses Unterfangen zum Stillstand führen und in diesem Fall finstere Wesen zu dauerhaften Mitbewohnern werden lassen. In einem Essay, der neben vielen weiteren ihrer poetologischen Texte und ebenfalls im Jahr 2019 in dem Kompendium Champagner für die Pferde erschienen ist, schreibt sie über die Dichtung: Sie „bleibt in gewisser Weise am selben Ort, geht hinein und hinaus, türmt, stapelt, verdichtet […] geht tiefer in den Gedanken […]. Die Versbewegung suggeriert ein Bleiben […] – was in keinem Fall als ein Lob der Immobilität missverstanden werden soll. Es geht ja weiter. Das Fortschreiten ist tropisch.“
Dass sich hinter dieser ästhetischen Programmatik des paradoxen Ineinander von Bewegung und Innehalten auch eine politische Anschauung verbirgt, wird in anderen Stellungnahmen der Autorin offenkundig. „Wo sind ,wir‘? Immer deutlicher wird heutzutage die Anrufung (einer marktförmigen Identität) durch alle Formen der Bewusstseinsindustrie […]. Daneben treten wiedererwachte Nationalidentitäten“. Solcherlei kulturell manifestierten Konstruktionen gilt die Kritik der Vielschreiberin. Sie betreffen sowohl das von ihr immerzu infrage gestellte Ich als auch den Fremden oder Anderen. „Du wirst nie alles definitorisch regeln können. / Ist so. Der Gebrauch! Weißt du – der Gebrauch!“, ruft sie uns daher in einem neueren Text zu. Ihr Plädoyer für offene Türen steht allerdings nicht nur platt für offene Grenzen in Zeiten der Migration, sondern verhandelt zudem die Herstellung und Dekonstruktion von Bedeutungen. Wer da an die poststrukturalistische Aufweichung aller Eindeutigkeiten denkt, liegt richtig.
Ein weiterer Bezugspunkt für Rincks Arbeiten lässt sich noch viel früher finden. Wie sie vermied auch Friedrich Hölderlin sprachliche Festschreibungen. Die Romantiker waren ihm zu naiv, die Klassiker wie Schiller zu statisch. Umso mehr feierte er Dichtung als dialektisches Verfahren, als permanente Vermittlung zwischen Himmel und Erde, Göttern und Menschen. Man könnte auch sagen, dass ihm Poesie als utopisches Mittel diente, um die von ihm als defizitär erfahrene Wirklichkeit von undemokratischer Kleinstaaterei zu überwinden. Dem Ist- stellte er immer den Sollzustand entgegen. Die Peter-Huchel-Preisträgerin verfährt ähnlich. Sie verschiebt und verfremdet und weist oft indirekt auf das Bessere. Nah ist sie Hölderlin trotz dessen Stilisierung des Wir-Gefühls ebenfalls in seiner gesellschaftskritischen Haltung. Ihre hochintelligenten Werke sparen nicht an Anklagerhetorik. So spricht sie in Alle Türen allzu gern vom „Operettenstaat“ – Kitsch und Mythos sind darin am Werk. Und natürlich ebenso die Dämonen, die mit der „Vermehrung von Lücken“ ein „furchteinflößendes Charisma“ entfalten. Schnell fühlt sich der Leser bei solchen Versen erinnert an die Demagogen der Gegenwart.
Den simplen Weltbildern von Extremisten setzt Rinck das Prinzip der Mehrdeutigkeit entgegen. Poesie, so proklamiert sie in einer Rede, „vermehrt die denkbaren Versionen der Wirklichkeit und nimmt der Idee der Eindeutigkeit ihre Evidenz.“ Materielles geht in ihrer Lyrik häufig in Sphären und Nebel über. Wo alle Türen offen stehen, vermischen sich die Lüfte und nehmen auf wunderliche Weise in Sprache Gestalt an. Das ist Poesie als utopische Praxis, in der sich Ungleiches vereint. Aus dem Runden und dem Eckigen geht schon mal, wie in dem Text „Abstraktion“, die bekannte „Quadratur des Kreises“ hervor, und auch die Mark wandelt sich der  weil in „die Marp Brandenburg“. Selbst Gummi kann man in diesen Topografien der Fantasie trinken oder „Meta-Stiefeletten“ tragen.
Was Rinck durchaus von einigen anderen ihrer Generation (gerade aus dem selbstzirkulären kookbooks  Umfeld) abhebt, ist trotz aller akademischer und ironischer Grundierung ihrer Texte eine fulminante, ja, enthusiastische, alle Register sprengende Sprache. Slang und lockerer Alltagsstil treffen mitunter auf Pathos und Emphase. Den Kompositionen wohnt daher immer auch Impulsivität inne – wenn Rinck etwa über Traurigkeit und die Sehnsucht nach Ruhe sinniert. Und so lässt sich selbst in Poemen, die sich jeder Fixierung entziehen, ein Momentum des Wahren und Echten auffinden. Ihre Gedichte laufen daher nie Gefahr, blutleer zu werden. Ganz im Gegenteil: In ihnen wirkt der Wind des Lebens, durch alle Türen.

