TOTENSCHAU
Lasst ihm den Schlaf und zieht ihm Zäune
aus Stille stört nicht seinen Schlummer
dass wie ein Stein er schläft für immer
ein Schlafbetrunkener und Stummer
Lasst ihn er hat darum gebeten
und schläft sich dorthin wo er findet
das was am Anfang war das Schweigen
von welchem niemals etwas schwindet
Vergebt ihm wo er euch verletzte
es waren Worte und gelitten
hat er für sie noch sind die Hände
ihm knochentief davon zerschnitten
Schlaf will er Schlaf wie Winterbäume
und namenlos die weiße Schwere
der Stille tragen so wie einer
der nimmer außer Atem wäre
Übersetzung:Urs Heftrich
Für Hubert (den badischen Böhmen)
Im Jahr 1959 fuhr ich zum ersten Mal nach Prag, um dort mit Hilfe des tschechischen Kafka-Kenners Eduard Goldstücker nach Spuren Franz Kafkas zu suchen. Damals wurde auch meine Neugier auf die moderne tschechische Poesie geweckt, deren Vielfalt und Kühnheit, Schönheit und Widerstandskraft mich, je mehr Übersetzungen aus dem Tschechischen mir unter die Augen kamen, zunehmend begeisterten. Überzeugt davon, dass die meisten deutschen Lyrikleser nicht einmal eine Ahnung vom Reichtum dieser modernen tschechischen Lyrik hatten, beschloss ich nach meiner Rückkehr aus Prag in jugendlichem Übermut, eine Anthologie moderner tschechischer Lyrik herauszugeben und fand dafür in V.O. Stomps und seiner Eremitenpresse auch einen Verleger, den alles andere antrieb als „Gewinnerzielungsabsicht“ (Wortschöpfung der Finanzbehörde). Unser Unternehmen war freilich fragwürdig: Da ich des Tschechischen nicht mächtig war, suchte ich aus alten Zeitschriften und Anthologien zusammen, was dort an Übersetzungen erschienen war, andere Übersetzungen entstanden nach Rohübersetzungen (ein in der DDR damals übliches Verfahren), wieder andere über den Umweg des Französischen, aus dem Elisabeth Borchers etwa das große Poem „Die Kornblumen und die Städte“ von Vítězslav Nezval ins Deutsche übertrug, das der Anthologie den Titel lieferte und zugleich ihre Richtung signalisierte, denn die Antinomie Stadt-Land war immer charakteristisch für die tschechische Lyrik.
Der Dichter Jan Skácel war in dieser Anthologie nicht vertreten. Auf seinen Namen stieß ich erst, als ich während des Prager Frühlings für die tschechische Literaturzeitschrift Plamen Beiträge über deutsche Literatur schrieb und deshalb mehrfach Reisen nach Prag unternahm. Bei einer dieser Reisen, es war im Jahr 1967, erwarb ich, einem seltsamen Impuls folgend, Jan Skácels 1962 erschienenen Gedichtband Hodina Mezi Psem A Vlkem (Die Stunde zwischen Hund und Wolf), den ich zwar nicht lesen konnte, aber der mich schon seiner Aufmachung wegen anzog. Dass mein Instinkt mich nicht getrogen hatte, erfuhr ich noch im selben Jahr 1967, als der Hamburger Merlin Verlag des Andreas J. Meyer den Gedichtband Fährgeld für Charon von Jan Skácel herausbrachte, in dem sich nicht nur Skácels Lyrik erstmals in deutscher Sprache bestaunen ließ, sondern ebenso das Wunder ihrer Übertragung durch Reiner Kunze, der damit im deutschen Sprachraum zu einer Art Herold des Dichters Jan Skácel wurde.
Zwanzig Jahre später war sich die Jury des Petrarca-Preises (Peter Handke, Alfred Kolleritsch, Michael Krüger, Peter Hamm) rasch einig, diesen renommierten, von Hubert Burda gestifteten Preis 1989 im toskanischen Lucca an Jan Skácel zu verleihen. Schon alle Petrarca-Preis-Verleihungen zuvor waren zu unvergesslichen Festen der Poesie und der Freundschaft geworden, und erst recht galt das für jene in Lucca, zu der frühere Petrarca-Preisträger wie Philippe Jaccottet, Zbigniew Herbert, Hermann Lenz und Gerhard Meier anreisten, aber etwa auch der italienische Dichter Mario Luzi, der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson, der Rumäniendeutsche Oskar Pastior und der Münchner Wahlitaliener Paul Wühr. In seiner von Liebe bestimmten Laudatio auf Jan Skácel, der er den Titel „Das plötzliche Nichtmehrwissen des Dichters“ gab, ließ Peter Handke die Gedichte Jan Skácels zuerst einmal für sich selbst sprechen, er interpretierte sie weniger, als dass er von seinen Erfahrungen mit ihnen sprach, etwa der Empfindung „wie die von wärmendem Sommergras unter den bloßen Sohlen“ beim Lesen dieser Gedichte. Den Höhepunkt seiner Laudatio bildete Jan Skácels Gedicht „Wo wir zu Hause das Salz haben“, das Handke auswendig gelernt hatte und so eindringlich – stockend eindringlich – vortrug, als buchstabiere er da in einem Akt vollkommener Anverwandlung einen eigenen Text. (Handkes Laudatio ist in diesem Buch abgedruckt.)
Unvergesslich bleibt wohl allen, die Jan Skácel in Lucca erleben durften, die äußere Erscheinung des Dichters, die Aura, die ihn umgab. Für mich entsprach dieser sehr schweigsame, kettenrauchende Mann mit den buschigen Augenbrauen und dem durchdringenden aber doch milden Blick, dessen Gesicht zwar von Gram gezeichnet, aber dennoch nicht verbittert wirkte, vollkommen jenem Idealbild des Dichters, das ich seit frühester Jugend in mir trug, das aber bisher fast nur von toten Dichtern wie etwa Robert Walser besetzt war. Unter denen, die mir leibhaftig, ja freundschaftlich begegnet waren, kam vielleicht nur noch Peter Huchel diesem Idealbild nahe, und insofern erscheint es mir nur folgerichtig, dass sich Jan Skácel und Peter Huchel selbst als Wahlverwandte entdeckten und sich gegenseitig Gedichte widmeten.
