Karl-Eckhard Carius (Hrsg.): Brinkmann. Schnitte im Atemschutz

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Karl-Eckhard Carius (Hrsg.): Brinkmann. Schnitte im Atemschutz

Carius (Hrsg.)-Brinkmann. Schnitte im Atemschutz

IN DER ARENA DER LITERATUR

– Über Rolf Dieter Brinkmann. –

In seinem zweiten Gedichtband, der den Titel Die Piloten trägt und 1968 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist, hat Rolf Dieter Brinkmann unter dem programmatischen Titel „Selbstbildnis im Supermarkt“ ein Gedicht veröffentlicht, das er mir gewidmet hat, der ich in seinen Anfängen eine Zeit lang sein Lektor war. Es ist wie viele Texte dieses Bändchens ein minimalistisches Gedicht, was in diesem Fall wohl damit zusammenhängt, dass es sich um einen Text handelt, in dem sich der Autor in einem Moment innerer Hilflosigkeit und Selbstentfremdung zu erkennen gibt. In der wortkargen Skizzenhaftigkeit und Trockenheit des äußerst kurzen Gedichtes war das gewiss leichter für ihn zu ertragen als in den seitenlangen stammelnden Selbstentblößungen des im selben Jahr erschienenen Romans Keiner weiß mehr, der für ihn ein zwiespältiges Dokument darstellte, um das er später einen Bogen machte. Auch in dem Gedicht gibt es ein Erschrecken vor dem eigenen Spiegelbild. Aber das wird nur erwähnt, nicht breit ausgeführt wie im Roman. Um das Prosabuch schreiben zu können, hatte sich Brinkmann einem Drive überlassen, der ihn über alle Schamgrenzen hinwegtrug. Doch als mit dem Abschluss des Textes die vorwärtsdrängende Energie erschöpft war, gerann das Buch für ihn zu einem Schock. Nach seinem Erscheinen geriet er in eine Depression und beteuerte, nie wieder einen Roman schreiben zu wollen und es auch nicht mehr zu können. Womit er Recht behalten hat. Wie zu einer vorübergehend verlassenen, aber schon bewährten Spur, die ihm Erleichterung und Entspannung versprach, kehrte er zur Lyrik zurück. Der Roman, das Leben verschlingende Monster, wurde nun eingerahmt von den leichtgewichtigeren und betont harmlosen Texten der beiden ersten Gedichtbändchen. Hier zunächst das erwähnte Gedicht in seiner ungewöhnlichen Textgestalt:

SELBSTBILDNIS IM SUPERMARKT für Dieter Wellershoff

In einer großen Fensterscheibe des Super-
markts komme ich mir selbst entgegen, wie ich bin.
Der Schlag, der trifft, ist nicht der erwartete Schlag aber der Schlag trifft mich
trotzdem. Und ich geh weiter
bis ich vor einer kahlen Wand steh und nicht weiter weiß.
Dort holt mich später dann sicher jemand ab