Björn Hayer, aus Björn Hayer: Die neuen Schöpfer. Texte zur zeitgenössischen Lyrik, Gans Verlag, 2024

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Christian Metz: Wo Tapire höflichst zur Paarung schreiten
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.3.2019

Daniel Graf: Die vier Gangarten von lechts nach Rinck
republik.ch, 29.6.2019

Stefan Hölscher: Die Sprünge entlassener Kontexte
signaturen-magazin.de

Tobias Lehmkuh: Rausch als Geschenk
Die Zeit, 8.5.2019

Lesetagebuch Champagner für die Pferde – Monika Rinck
muetzenfalterin

Nele Pollatschek: Pollatscheks Kanon – Monika Rinck und ihre „supplementäre sehnsucht“
hr2, 30.4.2020

 

 

Poetisch denken am 28.5.2019 im Literarischen Colloqium Berlin mit Monika Rinck und Durs Grünbein, Gesprächspartner: Christian Metz und Moderation: Tobias Lehmkuhl.

 

Monika Rinck über politische Poesie und poetische Prognosen

– Die deutsche Lyrikerin Monika Rinck unterrichtet seit kurzem Sprachkunst in Wien. Ein Gespräch über politische Gedichte, verwirklichte Lektüre und Coronas Wörter. –

Mia Eidlhuber: Sie haben die Professur am Institut für Sprachkunst in einem Ausnahmesemester übernommen. Wir befinden uns nicht nur am Beginn eines zweiten Lockdowns, in Wien gab es auch einen Terroranschlag, bei dem eine Studierende der Angewandten ums Leben kam und einer schwer verletzt wurde. Was bedeutet das für Sie und die Studierenden?

Monika Rinck: Das ist wirklich eine schwierige Situation. Aber meine Kolleginnen und ich (das heißt Gerhild Steinbuch, Leiterin des Instituts für Sprachkunst, Sabine Konrath, Universitätsassistentin, und Samira Hamdi, Sekretärin) versuchen in diesen Tagen, den Studierenden eine ferne Form von Halt und zumindest digitaler Präsenz anzubieten. Natürlich ist der freie Umgang, mit all seinen Routinen und heilsamen Ritualen, nicht zu ersetzen, aber wir bemühen uns, dafür Sorge zu tragen, dass das Institut sozusagen feinstofflich als Raum bestehen bleibt. Arbeit am Text kann ja auch dann eine wohltuende Tätigkeit sein, wenn sich der Text mit einem bedrückenden Thema auseinandersetzt.

Eidlhuber: Sie stehen für eine politische Poetik. Schreiben und Lesen als ästhetischer Widerstand? Das Gedicht als Sozialkritik?