Damals, 1989, war es noch nicht so lange her, dass Jan Skácel in der ČSSR – ebenso wie Peter Huchel in der DDR – ein verbotener Dichter war, ja fast ein verbotener Mensch („Verbotener Mensch“ ist eines der Skácel-Gedichte überschrieben), ein Schicksal, das Skácel mit nicht wenigen anderen tschechischen Dichtern teilte. Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag im August 1968 und der Niederschlagung des Prager Frühlings durfte von Jan Skácel, der bis dahin fünf Gedichtbände und einen Prosaband publiziert und die renommierteste Literaturzeitschrift des Landes, Host do domu (Gast im Haus), herausgegeben hatte, in der ČSSR dreizehn Jahre lang nichts mehr gedruckt werden. Erst 1981 erschien wieder eine Auswahl seiner Gedichte. Allerdings hatte Jan Skácel zwischenzeitlich seinen engsten mährischen Dichterfreunden wie etwa Ludvík Kundera oder Oldřich Mikulásek – auch sie verbotene Dichter – die meisten jener Gedichte zukommen lassen, die zu schreiben ihm in diesen finsteren Zeiten noch gelang.
Mit finsteren Zeiten war Jan Skácel freilich früh vertraut, erlebte doch der 1922 in dem südmährischen Dorf Znorovy u Stráčnice Geborene seine Jugend in einem von den deutschen Nationalsozialisten okkupierten Land, aus dem er gleich nach dem Abitur, 1941, als Zwangsarbeiter für Straßen- und Tunnelbau nach Österreich deportiert wurde, das damals für ihn die Dimension des Konzentrationslagers Mauthausen annahm. Nach der Befreiung studierte Jan Skácel Slawistik, trat in die KP ein und arbeitete dann als Kulturredakteur bei einer Tageszeitung in Brno/Brünn. Doch schon bald verlor er diese Stellung aus politischen Gründen – es war die Zeit des berüchtigten Prager Slánsky-Prozesses und seiner Nachwehen – und Skácel musste für zwei Jahre als Hilfsarbeiter in einer Traktorenfabrik sein „Kaderprofil aufbessern“. Erst in der Zeit des Prager Frühlings, als Skácel zunächst eine Stellung als Literaturredakteur beim Tschechoslowakischen Rundfunk einnahm und danach bis 1969 als Herausgeber und Chefredakteur der Literaturzeitschrift Host do domu fungierte, lernte er, kurz genug, freundlichere Zeiten kennen.
An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass es für tschechische Schriftsteller eigentlich fast noch nie freundliche Zeiten gab, sieht man einmal ab von den Jahren nach 1918, nach der Staatsgründung, als der charismatische Humanist Tomáš Masaryk, ein Freund der Künste und selbst ein renommierter Historiker und Schriftsteller, Präsident des Landes wurde. Die Geschichte der tschechischen Lyrik ist genau genommen kaum älter als gut hundertfünfzig Jahre, ein Umstand, der sich aus der unheilvollen tschechischen Geschichte erklärt. Mit der Schlacht am Weißen Berge, im November 1620, als die katholische Liga über die protestantische Union und die böhmischen Stände siegte, endete nicht nur für zwei Jahrhunderte lang die politische Freiheit der Tschechen, sondern die tschechische Sprache wurde zu einer verbotenen Sprache, die nur noch auf dem Lande und im Volkslied überlebte (was auch die auffallend vielen Volkslied-Anklänge in der tschechischen Lyrik, selbst jener der Avantgarde, erklärt).
„Merzt diese gesamte ketzerische und rebellische Nation aus“, forderte 1620 der spanische Botschafter am Wiener Hof, und lieferte dem Hause Habsburg, dessen Herrschaft dann bis 1918 auf Böhmen und Mähren lastete, ein willkommenes Alibi. Die Böhmischen Brüder wurden ins Exil getrieben, die Schulen latinisiert oder germanisiert, die katholische Kirche bemächtigte sich der hussitischen Kanzeln, deren Pastoren verjagt oder ermordet wurden. Damals nagelte man die Zunge des Prager Universitätsdirektors an den Galgen, und der Jesuitenpater Koniasch, Sonderkommissar des Habsburgischen Hofes, ließ mehr als sechzigtausend tschechische Bücher auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Ein anderer tschechischer Jesuitenpater, der mutige Bohuslav Balbín, protestierte dagegen mit seiner Schrift Von der tschechischen Zunge, deren Neudruck aber auch noch viel später von der ,gütigen‘ Kaiserin Maria Theresia verboten wurde. Sogar noch Mitte des 19. Jahrhunderts musste František Palacký seine Geschichte Böhmens, die als Wiedererweckung des tschechischen Selbstbewusstseins gilt und Palacký zu so etwas wie dem Vater der Nation erhob, in der Sprache der Unterdrücker, auf Deutsch, erscheinen lassen.
Diese historischen Ereignisse sind die schwere Hypothek, die jeden Tschechen und erst recht jeden tschechischen Schriftsteller bis heute belastet, sie sind sozusagen in die Gene der Nation eingegangen. Nicht verwunderlich, dass die ersten bedeutenden, Ende des 19. Jahrhunderts oder um die Jahrhundertwende geborenen tschechischen Dichter – so etwa, um nur diese Wenigen zu nennen, Antonín Sova, Otokar Březina, Petr Bezruč, Josef Hora, Fráňa Šrámek, Konstantin Biebl, vor allem aber der mit vierundzwanzig Jahren gestorbene Jiří Wolker, einer der größten Frühvollendeten der Weltliteratur – ihre Gedichte oft in einer trotzig flammenden Sprache schrieben und in ihnen einer messianischen Vision des Kommunismus und dem Traum von einem besseren Morgen der Menschheit Ausdruck gaben. Dass etliche dieser Dichter nach dem Ersten Weltkrieg im deutschen Sprachraum übersetzt und bekannt wurden, erklärt sich auch daraus, dass sie wie Vorläufer oder Weggefährten unserer Expressionisten wirkten; folgerichtig wurden Franz Werfel, sein Verleger Kurt Wolff, vor allem aber Übersetzer aus Werfels Prager Freundeskreis wie Otto Pick und Paul Eisner zu ihren deutschsprachigen Wegbereitern. Nicht vergessen sei auch Hugo von Hofmannsthal, der damals eine Tschechische Bibliothek auf den Weg brachte.