Das Auffälligste an diesem Gedicht ist die grafische Zerrissenheit seines Zeilenlaufs und seiner Sätze. Es ist wie ein stockendes Sprechen, das den Text immer wieder an falschen, unerwarteten Stellen verzögert und unterbricht, sodass sein Sinn zu zerfallen droht. Da es ein einfacher Text ist, entstehen durch die willkürlich gesetzten Störungen des Zusammenhangs keine ernsthaften Verständnisschwierigkeiten. Aber man liest das Gedicht beim ersten Mal, als stolpere man auf einer lückenhaft gepflasterten Straße unversehens in Schlaglöcher und bliebe an hervorstehenden Steinkanten hängen. Das kann man als Verfremdungstechnik verstehen, dazu bestimmt, den Leser zu mehr Aufmerksamkeit zu nötigen, als der einfache, auf wenige Worte geschrumpfte Inhalt des Textes es von sich aus verlangen würde. Die erzwungene Sprunghaftigkeit des Lesens kompensiert sozusagen die sprachliche Simplizität. Die zerrissene Textgestalt hat aber auch die Funktion, den Zustand der Ich-Person gestaltanalog als momentane Desorientiertheit und inneres Stocken sinnlich erfahrbar zu machen. Das wiederum wird zum Schluss in karikaturhafter Übertreibung durch die weit abgesprengte Vorsilbe „ab“, die zum Verb „abholen“ gehört, als Kunstgriff vorgeführt, um dem Gedicht nachträglich eine ironische Leichtigkeit zu geben. Ist demnach das Erschrecken angesichts des eigenen Spiegelbildes und das hilflose Erstarren vor einer Mauer, die den weiteren Weg versperrt, nur Spiel und Koketterie? Der Leser des Gedichts steht hier vor einer subtilen Zweideutigkeit. Man kann sich ihr nur auf Umwegen nähern – im Zusammenhang der Werk- und der Lebensgeschichte des Autors. Als ich Rolf Dieter Brinkmann kennen lernte, war er gerade 22 Jahre alt, und er war eben 35 Jahre alt geworden, als er in London, wohin er im Anschluss an ein internationales Treffen von Lyrikern in Cambridge gefahren war, durch einen Verkehrsunfall ums Leben kam. Er hatte, so impulsiv wie er war, in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit den englischen Linksverkehr nicht beachtet und war vom Seitenspiegel eines Lieferwagens am Kopf getroffen worden und offenbar an einer Hirnblutung gestorben. Ob und wie der stets krisenhafte Prozess seiner schriftstellerischen Entwicklung weitergegangen wäre, lässt sich schon deshalb nicht sagen, weil er sich wieder am Ende glaubte, wie er mir am Abend vor seiner Abreise nach London in einem stundenlangen Gespräch mit allen Zeichen heftiger Verzweiflung gestanden hatte. Das war allerdings nur eine seiner sich wiederholenden depressiven Verstimmungen gewesen, die er stets distanzlos ausagierte. Laut Jürgen Theobaldy, der mit ihm nach London gefahren war, hatte Brinkmann bei dem Lyrikertreffen in Cambridge mit seiner Lesung Erfolg gehabt und war auf der Rückreise in London in euphorischer Stimmung, als er, ohne sich umzuschauen, die Straße überqueren wollte, um zu einem Pub zu kommen, der Shakespeare’s Inn hieß. „Da ist ein guter Pub!“ ist sein letztes Wort gewesen. Brinkmann war ein stimmungslabiler, erregbarer Mensch, der von seinen inneren Widersprüchen hin- und hergerissen wurde. Manchmal hatte man den Eindruck, es mit zwei grundverschiedenen Menschen zu tun zu haben. Er konnte liebenswürdig, intuitiv und anregend sein und eine Atmosphäre von freundschaftlicher Gemeinsamkeit verbreiten und wenige Zeit danach scheinbar grundlos in besinnungslose Aggression verfallen. Diese Stimmungswechsel wurzelten in einer tiefen Unsicherheit. Ein stets sprungbereiter Verdacht, nicht angemessen geachtet und bewundert zu werden, raubte ihm die Fassung. Mir fiel dann meistens die Aufgabe zu, ihn zu beruhigen oder, wenn es nicht anders ging, ihn zurechtzuweisen. So zum Beispiel bei einem Sommerfest im Garten des Verlages, zu dem viele Gäste gekommen waren, weil der aus Graz angereiste Theaterautor Wolfgang Bauer Szenen aus seinem international viel gespielten Stück Magic Afternoon las. Brinkmann begann aus der hintersten Reihe heraus die Lesung durch demonstratives Lachen an den falschen Stellen zu stören und steigerte sich anschließend in einem Wortwechsel mit Wolfgang Bauer in einen Hassausbruch und eine unflätige Beschimpfung aller Gäste des Festes. Es war eine filmreife Szene, für das Verlagsfest ein Desaster und für Brinkmann eine sehr problematische Selbstdarstellung. Später musste ich eingreifen, weil er den Mann einer Verlagskollegin geschlagen hatte. Es wunderte mich, dass er in seiner hochgradigen Erregtheit manche Leute einschüchterte. Knapp mittelgroß und pummelig wie er war, wirkte er auf mich keineswegs furchteinflößend, sondern eher etwas infantil. Und wie ein verwöhntes Kind, das sich benachteiligt und zu wenig beachtet fühlt, hatte er sich ja auch benommen. Ich sagte ihm, wenn er sich weiter so aufführen wolle, wäre es besser, er ginge jetzt nach Hause. Neben ihm stand, einen Kopf größer als er, ein Maler, der ihn damals wie eine Art Leibwächter begleitete. Er wirkte verschlossen und verlegen. Vermutlich war er schon einmal dabei gewesen, wenn Brinkmann, was einige Mal vorgekommen ist, eine Literaturveranstaltung durch Lachen und ironische Bemerkungen störte. Das waren dosierte, gerade noch akzeptable Störungen gewesen. Einmal hatte ihn ein Autor aufgefordert, an seiner Stelle weiterzulesen. Darauf hatte sich Brinkmann nicht eingelassen. Dieses Mal aber war er in einer Weise ausgerastet, die auch sein Kumpan offenbar nicht akzeptieren konnte. Dennoch ließ er sich etwas später von Brinkmann dazu anstiften, aus dem Handlager des Verlages, das wegen bereitliegender Gastgeschenke an diesem Tag nicht abgeschlossen war, stapelweise Bücher zu entwenden und im Vorgarten abzulegen, zunächst wohl in der Absicht, einige Bücher mit nach Hause zu nehmen. Vor allem aber war es wohl eine Geste, mit der Brinkmann dem Verlag zeigen wollte, dass man ihm etwas schuldig geblieben sei. Das brauchte er wohl dringend, um sich nicht als Verlierer zu fühlen. Ich habe diese Episode so ausführlich geschildert, weil sie einen Einblick gewährt in