Rinck: Dies lässt sich nur im gesellschaftlichen Kontext beantworten. Denken Sie an die Verse des türkischen Dichters Turgut Uyar, die 2014 während der Proteste um den Gezi-Park zu einer großen politischen Kraft wurden, obwohl sie sich, sozusagen auf dem Blatt, nicht ohne weiteres als politische Gedichte zu erkennen geben. „Wir sind die Verse von Turgut Uyar!“, riefen die Protestierenden und sprayten seine Verse auf Häusermauern. Ähnliches geschah mit einem Gedicht des ungarischen Dichter István Kemény, das viele vielleicht gar nicht als politisches Gedicht bezeichnen würden. Ich würde sagen: Bewusste Sprachkritik, Skepsis gegenüber manipulativen und feindseligen Verwendungen von Sprache, gute Neubeschreibungen können schon eine Vorform von Widerstand sein.

Eidlhuber: „Weil das Gedicht kein Geld hat, hat es Zeit“, das haben Sie in einem Prolog zur Zukunft der Literatur geschrieben. Was können Gedichte jetzt ausrichten?

Rinck: Gedichte ohne Leser und Leserinnen können gar nichts oder so gut wie nichts. Lesen ist natürlich eine genügsame Kulturtechnik, die man gut allein in einem Zimmer verwirklichen kann, gerade wenn es wie derzeit wenig Ablenkung gibt. Aber was ist verwirklichte Lektüre? Das Lesen von Gedichten dient nicht der Beruhigung oder Erholung, sondern eher der Unruhe und Belebung. Zum Beispiel las ich gerade die Gedichte von Maria Stepanova: Der Körper kehrt wieder, übersetzt von Olga Radetzkaja, sehr zu empfehlen.

Eidlhuber: Bekommt Lyrik insgesamt wieder mehr Gewicht bzw. Bedeutung? Siehe Nobelpreis, die Menge an Neuerscheinungen und die Auswahl an Preisträgern etc.

Rinck: Solange wir von Auflagen in niedriger vierstelliger Höhe ausgehen, sehe ich das nicht. Was gut ist: Es kommen mehr unterschiedliche Gattungen und Schreibweisen in den Blick: der Essay, das Nature- und Life-Writing, die Ich-Fiktionen, Science-Fiction, Mischformen aus vielem, wie z.B. Die Zuckerfabrik von Dorothee Elmiger oder das fantastische Buch made in china von Lea Schneider.

Eidlhuber: Wird die Pandemie mit ihrem Hang zu eigenartigen Wortneuschöpfungen (Präsenzveranstaltung, Hybridsemester, Abstandsregel…) in die Lyrikproduktion eingehen?

Rinck: Das ist bereits jetzt zu sehen. Ob die pandemischen Neologismen notwendigerweise darin vorkommen müssen, weiß ich nicht, aber das Virus, die monothematische Atmosphäre, das Vorherrschen eines einzigen Themas in all seinen Facetten, das Überdenken des Körpers als gleichzeitig gefährlich und gefährdet, der Umbau des Literaturbetriebs, all das kommt zur Sprache. Interessant ist hier auch das Projekt Coronas Wörter, eine Gesprächsreihe der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Kooperation mit dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), die im Netz zu finden ist: www.deutscheakademie.de.

Eidlhuber: Sie übersetzen auch aus dem Ungarischen. Sie haben Liedertexte geschrieben und mit der Rotten Kinck Show performt. Ihr Buch Champagner für die Pferde ist ein „Lesebuch“ und versammelt Gedichte, Prosa und Essays. Sind Sie für eine größtmögliche Vermischung aller möglichen Gattungen?

Rinck: Ich habe vor etwa 18 Jahren gemeinsam mit der ungarisch-deutschen Dichterin Orsolya Kalász damit begonnen, wir arbeiten als Tandem und treffen uns in der Mitte, wobei ich die Zielsprache vertrete und sie die Ursprungssprache, oder wie Orsolya zu sagen pflegt: Ich verteidige die ungarische Seele und Monika die deutsche Grammatik. Ungarisch spreche ich nicht. Was die Frage nach der Mischung angeht: Ich nehme Genrebezeichnungen gerne als Lektürehinweise: Lies dies als Roman, lies dies als Gedicht. Ich bin an sich schon eine Freundin der Mischung, aber man muss auch nicht alles mischen.