Die tschechischen Lyriker der nächsten Generation, die eine Fülle großartiger Dichter umfasst, aus der Vítězslav Nezval, František Halas und Jaroslav Seifert herausragen, warfen sich in den Zwanziger Jahren zunächst auf den Poetismus, die tschechische Spielart des Surrealismus, also auf „die reine, von allen Inhalten befreite Dichtung“, wie Karel Teige, der Theoretiker dieser Bewegung, das formulierte, Karel Teige, der auch für den lebhaften Austausch zwischen tschechischen und französischen Dichtern sorgte (von denen etliche, so Apollinaire und Eluard, auch nach Prag kamen). Einige dieser tschechischen Dichter erwiesen sich später als wahre Überlebenskünstler: Der virtuose Spieler Nezval und der die ganze Menschheit umarmende Seifert überstanden sowohl die Nazi-Okkupation wie den Stalinismus, wenngleich nicht immer ohne schmerzhafte Konzessionen (etwa Nezvals zerquält positives Stalin-Poem). Andere Dichter flüchteten ins Schweigen, so der Tragiker František Halas, der in seiner Jugend noch gedichtet hatte: „Will fortan nur noch schrein. / Zu lang war die Zeit des Schweigens“ und der noch nach seinem Tod, 1949, von den Kulturfunktionären der KP als „krankhafter Pessimist“ und „Volksschädling“ geschmäht wurde. Wieder andere Dichter flüchteten in den Selbstmord, so Konstantin Biebl und Karel Teige, die beide 1951 aus dem Leben schieden. Auch solche Dichter-Schicksale zählen zu der schweren Hypothek, die ein jüngerer tschechischer Dichter wie Jan Skácel zu tragen hatte.
Dass es auch Glücksfälle in Jan Skácels Leben gab und er gerade als verbotener Dichter manche Zeichen der Solidarität erfuhr, sei nicht vergessen. Zu ihnen zählte vor allem die unbeirrbare Freundschaft, die ihm der 1984 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Jaroslav Seifert entgegenbrachte, dem Skácel dann im Januar 1986 die Totenrede hielt und auf dessen Begräbnis er ein bewegendes Gedicht schrieb (s. S. 94). Auch dass František Hrubin, ein anderer bedeutender Dichter, der zusammen mit Jaroslav Seifert 1956 auf dem 2. tschechoslowakischen Schriftstellerkongress am schärfsten mit Stalin und stalinistischer Kulturpolitik abgerechnet hatte, sich stets zu Jan Skácel bekannte und als Herausgeber einer seiner Gedichtbände fungierte, zählte zu den ermutigenden Erfahrungen in Skácels Leben.
Es war der unglückliche Otto Weiniger, der – mit Blick auf Beethovens 9. Sinfonie – das schöne Wort von der geretteten Freude prägte. Hält man sich Jan Skácels schweres Schicksal vor Augen, wirkt es wie ein Wunder, dass es diesem Dichter gelang, seinen Gedichten, auch wo sie Trauerränder tragen und auf Moll gestimmt sind, die Freude oder doch Freudefunken zu bewahren und sie zu Liebesbriefen – verschämten Liebesbriefen – an das Leben werden zu lassen. Auch damit steht Jan Skácel in der großen Tradition tschechischer Lyrik, die gerade deshalb immer dem Leben zugewandt war, weil sie sich seit jeher im Widerstand zu ihrer Zeit befand. Wenn F.X. Šalda, der bedeutendste tschechische Kritiker der Moderne, an einem Gedichtband von Vítězslav Nezval dessen „begeisterte oder gemäßigt grimmige Feier des Lebens“ rühmte, so trifft er damit etwas, was über Nezval hinaus auf viele tschechische Lyriker zutrifft.
Um die Freude zu retten, bedarf es wohl jenes „plötzlichen Nichtmehrwissen des Dichters“, von dem Peter Handke in seiner Skácel-Laudatio sprach. Der Dichter muss wissen, aber im Schreiben des Gedichts sein Wissen auch wieder vergessen können. Er muss versuchen, jenen reinen Zustand wieder herzustellen, den Goethe mit dem Reim „kindlich – unüberwindlich“ andeutete. Jan Skácel selbst fand für diesen Zustand in einem seiner Gedichte eine Metapher, die diesem Auswahlband seiner Gedichte und seiner Prosa den Titel lieferte: Für alle, die im Herzen barfuß sind. Dieser barfüßige Zustand bedeutet, dass der Dichter auch „ungewaschene und ungekämmte Wörter“ verwendet und sie zu „Boten der Ewigkeit“ macht (wie das F.X. Šalda formuliert hat), auch setzt er menschliche Eigenschaften voraus, die in der heutigen Welt nicht gerade hoch im Kurs stehen, vielfach sogar verpönt sind, ohne die es aber die Gedichte Jan Skácels nicht gäbe: Demut, Empathie, Mitleid, Weltfrömmigkeit. Auf die Gefahr hin, als völlig weltfremd zu gelten, will ich noch jene Eigenschaft hinzufügen, die F.X. Šalda in seinem um die Jahrhundertwende geschriebenen Essay „Persönlichkeit und Werk“ – vermutlich schon damals für viele befremdlich – als Voraussetzung aller großen Kunst ins Spiel brachte, nämlich Keuschheit, wobei er Keuschheit und Kraft nicht als Gegensätze sah. „Man begreift nicht“, schrieb er, „dass Zartheit nicht Schwäche ist noch Ohnmacht, sondern eine Kraft“ (allerdings, so Šalda, „nicht erlernbar“). Es ist diese zarte Kraft, die an Jan Skácels Gedichten als erstes auffällt und die sie so anziehend macht, dass man immer wieder zu ihnen zurückkehren möchte wie zu gewissen Melodien oder Orten der Kindheit.
Es ist ja nicht zufällig, dass Jan Skácel selbst in seinen Gedichten immer wieder zu den Orten der Kindheit zurückkehrt, die für ihn ein riesiges Reservat wahrer Empfindungen und noch nicht besetzter Phantasie sind, Orte, an denen sein „großer Bedarf an unscheinbaren Dingen“ gestillt wird, sein Bedarf an Stille und Verlangsamung (in Skácels Version oder Vision der mährischen Hymne besteht diese aus absoluter Stille!) und auch sein Bedarf an Natur. Er habe keinen Vers zu Hause geschrieben, bekannte Skácel einmal, und tatsächlich könnten viele seiner Gedichte unter dem Hölderlin-Motto „Komm ins Offene, Freund!“ stehen. Doch so viele Gedichte Skácels auch ins Dorf führen und von Elementarem sprechen – von Bäumen, Pflanzen, Früchten, Tieren, Bächen, Jahreszeiten, Himmel und Erde –, sie führen doch nie in die Idylle. So bricht in das Peter Huchel gewidmete Gedicht „Znorovy nachts“ – es ist dies der Name des Dorfes, in dem Skácel geboren wurde – jäh das Unheil der tschechischen Geschichte ein, die Erinnerung an jene mährischen Söhne, die 1620 aus der Schlacht am Weißen Berge geschlagen und in Ketten heimkehrten und mit denen sich nun der verbotene Dichter Skácel identifiziert:
Auch ich ging, als führten sie mich ab.