die großen Spannungen und die intime persönliche Dynamik, aus denen die schöpferischen Prozesse ihre Energie und ihre Thematik gewinnen. Anders als in normalen Berufswelten, die durch ihre sachorientierte Organisation das Verhalten der Menschen funktional und rollenhaft prägen und sie schon durch das tägliche Zusammensein an Regeln und Normen binden, ist das Schreiben von Literatur ein einsamer, immer auch krisenhafter Selbsterfahrungsprozess mit offenem Ausgang, der den Autor von Buch zu Buch vor neue Probleme stellt und zu neuen Antworten nötigt. Jede neue Arbeit wird vom mitgeführten Schatten ihres möglichen Scheiterns begleitet. Und erst durch die Bewältigung dieser Herausforderungen kann sie Ihre Eigenart und Legitimität gewinnen. Ich habe das bei den Autoren, deren Texte Ich als Lektor betreut habe, In vielen Varianten beobachten können – sowohl ihre Wachstums- und Reifungsprozesse als auch ihre professionellen Deformationen. Es gab aufsteigende und absinkende Lebenslinien, allmähliches Verstummen und plötzliche Abstürze. Brinkmann ist dafür ein markantes Beispiel, auch deshalb, weil ich ihn sehr früh kennen lernte und seine Entwicklung als Autor, die sich in Schüben, Brüchen und Gegensätzen vollzog, aus der Nähe beobachten konnte, bis sie früh und gewaltsam endete. Nach eigenem Zeugnis hat Brinkmann im Gymnasium beim Deutschunterricht meistens abgeschaltet, obwohl Literatur ihn mehr als alle anderen Unterrichtsfächer interessierte. Doch der didaktische, interpretatorische Umgang mit den Texten blieb ihm fremd und stumpfte ihn ab. Später bezeichnete er die traditionellen Bildungsinstanzen und ihre Normen als „die Angstszene Kultur“. Er erhoffte sich von der Literatur eine Belebung und Verstärkung noch undeutlicher eigener Impulse, wie er es in der Pop-Musik und im Kino erleben konnte. Jedenfalls verließ er die Schule und begann eine Ausbildung als Buchhändler. Er las viel, stets neugierig auf Entdeckungen und mit besonderem Interesse an aktueller Literatur, was sich noch intensivierte, als er seine eigenen Bücher zu schreiben begann. Er war immer anregend im Gespräch, immer begeisterungsfähig, aber schroff in der Ablehnung von Büchern, Musikstücken und Filmen, die er muffig und abgestanden oder verlogen fand. Die Grenzen waren oft sehr eng gezogen. Die großen Romane des 19. Jahrhunderts beschäftigten ihn nicht. Und schon gar nicht die Literatur der Klassik, gegen die er sich schon in der Schule verschlossen hatte. Die Schreibweise musste aktuell, das Feeling von heute sein. Daran orientierte er sich, auch bei der Nachahmung bewunderter Texte immer mit der Heftigkeit seines Temperaments und in den Stimmungen, die ihn erfüllten. Den ersten Text, den ich von Brinkmann las, habe ich auch gleich veröffentlicht. Und zwar in einer Anthologie mit Prosatexten noch unbekannter junger Autoren, die ich um diesen Text herum aufbaute. Ich gab dem geplanten Band das im Titel fixierte Thema Ein Tag in der Stadt. Das klang nach einem Schulaufsatz, aber es erinnerte auch an ein Großwerk der modernen Literatur, den Roman Ulysses von James Joyce, der einen Tag im Leben des Anzeigenakquisiteurs Bloom in Dublin darstellt und in lauter alltäglichen Begebenheiten und Milieus die ganze Odyssee spiegelt. Diese Assoziation habe ich natürlich verschwiegen. Sie hätte die Autoren in die Irre geführt und das Vorhaben vermutlich scheitern lassen. Aber die ThemensteIlung erwies sich als produktiv. Brinkmanns Text war der auffälligste, aber keineswegs der gelungenste des Bandes. Er hatte das Manuskript unaufgefordert an den Verlag geschickt, und meine Lektoratskollegin Renate Matthaei hatte es unter den Eingängen entdeckt und mich darauf aufmerksam gemacht. Es war eine Geschichte mit einer winzigen Handlung. Ein junger Mann unterbricht, von einer vagen Erinnerung getrieben, eine stundelange Bahnfahrt und steigt in der Stadt aus, in der er aufgewachsen ist. Aber schon im Bahnhofsgebäude kommt er sich fremd vor und weiß nichts mit sich anzufangen. Eine Stunde später reist er mit dem nächsten Zug weiter. Das ist vom Konzept her ein subtiler Text über eine irritierende Erfahrung von Entfremdung. Zwar war er teilweise unbeholfen und schwammig geschrieben, überzeugte aber durch seine Intensität. Bald danach zeigte sich, dass Brinkmann in diesem Text schon das dramaturgische Grundmodell seiner späteren, in den Bänden Die Umarmung (1965) und Raupenbahn (1966) gesammelten Erzählungen gefunden hatte. Immer befindet sich bei diesen Texten im Mittelpunkt, also der Erzählerposition, eine passive Person von außerordentlicher Erregbarkeit und Sensibilität, die ihren Wahrnehmungen und Gedanken ausgeliefert ist und sie immer weiter ausspinnen muss. Am Ende sackt die Sprachblase, ohne dass etwas geschehen wäre, wieder in sich zusammen. Die Spannung dieser Erzählungen entsteht nicht aus einer Handlung, einem Konflikt oder einem problematischen Charakter, sondern aus den pausenlos um ein leeres Zentrum kreisenden Impressionen. Es ist ein diffuses Gedränge sich überlagernder Reizmuster, die letzten Endes alle gleichgültig bleiben. Denn die existenzielle Indifferenz der blass bleibenden Erzählerperson wird durch ihre sinnliche Erregbarkeit nicht aufgehoben. Die Erzählungen, die unter dem Eindruck des französischen Nouveau Roman geschrieben wurden, sind literarisch weit über den zitierten Anthologietext hinausgewachsen. In ihrem Insistieren auf immer neuen Nuancen der Wahrnehmung und der Imagination und manchmal auch in deren Überdehnung spürt man den Ehrgeiz des Autors, die Standards avancierter zeitgenössischer Beschreibungskunst zu erreichen oder zu übertreffen. Das lässt sich durch kurze Zitate nicht belegen, da nur im Kontinuum des ganzen Textes das Fluten der Sinneseindrücke und Imaginationen erlebbar wird. So zum Beispiel in der Erzählung „Spät“, die aus der Perspektive eines Schlaflosen geschrieben ist. Ich zitiere trotzdem, als ein aus dem Zusammenhang heraus gebrochenes Mosaiksteinchen, einige Textzeilen als Stilprobe:

Es war still in der Dunkelheit, die langsam wie von innen heraus sich wieder aufzuhellen begann und zu der mehliggrauen, diffusen Dämmerung wurde, in der der runde Schatten des Lampenschirms stillstand. Der Druck ließ sich nicht wegdenken. Ruhig und gleichmäßig versuchte er durchzuatmen, als schliefe er noch, gerade erst wieder aufgewacht durch das vibrierende Summen, das klein, von weither, hinter dem immer gleichen hellen und federnden Ticken der Uhr herankam und langsam sich näher schob, wobei es überging in ein wäßriges, ziehendes Rauschen, das die Vorstellung hervorrief, es habe draußen geregnet, der Asphalt sei naß, so daß das Gleiten der Räder zu einem weichen, saugenden Geräusch wurde. Es breitete sich nach allen Seiten hin gleichmäßig aus.

So geht es weiter als ein tendenziell unendliches Sprachspiel der Beschwörung sich ständig wandelnder Phänomene, das irgendwann aufhören wird, aber nicht wie eine Handlung, die ihr angestrebtes Ziel erreicht hat oder vorher scheitert und abbricht, sondern weil allmählich eine Übersättigung droht und der Text keine weiteren Varianten verkraften kann. Aber es gehört zur inneren Logik dieses Schreibens, das Ende des Textes zu verzögern und weit über die Erwartungen der Leser hinaus aufzuschieben. Die wechselnden Wahrnehmungen und Imaginationen sind hier ja nicht das sinnliche Unterfutter einer Handlung, sondern die Sache selbst. Um sie geht es. Der Autor, der sein Sprachspiel als ein nuancenreiches Schaugefieder entfaltet, ist davon so fasziniert, dass er damit die ganze Erzählung bestreitet. Brinkmann konnte dabei allerdings nicht verhindern, dass allmählich das immer gleiche dramaturgische Schema als Stereotyp kenntlich wurde. Immer geht es um die Impressionen und Imaginationen eines namenlosen stationären Ichs, das selbst schattenhaft bleibt. Dass Brinkmann die Gefahr der Stagnation erkannt hat, zeigt die Titelgeschichte des Bandes Raupenbahn, in der er versucht hat, durch Bündelung mehrerer Perspektiven und Geschehnisse das Erzählschema auszuweiten. Die Indifferenz des beobachtenden Blicks änderte sich dadurch allerdings nicht. Dazu bedurfte es einer grundsätzlichen Veränderung der erzählerischen Einstellung. Der Autor musste hinter den ungreifbaren, anonymen Beobachterfiguren der Erzählungen hervorkommen und persönlich in der Szene erscheinen. Er musste einen autobiografisch zentrierten Roman schreiben. Dazu waren andere Vorbilder gefragt: nicht die Stildominanz des Nouveau Roman, sondern die rohe Direktheit von lebensgeschichtlichen Bekenntnissen. Louis Ferdinand Céline und sein berühmtes Buch Reise ans Ende der Nacht und Jean Genets Romane und Theaterstücke kamen in Brinkmanns Blick. Doch Céline, der anarchistische Pariser Armenarzt, der im Auftrag des Roten Kreuzes Afrika und die USA bereiste und sich vom Stalinisten zum Nazisympathisanten wandelte und nach dem Krieg ins Gefängnis kam, und erst recht Genet, der als Waisenkind aus einer Erziehungsanstalt floh, zur Fremdenlegion ging und desertierte, sich dann als Dieb, Bettler, Zuhälter und Verbrecher durchschlug und zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde, wo er seine Bücher zu schreiben begann, bis er Jahre später durch Eingaben von Sartre und Cocteau aus der Haft entlassen wurde, waren beide ungewöhnliche Menschen mit radikalen außerordentlichen Erfahrungen, neben denen Brinkmanns Lebenserfahrungen mickrig aussahen. Sein autobiografisches Material war der kleinbürgerliche Alltag in seiner unverhüllten Schäbigkeit aus täglichen Wiederholungen und Frustrationen: eheliche Entfremdung, Missverständnisse, verstörte, gehemmte Sexualität und ausbrechender Streit, Flucht aus der Wohnung, um der erstarrten Aussichtslosigkeit zu entkommen, zielloses Herumlaufen in der Stadt, ständig verwirrt durch den Anblick fremder Frauen, die alle in einem anderen, besseren Leben zu Hause zu sein schienen und für ihn unerreichbar waren, Kinobesuche, um sich abzulenken, nach langem Zögern ein blamabler, unbefriedigender Bordellbesuch, Freunde, die mit ihren Erfolgen angaben, bei denen alles zu stimmen schien, während er selbst in einer Sackgasse steckte. Es ist eine naive Annahme, so ein frustrierendes, alltägliches Leben, wie es auch viele andere Menschen kennen, sei einfacher und leichter darzustellen als ein großes Unglück, eine Gewalttat, ein Verbrechen, das man begangen hat, wie beispielsweise Jean Genet. Die Grenzen überschreitende Ausnahmesituation ist zwar abschreckend, hat aber eine Aura von Grandiosität. Mehr Selbstüberwindung braucht man für die unverhüllte Darstellung eigener Erbärmlichkeiten. Auch Brinkmann bekam das zu spüren. In der Absicht und aus der erkannten Notwendigkeit, einen weiteren Schritt tun zu müssen und ein seine bisherigen Bücher überbietendes Buch zu schreiben, hatte er sich übernommen. Die vorwärtsdrängende Energie des Schreibprozesses hatte vermutlich zu der Illusion beigetragen, dass das Schreiben schon eine Überwindung der Probleme bedeutete. Doch nun kam ihm die jedermann zugängliche Darstellung seines privaten Elends wie eine unüberwindbare, nicht mehr rückgängig zu machende Fixierung vor. Dass er dem Buch den Titel Keiner weiß mehr gab, war ein Versuch, die Last des dargestellten Elends auf viele Schultern zu übertragen. Aber das half ihm nicht. Er geriet in eine heftige, von Angst getriebene Depression. Es ist nachträglich interessant, die Schlusspassage des Klappentextes zu lesen, dem meine Lektoratskollegin, die das Buch betreut hatte, mit einem Blick auf die psychologische Problematik des Buches geschrieben hat. Dort heißt es: „Brinkmanns Buch schockiert. Es zeigt einen Stoff, der neu ist, weil die Sublimierung ihn gewöhnlich wieder verdrängt. Bei Brinkmann erscheint er in einer unperfektionierten Form, die am Anfang der Erfahrung steht und die Bewegung von der Betroffenheit zum distanzierenden Bewußtsein noch nicht abgeschlossen hat, sondern im Entstehen erfaßt.