Eidlhuber: Ein Abschnitt in Ihrem aktuellen Gedichtband Alle Türen heißt „Das Prinzip der Operette und seine Grenzen“. Österreich wird auch als Operettenstaat bezeichnet. Was waren Ihre Gedanken, als Sie entschieden, nach Wien zu kommen?

Rinck: Offenbachs Operetten, um die es mir ging, sind ja eher mit Paris assoziiert als mit Wien, wobei ich auch Stefan Georges Geheimes Deutschland für einen Operettenstaat halte. Schauen wir mal, ich bin ja erst seit einem Monat hier, wenn auch nicht zum ersten Mal. Ich mag Wien sehr gerne und schätze das Institut für Sprachkunst, an dem ich in der Vergangenheit einige Male unterrichten konnte, enorm.

Eidlhuber: Diese Woche beginnt Ihre Frankfurter Poetik-Vorlesung an der Goethe-Uni zum unglaublich passenden Thema VORHERSAGEN, Poesie und Prognosen. Was werden wir in dieser digitalen Vorlesung zu hören bekommen?

Rinck: Die erste Vorlesung widmet sich dem Orakel von Delphi und endet dann (Exit through the Giftshop) im Berliner Futurium. Die zweite trägt ein Schlagwort im Titel: Neofuturismus, das ist ein Futurismus, der sich der Zukunft nicht mehr ganz sicher sein kann. Es geht um Nachhaltigkeit und Vergeudung als zwei unterschiedliche ästhetische Ökonomien. Und in der dritten spreche ich darüber, was es bedeutet, in der Zukunft zu leben.

Eidlhuber: Sie folgen damit 65 Autoren und 17 Autorinnen. Gibt es noch immer zu wenige weibliche Stimmen in der Literatur?

Rinck: Ja, sicherlich. Ich habe den Eindruck, das ändert sich erfreulicherweise gerade, und das betrifft genauso die literarische Arbeit von nichtweißen Autor:innen, die nach wie vor unterrepräsentiert ist.

Eidlhuber: Schenken Sie uns zum Abschluss ein Gedicht?

Rinck: Gern.

VIELE GEFAHREN

Viele Gefahren sind da. Eingehen will ich auf:
Gefahr durch Metapher. Also, ich wurde soeben
an meinem Ende der Kette, oder auch: Verkettung
(wenn man so will) durch lauwarme Milch ersetzt.
Ein Spatzenkavalier mit praller Brust. Verlacht. Mich.
Setzen wir jetzt Punkte wie die Bundeswehr? Wir.
Dienen. Dem. Gemisch. Abendbrot und Abendrot.
Worte baggern mich an. Was bleibt? Hotels. Doch –
Hotels sind für touristischen Gebrauch geschlossen.
Was bleibt dann noch übrig? Der ehebrecherische
und der äh, eremitische Gebrauch. Oder renovieren.
Oh, all die renovierungsbedürftigen Hotelzimmer,
wo ich wachlag wie in einem Glas lauwarmer Milch.
Ha! Gerettet. Alles wurde einfach neu bezogen.
Morgen: Gefahren durch Zahnbelag und Frittaten.

Der Standard, 21.11.2020

 

 

Hendrik Jackson im Gespräch mit Monika Rinck

Holm-Uwe Burgemann und Konstantin Schönfelder: VOR|ZEICHEN #10 Monika Rinck Champagner für Alle

 

Monika Rincks Plattenteller Ab in die Haydn-Disco

 

Fakten und Vermutungen zu Daniela Seel + Instagram +
Facebook
Porträtgalerie: Dirk Skibas Autorenporträts + IMAGO
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Daniela Seel liest 2016 im KULTUMGraz bei „Im Kampfgebiet der Poesie“.

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + Instagram 1 & 2 +
Schow + PorträtDAS&DCoupettes + PIA
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Monika Rinck

 

Monika Rinck beim 22. Literaturfestival Druskininkai Poetic Fall 2011.

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