Oder wenn Skácel im „Lied vom Olivenbaum“ jedem einen Olivenbaum wünscht, kommt ihm dazu gleich auch die Leidensgeschichte Christi in den Sinn und er wünscht „jedem sein Gethsemane!“
Da es das Dorf war, in dem einst die tschechische Sprache als Volkslied und Ballade überlebte, blieb das Dorf immer ein Sehnsuchtsort der tschechischen Dichter. „Bringt mein Dorf mir wieder!“ schrieb (der wie Skácel aus dem Mährischen stammende) Vítězslav Nezval, als er längst als „Dichter Prags“ und als Kosmopolit galt. Und wie so viele andere tschechische Dichter identifizierte auch Nezval das Dorf mit einem Gasthaus:
Mähren – altes Einkehrhaus,
Schenke zum ,Grünen Baum‘.
Entsprechend spielt der Wein eine dominante Rolle in der tschechischen Literatur, in der seit jeher mehr getrunken wird als in jeder anderen Literatur. Schon Otokar Brezina, eine der Portalfiguren der wieder zum Leben erwachten tschechischen Literatur, erhob den Wein zum Symbol für den Durchhaltewillen des tschechischen Volkes als er Ende des 19. Jahrhunderts seine Hymne „Der Wein der Starken“ schrieb, dessen Winzer für ihn Trauer und Einsamkeit waren und dessen wunderbare Wirkung er darin sah, „dass zu Gärten werden uns Gräber“.
Der von Jan Skácel verehrte katholische Dichter Jan Zahradníček, der in seiner Frühzeit zum Freundeskreis von Jaroslav Seifert und František Halas zählte, Hölderlin und Mörike ins Tschechische übersetzte, 1952 seines Glaubens wegen und trotz schwerster körperlicher Behinderung in einem Schauprozess gegen angebliche katholische Verschwörer zu dreizehn Jahren Haft verurteilt wurde, dieser tragische Dichter erhob den Wein in seinem „Gesang vom Wein“ in die Sphäre des Ewigen – „der Wein bleibt sich gleich nur und, Gott! auch die Liebe“ – und setzte ihn gleich mit dem Sakrament der Eucharistie:
wie Wein unser Los ist zur Wandlung bestimmt.
Jan Skácel wiederum, der seinem letzten zu Lebzeiten erschienenen Gedichtband den Titel gab Wer den Wein im Dunkeln trinkt, hat in einem dem Dichterfreund Oldřich Mikulášek gewidmeten Gedicht mit dem Titel „Wein beim Wort genommen“, in dem er einmal mehr „die barfüßigen Jahre“ beschwört, den Wein, diese „Sonne aus dem vorvorletzten Jahr“, als eine Art Reinigung vom Lebensschlamm gefeiert. Der Dichter lässt hier in der Zeit der finstersten Mitternacht einen Falken auffliegen, der zum Signal der Hoffnung wird: „Flog auf ein Falke, flog / über alle Vögel, zog, / hin, ach, über alle Wesen“. (Peter Handke hat in mein Exemplar von Fährgeld für Charon zu diesem Gedicht notiert: „Was für ein Trinklied! Anmut, Freundschaft, Märchen, Ergriffenheit, Erzählung als Gebet.“)
Jan Skácels Gedichte sind oft Epiphanien des Alltäglichen und Gewöhnlichen, in denen das Profane plötzlich transzendiert und einen metaphysischen Schimmer erhält. Dass diese Gedichte Trost zu geben vermögen, hat seinen ersten Grund darin, dass es dem Dichter überhaupt gelang, sie einer Zeit und Umständen abzutrotzen, in denen „selbst die Liebe gegen uns verwendet“ wird und es „verboten ist aus dem Dunkel zu“ singen. Aber wenn auch immer wieder Momente der Verzagtheit in Skácels Gedichte einbrechen – Glück gibt’s nur für Tote und für Kinder hier, heißt es einmal in einem seiner Gedichte – und das Leid den Dichter manchmal fast zu überwältigen droht, verbietet er sich doch die Klage:
Lausch dem Wasser
wenn es spricht
vom Schmerz
und doch nicht klagt.
Es ist die Natur, die ihn jene höchste Form von Unbekümmertheit lehrt, die er in seinem Gedicht „In der Mitte des Sommers“ – einem herrlichen Abschiedsgedicht an den Sommer – in die Schlusszeile fasst:
Und wunderschön das Überflüssigsein der Klage.
In seinem großen Gedicht „Dank“, das mir als so etwas wie „Die Lehre des Jan Skácel“ erscheint und das zuletzt zu einer Art Dankgebet an die Freude – die gerettete Freude – wird, schreibt der Dichter:
Danken wir wie das kind für den apfel
für alles was war und von neuem irgendwann sein wird
dafür dass die nacht dem tag verlässlich folgte
für den trotzigen morgen
……….
Danken wir wie das kind für den apfel
ohne vorwurf ohne demütigen stolz
für die freude die uns half dass der schmerz sich durchschmerzt.
Als ein Schlüsselgedicht im Werk von Jan Skácel erscheint mir in diesem Zusammenhang sein Gedicht „Rede“, das ins mährische Dorf Kunštát und zum dortigen Friedhof führt, auf dem der 1949 in tiefer Verbitterung gestorbene Dichter František Halas begraben liegt. Obwohl Skácel dem von ihm hoch verehrten Halas am Grab zuruft: „Sie fehlen uns sehr, mein Herr“, beginnt er doch unvermittelt heftig mit Halas zu hadern, wobei er vor allem auf eines seiner berühmtesten Gedichte zielt, das Gedicht „Nirgends“, das um die Zeile „alles nirgends“ kreist. Zunächst aber stellt Skácel sich dem toten Dichter vor: als einer von vielen verbotenen Dichtern, „deren muse nicht betteln geht von tür zu tür / … / die auch den kopf hinhalten / ehe sie für immer verstummen“. Doch dann erhebt er Einspruch gegen das Gedicht „Nirgends“:
Ich werde Ihnen nur hier widersprechen
in Kunštát: auf dem friedhof
Ich werde nicht das wappen tragen des wortes NICHTS.