“ Mit anderen Worten: Dieser Roman ist unbeschönigte Lebenserfahrung. Hautnah sieht man in ihm dem wirklichen Leben zu. Für die Leser war das ein Anreiz und vielleicht auch ein Anlass zur Selbsterkenntnis. Für Brinkmann wurden seine detailliert ausgebreiteten alltäglichen Niederlagen ein Gewicht, von dem er sich erdrückt fühlte. Er glaubte damals, niemals mehr schreiben zu können, jedenfalls nie mehr einen Roman. In dem Gedicht „Selbstbildnis im Supermarkt“ hat Brinkmann die niederdrückende Erfahrung, die seine Selbstdarstellung für ihn bedeutete, auf eine Kurzformel gebracht. Der Schock, der ihn trifft, als er in der Fensterscheibe eines Supermarktes seinem Spiegelbild begegnet, ist die Lightfassung seines nachträglichen Erschreckens über sein Selbstporträt, das ihm in der sich verselbstständigenden Dynamik des Schreibens unterlaufen war. Er scheint die Selbstbeschädigung durch den Roman vorher nicht erkannt zu haben und erlebte sie nachfolgend als Schock und innere Lähmung. Das ist im Gedicht ins Bild gesetzt. Als er der Konfrontation mit seinem Spiegelbild auszuweichen versucht, gelangt er vor eine kahle Wand, die ihm jeden Ausweg versperrt. So – als Ohnmacht und Zukunftslosigkeit – hat er seine Krise wohl erlebt. Er konnte nur noch hoffen, dass ihm jemand aus seiner Erstarrung heraushalf. Den klagenden Hilferuf „Ich bin kaputt, ich bin am ende“ habe ich oft von ihm zu hören bekommen. Das war die kindliche Kehrseite seiner meist bald danach aus geringen oder unerkennbaren Anlässen ausbrechenden Aggressionen, mit denen er sein wankendes Selbstbild wieder herzustellen versuchte. Er war eine widersprüchliche, bipolare Person, die sich oft nicht in der Hand hatte, allerdings auch deshalb zu überraschenden Wendungen und Wandlungen fähig war. Die kahle Wand, die ihm vorübergehend den weiteren Weg versperrt hatte, überwand er nicht, indem er sie durchbrach, sondern indem er sie umging. Er fand einen neuen Anfang durch ein neues poetologisches Konzept, das er sich sofort wie ein neu Bekehrter zu eigen machte, so leicht und so schnell, als ob es nur ein Kostümwechsel wäre. Vielleicht war es ja auch ein Kostümwechsel, der durch einen gesellschaftlichen Stimmungswandel modische Aktualität gewonnen hatte. Die Postmoderne, die nach dem Zerfall des rationalen Fortschrittsglaubens der Moderne Kategorien wie Unbestimmtheit, Pluralität und Spontaneität ins Zentrum des Denkens rückte, wurde für Brinkmann der Horizont für eine neue Identität und eine Umkehrung der Werte, in der seine alten Probleme sich verflüchtigten. Alles erschien auf einmal einfach, wenn man nur die Optik änderte und das niederziehende Realitätsprinzip, das ihn beim Schreiben des Romans beherrscht hatte, durch ein unbeschränktes spielerisches Lustprinzip ersetzte. Vielfältige Anregung dazu entdeckte Brinkmann in der amerikanischen Popkultur, die in den 1960er Jahren vor allem in der Kunstszene, aber auch in Musik und Literatur nach Europa überschwappte und einen Prozess in Gang setzte, für den Herbert Marcuse den Begriff der „regressiven Entsublimierung“ geprägt hat. Die exklusiven traditionellen Eintrittsbedingungen in den Bereich der Kultur wurden durch Andy Warhols überall weitergesprochenen Satz „Alles ist Kunst, jeder ist Künstler“ radikal ermäßigt, was eine nie dagewesene Konjunktur künstlerischer Aktivitäten und eine Schwemme begleitender kunsttheoretischer Rationalisierungen auslöste. Dabei waren erstaunliche Wendigkeiten zu beobachten. Von Gottfried Benn, der noch kurz zuvor im Sinne des klassischen Begriffs der poetischen „Verdichtung“ die Gestalt gewordene Wesentlichkeit des statischen Gedichtes gefeiert hatte, konnte man plötzlich lesen, die Kunst der Zukunft sei als Antwort auf das Nebeneinander der Dinge Montagekunst. „Und wenn der Mann danach ist, dann kann der erste Vers aus dem Kursbuch sein und der zweite eine Gesangbuchstrophe und der dritte ein Mikoschwitz und das Ganze ist doch ein Gedicht.“ Benn pflegte solche Äußerungen hinzuwerfen, ohne sie zu belegen. Da war Brinkmanns Annäherung an die Ästhetik der Collage, der Zufallstreuung und spielerischen Individualisierung umfassender und identifikatorischer. Er hat sie 1969 als Herausgeber, Übersetzer und leidenschaftlicher Interpret in zwei umfangreichen Anthologien – Acid, in Zusammenarbeit mit Ralf-Rainer Rygulla im März Verlag, und Silver Screen bei Kiepenheuer & Witsch – mit einem Engagement vorgestellt, das an den missionarischen Eifer eines Bekehrten erinnert, der die neue, ihn befreiende Erfahrung, die er gemacht hat, nun als Botschaft an alle zu verbreiten versucht. Beide Anthologien, vor allem aber Acid, sind breit gefächerte Dokumentationen der Pop-Kultur. Gedichte, Tagebuchtexte, Science-Fiction, Nonsens, Interviews, Comicstrips, Starfotos aus alten und neuen Filmen, Idolo der Pop-Musik und Pornografie stehen wie eine Illustration des Mottos „Anything goes“ in schriller Mischung beieinander, flankiert durch Aufsätze des Literaturkritikers Leslie Fiedler, des Medientheoretikers Marshall McLuhan und des Filmkritikers und Warhol-Interpreten Parker Tyler, die jeweils aus ihrer Perspektive versuchten, die Grundzüge der neuen postmodernen Kultur zu beschreiben. Wenn man in Acid blättert und liest, hat man den Eindruck einer Bilderwelt, die sich von der Realität völlig abgelöst und verselbstständigt hat. Nichts verweist mehr auf Wirklichkeit. Auch der Hyperrealismus verdinglicht sie im Zitat. Alles ist nur Fiktion – die Dinge und Geschehnisse, aber auch die Autoren und ihre Selbstdarstellung, ihre Sprechweise, die scheinbare Lebendigkeit ihrer Äußerungen, alles ist Kunst und Simulation. Auch Leben ist Simulation, kreisend im Selbstbezug der Zeichen, in der Scheinspontaneität einer bloßen Zurufkommunikation. Hallo, da sind wir, als wären wir es! Brinkmann ist von diesem kulturellen Gesamtpanorama stimuliert worden, wurde aber besonders beeinflusst von einer Gruppe New Yorker Lyriker, zu denen neben Frank O’Hara, dessen Lunch Poems er übersetzte, John Ashbery, Kenneth Koch, der von Nicolas Born übersetzt wurde, Anne Waldmann, Ed Sanders, Lewis Warsh, Dick Gallup, Ted Berrigan und Ron Padgett gehören, die neben vielen anderen in Brinkmanns Übersetzungen, in beiden Anthologien vertreten sind. Die Editionen und die Übersetzungen sind eine beachtliche Leistung, in der Brinkmanns Begeisterung zum Ausdruck kommt. In all diesen Texten, die von unterschiedlichem Niveau sind, entdeckte er eine motivierende, inspirierende Lebendigkeit. Es war das, was er brauchte. Charakteristisch für die New Yorker Lyriker ist das lange, sich oft über viele Buchseiten erstreckende Gedicht, das mit der Geläufigkeit eines Small Talks, manchmal geradezu ideenflüchtig