Skácel beschließt sein Gedicht – wie könnte es anders sein bei diesem Dichter! – aber begütigend:
Immer gibt es das irgendwo
mein alter dichter
(…)
Und herbst ist’s mit allen trompeten
irgendein jahrestag ist
und nasse aufgeräumte felder gibt’s
und vögel
die hier überwintern
Und auch wir sind hier
(…)
Wir sind nicht abgefallen
auch wenn wir fast betteln gingen.
Jan Skácel ist nie zu den Neinsagern übergelaufen. Diese heroische Haltung, die aber ohne die geringste heroische Geste auskommt, bestimmt seine Gedichte im Innersten und haucht ihnen gleichsam die Seele ein.
Es sind Gedichte, die bei aller Bitternis und bei allem Zorn – ja, es gibt auch Zorn bei Skácel – doch immer Freundlichkeit ausstrahlen und Güte – genauer: Begütigung. Und es zeichnet sie auch jene „schöne Schüchternheit“ aus (das Wort stammt von Skácel), ohne die diese Gedichte kaum je so vollkommen vertrauenswürdig daherkommen könnten.
Wie viel wäre noch an Skácels Lyrik zu rühmen: ihr völliger Verzicht auf Artistik und virtuose Sprachspiele etwa oder ihr großer Bilderreichtum – „die Welt ist wie ein Brotlaib frisch aus dem Ofen / und die Nacht tut sich gütlich daran“, heißt es einmal über einen heißen Sommerabend („Kurze Beschreibung eines Sommers“) –, vor allem auch ihre hohe Musikalität. Die tschechische Sprache mit ihrem weichen melodischen Klangbild schmiegt sich ja wie kaum eine andere der Musik an – man denke nur an die Opern und Vokalwerke des aus Skácels mährischer Heimat stammenden Leoš Janáček, Und so wie die großen tschechischen Komponisten oft den Eindruck erwecken, ihre Musik spräche Dialekt, liegt auch über Skácels Gedichten manchmal so etwas wie der Hauch des Dialekts, obwohl sie nur selten wirkliche Dialektwendungen enthalten. Allerdings spielt das tschechische Volkslied (mit seiner Vorliebe für den Diminuitiv ), dessen Spuren seit jeher in der tschechischen Lyrik zu finden sind, oft auch in Skácels Lyrik hinein, Peter Handke hat nicht von ungefähr aus manchen Gedichten Skácels Country-Songs oder Songs von Bob Dylan herausgehört.
Dass Jan Skácel auch eine hermetische oder hermetisch wirkende Seite hat, zeigen seine vielen Vierzeiler, die er in der Zeit als verbotener Dichter zu schreiben begann – ursprünglich hatte er den Plan, an jedem Tag einen Vierzeiler zu verfassen! – und in denen er seine jeweilige Gestimmtheit so komprimiert oder so wortkarg wie möglich mitzuteilen versuchte. Auch mit diesen Kurzgedichten steht Skácel in einer Tradition tschechische Poesie, deren Höhepunkte Vítězslav Nezvals „Gedichte auf Ansichtskarten und Grabinschriften“ von 1926 oder auch František Halas’ Vierzeiler-Zyklus „Zahlworte“ darstellen, beides Meilensteine der tschechischen Lyrik. Einer der Vierzeiler Skácels, der für diese von ihm gewählte Gedichtform charakteristisch ist, lautet:
willst du nicht steinigen
musst du ein stein in deinem herzen sein
und so erbarmen dich der deinigen
nie warf ein stein mit einem stein.
Jedes Gedicht, das den Namen verdient, behält ein Geheimnis. Jan Skácel selbst schrieb: „Ich möchte, dass auch für mich, den Autor dieser Verse, manches Geheimnis bleibt“, Jan Skácels Vierzeiler sind die ideale Form, solche Geheimnisse zu fassen.
Ein Wort noch zu den Prosatexten Jan Skácels, die er selbst gern Rezensionen oder auch Feuilletons nannte und sowohl in seiner Zeit als Herausgeber der Zeitschrift Host do domu als auch in seiner Zeit als verbotener Dichter schrieb und mit denen er in seiner Heimat große Popularität errang. Auch mit diesen Feuilletons steht Skácel wieder in einer großen Tradition der tschechischen Literatur, die im 19. Jahrhundert mit Jan Neruda begann (der Legende nach nannte sich der chilenische Dichter Neftali Ricardo Reyes Basoalto aus Verehrung für den tschechischen Dichter ab 1920 Pablo Neruda). Jan Neruda schrieb in seinem Leben weit über 2.000 Feuilletons, die Kleinseiter Geschichten, in denen er die Gewichtigkeit seines Anliegens – die Emanzipation des tschechischen Volkes – hinter einem harmlosen, ja heiteren Plauderton versteckte, ein Verfahren, das später viele tschechische Schriftsteller anwandten, von Jaroslav Hašek, dem Autor des Schwejk, bis zu Bohumil Hrabal mit seinen Baflern.
Vielleicht noch besser als seine Gedichte eignen sich Jan Skácels Feuilletons, die er in den beiden Bänden Das elfte weisse Pferd und Das dreizehnte schwarze Pferd gesammelt hat, dem Menschen Jan Skácel nahezukommen, für den Witz, Humor und Ironie, auch eine manchmal waghalsige Strategie der Affirmation die Mittel waren, um die Auswüchse des sozialistischen Staates und seiner mutlosen und angepassten Bürger aufzuspießen, der in ihnen aber auch Loblieder anstimmte auf die Zündhölzer, den Blödsinn, den „örtlichen Säufer“ (den er als idealen Fremdenführer empfiehlt) oder die Abortsprüche in tschechischen Gasthäusern. Einige dieser Feuilletons werden zur Hommage an Dichterfreunde wie Jaroslav Seifert, Bohumil Hrabal, Oldřich Mikulášek oder auch Jiří Kolář, den kühnen Experimentator. Eines der Feuilletons – Skácel nennt es „Unsentimentale Reise nach Österreich“ – führt ihn dort hin, wo er in seiner Jugend Sklavenarbeit für die Nazis verrichten musste, aber jetzt trifft er zusammen mit Jiří Kolár in Wien einen jungen „konkreten Dichter“, der so konkret wird, dass er den beiden tschechischen Dichtern eröffnet:
ich bin pleite.
Ganz ernst wird es nicht einmal im „Feuilleton über den eigenen Tod“, und im Feuilleton über Bruegels Sturz des Ikarus behauptet Skácel gar, das Bild beruhige ihn und er könne ganze Abende vor ihm sitzen bleiben. Es gibt auch ein Feuilleton „über die Freude“, das bis nach China führt – und wer wissen will, wie sich die Freude am besten retten lässt, der kopiere es aus diesem Buch und hefte es sich an eine Wand in seiner Wohnung.
Manche dieser Feuilletons habe ich für mich Jan Skácels Ersatzgedichte getauft, weil sie bei aller Leichtigkeit des Tons ebenso tief loten wie seine Gedichte, womit sie mich auch an Robert Walsers (ab 1933 vor allem in der Prager Presse erschienenen) Prosastücke erinnern, die sich ebenfalls als Feuilletons tarnten und wie jene Jan Skácels zumeist Versuche über das verborgene Glück sind, Versuche, die Freude trotz aller Widrigkeiten der Lebens und aller Zumutungen der Geschichte zu retten.
Nur wenige Monate nachdem Jan Skácel den Petrarca-Preis erhalten hatte und wenige Tage vor der politischen Wende, am 7. November 1989, starb der Dichter in seiner mährischen Heimat, in Brno/Brünn. In einem seiner späten Gedichte schrieb er:
und schwierig ist’s
als Trost
eine noch nicht entwertete Wortmünze
zu finden.
Leise hat er sich entfernt
um zu verschwinden
hinter der Stille sterbensmüde
von dieser lärmigen Welt.
Peter Hamm Vorwort
Am Samstag, dem 11. Juni vergangenen Jahres 1989, empfing ein tschechischer Dichter von siebenundsechzig Jahren, in Frankreich noch nahezu unbekannt, aus den Händen des Begründers und deutschen Mäzens Hubert Burda den Petrarca-Preis. Das geschah im großen Saal der Villa Rossi zu Gattaiola, am Hang der waldigen Hügel südlich von Lucca. Skácel, verschanzt hinter einem tschechischen Sprichwort, dem zufolge, wenn ich recht verstanden habe, das Seil lang sein muss und eine Rede kurz, dankte mit drei Worten, dann las er in ihrer eigenen Sprache ein paar von den Gedichten, die anschließend in der deutschen Fassung von Reiner Kunze vorgetragen wurden (dieser wiederum ein Dichter aus der DDR, der 1977 in den Westen übergesiedelt war, von ihm erschienen in Frankreich bereits Die wunderbaren Jahre). Schon 1981 aber hatte Reiner Kunze mir geschrieben und zwei seiner Bücher geschickt, darunter auch die Übersetzungen von Skácel. In diesem Bändchen habe ich ein Blatt wiedergefunden mit einer Liste von 38 Gedichten, unter denen ich damals eine Auswahl treffen wollte, für die Revue des Belles Lettres in Genf. Heute weiß ich nicht mehr, warum aus diesem Plan bedauerlicherweise nichts geworden ist. Die Zeit verging, von Kunze kam kein Lebenszeichen mehr, und von Jan Skácel hatte ich sogar den Namen vergessen; nun aber haben die so freundschaftlichen wie großzügigen Umstände beim Petrarca-Preis, die den früheren Preisträgern jedes Jahr erlauben, die neuen zu begrüßen, mir die Gelegenheit verschafft, jenem Dichter persönlich zu begegnen, dessen Werk mich zuvor so lebhaft beeindruckt hatte. Und ich war wohl nur selten von einer Gedichtlesung so bewegt wie an diesem Morgen in der Luccheser Landschaft.
Ich sage nichts gegen Prunk, im Gegenteil, ich bin für ihn durchaus empfänglich. Der Park der Villa Rossi, das Gebäude selbst, seine Terrassen, der große, mit Fresken ausgemalte Saal, wo die Preisverleihung stattfand, all das war außerordentlich schön. Trotzdem, ich muss dennoch aussprechen, was ich damals so stark empfunden habe: dass die Worte, welche dieser kleine erschöpfte Mann gebildet hatte (und die ich nur als Echo vernahm), gezeichnet von einem schwierigen Leben, sehr schweigsam, gewiss unwohl inmitten von all diesem Luxus, so wie ein Handwerker in alter Zeit, der eingeladen ist ins Schloss seines Herrn, dieser Mann, dessen Güte, Feinheit, Bescheidenheit mich an André Dhôtel erinnern wollten – dass also, was dieser „Schmerzensmann“ (viel, viel mehr „uomo die pena“ im wörtlichen Sinn als der gebieterische und übrigens aus Lucca stammende Ungaretti, der sich so nannte!) in eine Form gebracht hatte, dass diese Gedichte, die man hier vorlas, auf gewisse Weise den Prunk des Raumes erschütterten, bedrohten, dabei sichtbar machten, was er an Eitlem, Hyperbolischem an sich hatte oder zumindest heute hat, und vielleicht an Falschem. Ich kann die Dinge nicht anders sagen: Diese Gedichte, so schnell verflogen wie aufgeschienen im Goldlicht dieses Prunksaals, erklingen ließen sie mit leiser Stimme eine Schönheit, die viel verborgener war, aber gerade in ihrer Zerbrechlichkeit auch so etwas wie unzerstörbar.
Die von Kunze übersetzte Auswahl aus dem Jahr 1982 heißt wundklee. Wundklee, also der gelbe Klee, gelehrter ausgedrückt der Anthyllis vulneraria, eine weitverbreitete Pflanze, die man lange Zeit zur Wundbehandlung benutzt hat, eine Pflanze, die auf Französisch so wunderbar „un simple“ heißt (und das Wort passt hier ganz vollkommen). Vom Wort „Wunde“ ist es auf Deutsch nur ein Buchstabe zum „Wunder“; in der Poesie von Jan Skácel sind Wunde und Wunder untrennbar verwoben, in der Verwandlung eines tonlosen Gesangs und seines tiefsten Widerhalls.
Wieder zuhause schien es mir, ich könne mich der Aufgabe nicht länger entziehen, die schon die erste Begegnung mit diesem Werk mir nahegelegt hatte. Ich weiß wohl, es ist Sache eines Übersetzers aus dem Tschechischen, diese Poesie endlich dem französischen Leser zu überbringen. Die Arbeit ist wahrscheinlich schon auf dem Weg. Umso besser. Doch ich, ich spüre das Verlangen, jetzt gleich, ohne langes Warten und selbst wenn mich der Vorwurf allzu großer Eile trifft, einige gewagte Echos zu wecken, womöglich allzu bedenkenlos, aber vorgestellt ganz offen als das, was sie sind, Echos einer Stimme, die ich noch lange hören werde, so wie sie, könnte man sagen, zu Fuß unterwegs war, barfuß sogar (und mit schmerzenden Füßen), in der Luft des großen Saals der Villa Rossi, am Morgen des 11. Juni vergangenen Jahres, in der Luccheser Landschaft.