über Brüche und Sprünge hinweg, von einer Vorstellung zur nächsten gleitet, als wäre es ein spontan entstandener und im Augenblick seiner Entstehung festgehaltener Zufallstext. Extrem sind die Gedichte von Ted Berrigan und Ron Padgett, die manchmal auch gemeinsam ein Gedicht improvisiert haben. Bei ihnen kommen in besonderem Maße auch die grafische Zerrissenheit und inhaltliche Sprunghaftigkeit als Spontanform des Textes ins Spiel. Für einen fremden Blick sieht das zufällig wie die verrutschten Teile eines zerstörten Puzzles aus. Brinkmann hat die Ausdrucksform des aufgelösten Textbildes gelegentlich übernommen, beispielsweise in dem zitierten Spiegelbildgedicht. Imponierend und befreiend war für Brinkmann die Lockerheit der Autoren im Umgang mit der Sprache und dem Material. Darin sah er das Gegenteil zur Angstszene Kultur, in deren Schatten er begonnen hatte. Die Amerikaner machten ihre Jobs an Universitäten und in Redaktionen ebenso entspannt, wie sie sich den lässigen Gewohnheiten und Vergnügungen der Stadt hingaben. Ted Berrigan zum Beispiel war wie viele amerikanische Autoren Literaturdozent und verdiente seinen Lebensunterhalt durch Kurse für Creative Writing. Sein Literaturkonzept des lyrischen Small Talks ist offensichtlich durch diese Tätigkeit mitgeprägt. Das freie Improvisieren und das Aufgreifen von Zufallsmaterial eignen sich ja auch besser zum Unterricht und zur Nachahmung als die traditionelle Ästhetik des vollendeten, in sich ruhenden Gedichtes, in dem jedes Wort in sensibler Feinabstimmung zur Zeile und zum ganzen Text steht. Berrigan gab seine Kurse unter dem Motto „locker bleiben und bloß keinen Streß“. Tom Clark, ein anderer Lyriker und Literaturdozent, hat in seiner Einleitung zu einem Gedichtband von Ted Berrigan den Autor als einen smarten Typ beschrieben, groß, schlank, fantasievoll gekleidet, ein Teenager-Idol mit Beatles-Frisur, der ihm erzählt hat, wie er im vergangenen Semester den Literaturkurs für Anfänger eröffnet hatte. Er hatte gesagt: „Lasst uns entspannen. Wenn ihr eine Eins haben wollt, redet mit mir darüber und ich gebe euch eine Eins, nur lasst uns an diesen Büchern Spaß kriegen.“ Von Berrigan stammt auch der Satz, dass alles, was im Leben des Autors vorkommt, interessant sei, ein Statement, das dazu auffordert, alle überlieferten Hierarchien von Themen und Bedeutungen zu unterlaufen, um die Vielfalt des alltäglichen Lebens zu entdecken. Ähnliches kann man auch bei Brinkmann lesen. So zum Beispiel in seiner kurzen Vorbemerkung zu dem bereits zitierten zweiten Gedichtband Die Piloten (1968), der in Motiven und Tonfall schon den Einfluss der amerikanischen Popkultur zeigt. Er schreibt dort, ein Gedicht könne heute seiner Ansicht nach „nur das als Material aufnehmen, was wirklich alltäglich abfällt. Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snapshot festzuhalten.“ Das ist eine etwas elaboriertere Aussage als die von Ted Berrigan. Sie ist wohl auch mehr durch seine Erfahrungen als Fotograf und Hobbyfilmer angeregt als durch den subjektiven Konkretismus der zeitgenössischen New Yorker Lyriker. Aber ein Stück weiter redet er in einem Tonfall von demonstrativem Optimismus über das Schreiben, der in einem Creative-Writing-Kurs von Ted Berrigan genau am richtigen Platz wäre. „Es geht um das genaue Hinsehen, die richtige Einstellung zum Kaffeerest in der Tasse, während jemand reinkommt ins Zimmer und fragt, gehen wir heute abend in die Spätvorstellung? Mir ist das Kaugummi ausgegangen! Eine Zeitung ist aufgeschlagen und man liest zufällig einen Satz, sieht dazu ein Bild und denkt, daß der Weltraum sich auch jetzt gerade wieder ausdehnt. Die milde Witterung lockt Go-Go-Girls in den Kölner Rheinpark. Das alte Rückpro-Verfahren. Die Unterhaltung geht weiter. Ein Bild entsteht oder ein Vorgang, den es nie gegeben hat, Stimmen, sehr direkt. Man braucht nur skrupellos zu sein, das als Gedicht aufzuschreiben. Wenn es dieses Mal nicht klappt, wirft man den Zettel weg, beim nächsten Mal packt man es dann eben, etwas anderes. Sehen Sie hin, packen Sie das mal an, was fühlen Sie? Metall? Porzellan? Eine alte Kippe zwischen Zeigefinger und Mittelfinger? Und sonst geht es Ihnen gut? Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen.“ Dieser Text wurde von einem Autor geschrieben, der vor wenigen Wochen noch glaubte, völlig am Ende zu sein. Nun redet er wie ein Produktwerber in der Fernsehwerbung, ein munterer Verhaltenstrainer im Dienst der neuen Spaßkultur. Unübersehbar ist allerdings in diesem Fall, dass die eifrige Bekehrung anderer immer auch der eigenen Stabilisierung dient. Unter dem Eindruck der demonstrativen Lässigkeiten der gleichaltrigen amerikanischen Lyriker machte sich Brinkmann daran, die deprimierende Darstellung des alltäglichen Lebens und der alltäglichen Dinge in seinem Roman in der Lyrik in spielerische Inszenierungen zufälliger alltäglicher Dinge und Geschehnisse umzuwandeln. Das war reizvoll und entlastend, freilich um den Preis vieler Attitüden, die damit verbunden waren, wie die Echtheitsgarantie mit dem Konsumartikel. Es ist nicht ohne Witz, die Abgründigkeit des Lebens in folgenden Sätzen von Ron Padgett beschrieben und bewältigt zu sehen: „Ich kann mir gut vorstellen, daß es viele Gründe gibt, die dagegen sprechen, einen Teppich in der Küche zu haben, doch ich kann auch viele Gründe aufzählen, die dafür sprechen. Ich werde mir aber nicht die Mühe machen, sie aufzuzählen, weil jeder das in seiner Freizeit tun kann.