Hinzugefügt im März 1990
Nachdem ich diese Zeilen geschrieben und mich an diese Übersetzungen gewagt hatte, versuchte ich auf verschiedenen Wegen Skácel zu erreichen, denn ich wollte seine Einwilligung für eine Publikation. Ich bekam keine andere Antwort als die Nachricht von seinem Tod im November 1989.
Philippe Jaccottet, Nachwort
Deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz
kehrt in seinen Gedichten immer wieder zu den Orten der Kindheit zurück, die für ihn ein riesiges Reservat wahrer Empfindungen und noch nicht besetzter Phantasie sind, Orte, an denen sein „großer Bedarf an unscheinbaren Dingen“ gestillt wird, sein Bedarf an Stille und Verlangsamung. Skácels Gedichte sind oft Epiphanien des Alltäglichen und Gewöhnlichen, in denen das Profane plötzlich transzendiert und einen metaphysischen Schimmer erhält.
Dass sie Trost zu geben vermögen, hat seinen ersten Grund darin, dass es dem Dichter überhaupt gelang, sie einer Zeit und Umständen abzutrotzen, in denen „selbst die Liebe gegen uns verwendet wird und es verboten ist aus dem Dunkel“ zu singen. – So der Herausgeber Peter Hamm, der an diesen Gedichten den großen Bilderreichtum, die hohe Musikalität und die Traditionsverbundenheit rühmt. Er stellt Skácel selbstverständlich neben die Dichterfreunde, den Nobelpreisträger Jaroslav Seifert, die großen Tschechen Bohumil Hrabal, Oldřich Mikulášek und Jiří Kolář.
Neben den Gedichten enthält dieser Band eine Auswahl an Prosatexten; sie bestechen durch ihre Genauigkeit, ihren lakonischen Humor, ihren ironischen Witz.
Neben dem Vorwort von Peter Hamm, das einen kenntnisreichen Blick auf den Platz Skácels in der tschechischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts wirft, gibt es sehr persönliche Texte von Peter Handke und Philippe Jaccottet über den Dichter.
Wallstein Verlag, Klappentext, 2018
– Besonders schön ist die Form der „Kleinen Rezension“, die er sich ausgedacht hat: Ein Auswahlband zu dem großen tschechischen Dichter Jan Skácel zeigt, dass er nicht nur ein starker Lyriker war, sondern auch intensive Prosastücke schreiben konnte. –
Den Dichter interessieren nicht die bleischweren Begriffe. Eher sucht er nach jenen unscheinbaren Wörtern, die in der Alltagssprache versteckt sind, nach einem „wörtchen hirserund“ oder „passend für den schaum“. Davon war der tschechische Dichter Jan Skácel (1922–1989) überzeugt. So lassen sich Gedichte für Skácel auch nicht erfinden. Womöglich gibt es sie sogar ohne uns. Irgendwo sind sie seit Ewigkeit vorhanden. Der Schreibende muss sie nur entdecken, darin liegt das Geheimnis seiner Arbeit.
Mit großem Bewusstsein für die Angst, die das menschliche Leben immer schon durchzieht, und mit einem Gespür für die Stille, die selbst in den Erinnerungsspeichern der Kindheit verwahrt sein kann, schrieb Skácel seine genau rhythmisierten Gedichte. Es sind Verse, die dicht und zugleich offen sind – „als würde es ein wenig schneien zwischen den worten“. Doch die Gedichte haben nichts Weichzeichnendes an sich, sondern machen die Risslinien der Welt und der Sprache spürbar.
Es kann die Geburt eines Kälbchens sein, die Skácel zum Bild für die Verschwisterung von Schönheit und Leid wird:
Auf einmal zeigen sich zarte kleine hufe,
berühren das licht,
schütteln die warme finsternis ab
Oder die Erinnerung an Spuren aus der Kindheit:
Die unterschiedlichen entfernungen des herbstes
und die stelle mit den hobelspänen
die zurückbleibt
wenn der zirkus abreist aus der stadt
Stets gelingt es ihm, in seinen Versen den Schmerz mitschwingen zu lassen, den er selbst zeit seines Lebens erfahren hat und den er als eine Art existenzieller Gegebenheit zu deuten wusste. Zugleich aber ließ er sich allem Schrecken zum Trotz nie davon abbringen, seinen Versen ein Versprechen auf Glück einzuschreiben – wie unerreichbar es unter den konkreten Umständen auch erscheinen mochte.
„Die Quadratur des Kreises“ heißt eines seiner bekanntesten Gedichte. Der Titel spielt auf die Paradoxie der Erinnerung an, etwas Vergangenes, Verschwundenes doch gegenwärtig halten zu wollen. In einem übertragenen Sinne meint es aber auch die Paradoxie von Skácels Schreiben: Er bezog sich auf das Konkrete und überstieg es doch immer schon, indem er es in ein Gefüge aus Rhythmus und Atmosphäre verwandelte.
Skácels Spiel mit der Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit kann man jetzt in einem Auswahlband nachgehen, den der Kritiker Peter Hamm zusammengestellt hat. Hamm greift seinerseits auf verschiedene Auswahl- und Einzelbände mit Übersetzungen von Skácels Texten zurück, die zum Teil noch im Buchhandel erhältlich sind. Schade, dass überhaupt keine Originale in dem Buch zu finden sind, die es einem beim Lesen erlauben würden, dem Klang und dem Rhythmus des Tschechischen zu lauschen. Dafür ermöglicht es der Bezug auf mehrere Auswahlbände, dass man unterschiedliche Arten von Übersetzung vergleichen kann. Wo etwa Skácels Hausübersetzer Reiner Kunze den geschlossenen Ton bevorzugt, schenkt Felix Philipp Ingold Skácel immer wieder Mischungen aus gewusst gesetzten Pathosformeln und Findlingen aus der Umgangssprache.
Vor allem aber macht der Band deutlich, dass Skácel nicht nur ein starker Lyriker war, sondern auch intensive Prosastücke schreiben konnte. In einige Texte hat Skácel, der 1922 geboren wurde und im Jahr des Mauerfalls starb, Erinnerungen an seine eigene Lebensgeschichte eingebaut. „Feuilletons“ nannte er diese Stücke, die etwas von seiner Zeit als Journalist erzählen, erst beim Rundfunk, dann als Chefredakteur einer bald verbotenen Kulturzeitung. Oder von jener früheren Zeit, als die Nazis ihn zum Arbeitsdienst zwangen – Erinnerungen, die sich fortwährend „in sein Hirn drängten“, wie es einmal heißt. Besonders schön ist die Form der „Kleinen Rezension“, die Skácel sich ausgedacht hat, kurze Skizzen, die eine Begebenheit mit einem allgemeinen Gedanken verknüpfen, der dann mit zarter Ironie hin und hergedreht wird. Hier schreibt er über literarische Vorbilder wie Jaroslav Seifert oder Bohumil Hrabal, überträgt aber auch Momente seiner eigenen Poetik in komischer Absicht auf politische Stoffe. So notiert er ironisch zur „mährischen Hymne“:
Sie besteht aus absoluter Stille und die Stille ist eine sehr schöne und fruchtbare Sache.
In einem dieser kleinen Prosatexte hat Skácel das eigene Schreiben einmal polemisch gegen die Arbeit der „Kollegen von der Journalistik“ abgegrenzt, die immer „mächtig danebenhauen“ würden. Sein Argument:
Es ist komplizierter, weil alles auf der Welt kompliziert ist.
Dass er es trotz dieses Wissens um die Kompliziertheit schaffte, anschauliche, im besten Sinne einfache Verse und Feuilletons zu schreiben, ist das kleine Wunder seiner Literatur.
Endlich ein Buch in deutscher Sprache, das den großen mährischen Dichter Jan Skácel (1922–1989) in Erinnerung ruft, mit einer umfassenden Auswahl seiner Gedichte und Prosatexte, mit einer exzellenten Einführung des Herausgebers Peter Hamm und mit dem Abdruck der Laudatio, die Peter Handke für Skácel hielt, als dieser 1989 mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet wurde. Das Buch ist die ideale Einführung zur Entdeckung dieses viel zu wenig gerühmten Dichters.
Aber auch wer Skácel schon kennt, wird in diesem Buch Neues entdecken. Skácel wird immer wieder neu übersetzt. So enthält dieser Band eine Auswahl der von Reiner Kunze noch zu Lebzeiten Skácels kongenial in die deutsche Sprache übersetzten Gedichte, wie auch neuere Übersetzungen von Urs Heftrich. In diese Auswahl aufgenommen wurden auch Prosatexte, kurze Skizzen, vom Autor „Rezensionen“ genannt, die keine Nebenarbeiten sind, sondern integrierter Teil des Œuvres, und die auch biografische Details des Autors erkennen lassen.
Das einfache Leben wird bei Skácel zu Poesie, wie in der Verszeile:
… Wer im Gebimmel an der Stille nippt
der hockt zumeist allein
als wäre die Kneipe ohne Dach
und alle Sterne schauten rein…
Aber auch nächtliche Todeserfahrungen kommen in den Gedichten vor („Mit einem kleinen Bluterguss in der stimme sagt er guten tag / und weiß nicht / wie er im traum den er am morgen vergaß / zu den kleinen blauen flecken kam / …“). Eine der Prosaskizzen handelt davon, dass der Autor den Plan ausheckt, den Tod am Bahnhof eines bestimmten Orts zu treffen, wo er eines Tages genau vor Sonnenuntergang mit der Lokalbahn ankommen will – in der Hoffnung, dass der Fahrplan nicht geändert wird.
Im Gedicht „Danksagung“ beginnen alle Strophen mit der Zeile „Wir werden dankbar sein wie Kinder für den Apfel…“ und man meint, darin Ergebenheit ins Schicksal zu sehen, bis die folgende Zeile in der nächsten Strophe eine neue sarkastische Wendung nimmt „… dafür dass die Zukunft schon längst hinter uns liegt / dass uns die Zeit im Netz / zusammenhielt wie ein Fischer“ und damit den gesellschaftlichen Pessimismus scheinbar aussichtsloser Perioden der Geschichte benennt.
Die Zeit, als Vergehen, oder als Rückblick in die Kindheit, spielt überhaupt eine wichtige Rolle bei Skácel. So auch in einer Strophe des Gedichts die eine scheinbar pastorale Idylle beschreibt:
In den scheunen trocknet aufgehängte stille
die bären meiner träume nahmen alle bienenstöcke aus
die zeit blieb stehen in ferner zukunft
und bleibt vergangen auf der tenne hinterm haus
An Skácel kann man sich halten. An die Ehrlichkeit und Direktheit seiner Texte und auch an den Dichter als Person und Persönlichkeit. Wem sonst könnten wir solchen schlichten Worten trauen wenn es um die Überwindung von Angst geht, über die es als Aufforderung an die Leser in einer Gedichtzeile heißt:
Haben wir den mut nach der angst zu fassen wie nach einer klinke und einzutreten.
Peter Handke sagte in seiner Laudatio:
Skácels Gedichte wecken in mir Leser neu den Psalmenklang, aber nicht den vertikalen, gerichtet hinauf zum Himmel, sondern einen, der durch die Ebenen hin zum Horizont geht und diesen umkreist…
Skácel ist ein Begleiter fürs Leben, durch die Ebenen und zur Erweiterung des Horizonts, Einer, der uns ganz nebenbei auf die Schönheiten und die Absurditäten aufmerksam macht die wir im Vorübergehen nicht bemerken würden. Die mährische Landschaft ist Hintergrund existentieller Erfahrungen die umso universeller wirken je mehr sie in die konkreten, lokalen, Gegebenheiten eingebettet – und deshalb nachvollziehbar – sind.
(Die Zitate sind teils ohne Interpunktion und so wiedergegeben, wie sie im Buch gedruckt sind, da Skácel die Schreibweise im Laufe der Zeit öfters geändert hat)
Timo Brandt: Die Sehnsucht reist in unbequemen Schuhen
signaturen-magazin.de
Jonis Hartmann: Auswendig sehen
fixpoetry.com, 25.10.2018
Daniel Bayerstorfer: Der Dichter Jan Skácel und sein Echo in Deutschland
SCHMERZEN ÜBER DIE KINDHEIT
Für Jan Skácel
Die angst ist schwer
Unvergänglich
Seitlich verlagert
Im herzen
Vom sandkasten aufwärts
Bis in die wälder der welt
Bis in die wüsten
Von menschen geschaffen
Schmerzt mich
Die kindheit
Aus der ich gerissen
Zeitlos…
Jenny Schon
Matthias Buth: Alles kann Poesie sein
faustkultur.de, 2.5.2022
Lieber Jan Skácel – Ein Hörgratulation mit Hirschkuh & weißem Pferd
Jan Skácel und Petr Oslzlý bei Theater in Bewegung III am 22.9.1987 in Brünn.
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