“ Wo also liegt das Problem? Alles ist möglich und jeder macht sein Ding. Das ist alles, was sich sagen lässt. Und darum lässt sich auch alles sagen. Man muss es nur locker tun. Das ist die Konvention. Konvention ermöglicht Orientierung und Vergleichbarkeit. Sie ist ein Rahmen für ein Lebensgefühl, Gerüst eines Epochenstils, der sich in den Werken der Autoren individuell entfaltet und ausdifferenziert. Der Epochenstil ist die Arena, in der die Autoren nebeneinander oder nacheinander und auch gegeneinander auftreten, um ihre eigene Version des gemeinsamen Erfahrungshintergrundes vorzutragen. Manches fügt sich dabei zusammen, manches widerspricht sich und schließt sich gegenseitig aus, einiges wird stereotyp, anderes verändert sich. Als Rolf Dieter Brinkmann Gedichte zu schreiben begann und die New Yorker Lyriker als ein Kernstück der internationalen Popkultur entdeckte, war das für ihn literarisch und lebensgeschichtlich eine mächtige, inspirierende Anregung. Er stürzte sich auf diese neue Erfahrung als Übersetzer, Editor und Autor, um sie sich wie in einem Crashkurs zu eigen zu machen. Teilweise geschah das noch in der Form direkter Nachahmung. Er übernahm strukturelle Textmuster, Motive und Attitüden seiner Vorbilder und schrieb, neben immer wieder aufblitzenden persönlich geprägten Zeilen, einige Texte, die wie virtuose Fälschungen der Originale wirken. Doch das waren Phänomene der Übergangszeit. Denn bald übernahm Brinkmanns eigene Imagination die vorgegebenen Textmuster und gab ihnen einen von den Vorbildern abweichenden persönlichen Sinn. Das assoziative Schweifen der amerikanischen Texte, das in der Regel kommunikative Lässigkeit signalisiert, wurde bei ihm zum Ausdruck der Überschwemmung eines machtlosen Ichs, das umschlossen wird von einem Chaos zerstreuter, flüchtig ergriffener und wieder entgleitender Einzelheiten, das nur oberflächlich zusammengehalten wird durch die generelle emotionale Distanzierung, mit der sich der Autor von der Welt abgrenzt. Das ist ein Gegenstück zu der selbstbewussten Beziehungsfreudigkeit der amerikanischen Kollegen. Das entspannte spielerische Verfügen über die vielfältige Beliebigkeit der Welt hat die Form einer pauschalen Abwehr angenommen, in der sich der Autor gegen den Druck der Welt zu behaupten versucht. So vor allem in den langen Schimpfarien seines postum erschienenen Buches Rom, Blicke. Brinkmann war im Oktober 1972 für ein zehnmonatiges Stipendium in der Villa Massimo nach Rom gekommen und hatte sich dort, wie schon im heimischen Köln, aber radikaler und insistierender, darangemacht, die Stadt samt ihren Einwohnern in langen monomanischen Briefen an seine Frau und andere Adressaten als eine heruntergekommene und vulgäre Szenerie darzustellen. Das hat in seiner Detailliertheit und rhetorischen Wucht eine suggestive Zwanghaftigkeit, hinter der man ein ganzes Bündel mehr oder minder unbewusster Motive vermuten kann: einerseits trotzige, revoluzzerhafte Selbstbehauptung gegenüber dem hochberühmten Denkmal abendländischer Kultur, anderseits aber auch der verinnerlichte, mit dem Stipendium verbundene Anspruch, es für das Schreiben eines neuen literarischen Werkes zu nutzen. Dem versuchte er zu entsprechen, indem er seine Briefe nach Hause durch weiträumige Überdehnungen und radikale Übertreibungen literarisierte. Vor allem hat er damit ein wuchtiges Ichdokument geschaffen, das in seiner Angestrengtheit Zeugnis einer schwelenden Krise ist. Die Zeit der bei der Pop-Art entliehenen Leichtigkeit war vorbei. Das drückt sich auch in einem 50-seitigen Brief aus, den Brinkmann im September 1973, nach seiner Rückkehr aus Rom, aufgeregt und dozierend wie immer, als neue Standortbestimmung an seinen Malerfreund Henning John von Freyend schrieb. Unter dem Anspruch eines Erneuerers, „eine entsetzliche Menge überflüssiger Dinge und oft überflüssiger Menschen“ beiseiteschieben zu wollen, um wieder einen freien Blick zu bekommen, geraten nun auch die noch vor kurzem gefeierten Größen der Popkultur gemeinsam mit dem historischen Rom ins pauschale Verdikt. Der Text hat die Robustheit einer Müllentsorgung, bei der rasch und achtlos alles zusammengepackt wird, was man loswerden will: „Der ganze Irrsinn der New Yorker Pop Art, der ganze Warholscheiß, ich meine die aufgeputzten Mumien, das ist doch nur noch Historie! Und ist von Anfang an Historie gewesen, wie eben alte Ruinen, die aufgeputzt werden und angestrahlt, z.B. in Rom.“ Natürlich sind solche Texte Ausdruck spontaner Redesituationen, auch wenn sie in einem Brief stehen oder in anderen Texten, auch in Gedichten. Schreiben ist für Brinkmann spontane Intuition, innere Aufwallung, Zustrom von Eindrücken, eine Kette momentaner Evidenzen, immer und solange es andauert, eine grandiose Form der Existenz, mal punktgenau den Augenblick treffend, mal gestenreich sich in weiträumiger Gedankenflucht verlierend, vor dem Hintergrund einer verwirrend vielfältigen, aber für sich seienden, in sich verschlossenen Welt, wo er sich letzten Endes immer in derselben Situation sieht. So hat er es in der Vorbemerkung zu seinem letzten Gedichtband Westwärts 1&2 dargestellt: „Hier sitze ich, an der Schreibmaschine, und schlage Wörter auf das Papier, allein, in einem kleinen engen Mittelzimmer einer Altbauwohnung in der Stadt. Es ist Samstagnachmittag, es ist Sonntag, es ist Montag, es ist Dienstagmorgen, es ist Mittwoch, es ist Donnerstag, es ist Freitagnachmittag, es ist Samstag und Sonntag.“ Schreiben ist zugleich Entfremdung und Bei-sich-selbst-Sein. Selbstangelegtes Joch. Gebunden an die Monotonie dieser Situation erinnert er sich an manche Vormittage, an denen er die Schule schwänzte und bis zum Mittag mit seiner Schultasche außerhalb des Ortes in der Gegend herumlief. Er nennt diese Erinnerung an diese Distanzierungsversuche seiner Schulzeit ein „erstaunliches Gefühl“, ohne es weiter zu erläutern. Aber ein Leser kann in seinen Texten die eigensinnige Selbstbehauptung und das ziellose Herumschweifen des Jugendlichen wieder erkennen. In dem Gedichtband Westwärts 1&2, der in Brinkmanns Todesjahr 1975 bei Rowohlt erschien, ist die fundamentale Erfahrung der Entfremdung in die schwebende Enthobenheit des Fliegens und des Ortswechsels verwandelt. Brinkmann war 1974 von dem Germanisten Leslie Wilson zu einem längeren Aufenthalt an der Universität Austin in Texas eingeladen worden. Er hat sich dort offenbar wohlgefühlt, mehr jedenfalls als bei dem vorausgegangenen Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom. Der Gedichtband ist trotz seines Titelworts „Westwärts“, das eine Aufbruchstimmung evoziert, in seiner Gesamtheit keineswegs auf den Aufenthalt in Austin bezogen, denn er versammelt die Gedichte, die zwischen 1970 und 1974 entstanden sind. Das letzte, ein Gedicht ohne Titel, das mit der Zeile beginnt „Ich rede mit mir selbst, tanze, fluche, allein, da“, könnte in der Abgeschiedenheit eines fremden Quartiers geschrieben worden sein. Doch inhaltlich muss man es wohl als ein grundsätzliches Resümee verstehen. Es ist eine Litanei über das Alleinsein, die sich über viele Seiten erstreckt. Ich zitiere die letzten Strophen:

Alleinsein ist wie Gas, das ausströmt. Alleinsein ist wie mitten am Tag das Zimmerlicht anzuschalten. Alleinsein ist wie im Badezimmerspiegel sein eigenes Gesicht anzustarren. Alleinsein ist lächerlich wie

ein Vergleich. Und Alleinsein ist wie ein stinkendes Motorrad im Hausflur. Und Alleinsein ist wie eine überfüllte Mülltonne, in die nichts mehr reinpaßt, und Alleinsein ist nicht einmal wie eine Zwiebel,

die geschält wird und die Tränen kommen. Alleinsein ist wie die Redewendung „aber wirklich.“ Alleinsein ist wie die Wut, wenn einer fragt, „verstehste?“

Und Alleinsein ist kein Gedicht, das keinen Titel hat. Und Alleinsein ist wie die Frage, was tue ich Montag.

Ich weiß nicht, wo und wann das Gedicht geschrieben worden ist. Denn es gibt einen unbestimmten Zeitraum von zwei oder drei Jahren, in denen der emotionale Aufschwung durch die Anerkennung, die Brinkmann für seine Gedichte und seine editorischen Leistungen erhalten hat, immer wieder von seelischen Tiefs durchbrochen wurde. Ich war schon lange nicht mehr sein Lektor, denn ich hatte mittlerweile eigene Bücher geschrieben und die Verlagsarbeit immer weiter eingeschränkt. Und Brinkmann war wegen anderer Probleme, die er mit dem Verlag hatte, zu Rowohlt übergewechselt. So war ich überrascht, als er mich eines Abends anrief und mich bat, zu ihm zu kommen. Er brauche jemanden mit dem er sprechen könne, denn er säße allein in der Wohnung und sei total am Ende. Als ich bei ihm ankam, saß er in einem kahlen Zimmer und empfing mich mit der ganzen Bandbreite seiner Depression. Es war dieselbe privater und generalisierter Probleme wie damals nach dem Roman. Ich schlug ihm vor, in eine nahe gelegene Kneipe zu gehen und etwas zu trinken, und dort saßen wir und redeten über alles, ohne jede praktische Perspektive. Helfen konnte ich ihm nicht. Gegen Mitternacht brachen wir auf, denn er musste am nächsten Vormittag nach London fliegen, um an einer internationalen Literaturveranstaltung teilzunehmen. Er hatte große Angst davor, fremde Menschen zu treffen und sich mit seinen Texten präsentieren zu müssen, weil er sich so schlecht fühlte. Ich war etwas verwundert, dass er mich angerufen hatte, denn unser Kontakt war seit einiger Zeit abgerissen. Andererseits wusste ich aus dem Gedicht, dass er immer nach Hilfe Ausschau hielt, wenn er nicht weiterwusste. Vielleicht hatte er vergeblich andere Leute angerufen und dann gewohnheitsmäßig meine Nummer gewählt. So hatten wir wieder mal einen Abend miteinander verbracht. Zwei oder drei Tage später saß ich nachmittags in der Vertreterkonferenz des Verlages und sprach über die Neuerscheinungen der kommenden Saison, als mich eine Sekretärin wegen eines Anrufs aus London zum Telefon rief. Wieder Brinkmann?, dachte ich. Aber am Telefon war der Schriftsteller Jürgen Theobaldy, der mir sagte, dass Brinkmann tot sei. Er schilderte in knappen Worten den Unfall, der in seiner Simplizität jeden weiteren Gedanken ausschloss. Als ich in den Besprechungsraum zurückrückging und die Nachricht weitergab, herrschte auch dort sprachlose Bestürzung. Ich verließ noch einmal den Raum, um in mein Zimmer zu gehen. An dem Schreibtisch, an dem wir uns oft gegenübergesessen hatten, formulierte ich eine Meldung für die Presse.

Dieter Wellershoff

 

 

 

Vorwort

Ein Buch als Plädoyer für eine Dichterplastik des Schriftstellers Rolf Dieter Brinkmann im Jahre 2008? 33 Jahre nach dem Tod des heute möglicherweise 68-Jährigen, der, als ihn in London der Spiegel eines vorbeifahrenden Autos tödlich traf, gerade 35 Jahre alt geworden war? An wen muss man sich da erinnern? An den Autor seines einzigen Romans Keiner weiß mehr? An den Schreiber von immer ausschweifenderen Gedichten, die exzessiv nach neuer Welterfahrung suchten? An den wichtigen Vermittler amerikanischer Pop-Art in Acid und Silverscreen – einer lange vorübergewehten Zeiterscheinung? Oder an den radikal subjektiven, ja obsessiven und bisweilen unerträglichen Räsoneur der Materialcollagen Rom, Blicke, Erkundungen… und Schnitte, die in dieser Aufeinanderfolge noch postum einen immer radikaleren Ekel herstellten und abbildeten? Wer war dieser Rolf Dieter Brinkmann denn eigentlich, dass man sich heute seiner erinnern soll? Ich habe den Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann immer als einen verzweifelten Menschen empfunden. Sein Roman Keiner weiß mehr, gerade wegen der Genauigkeit seiner Verzweiflungsdarstellung, war für mich, gerade auch als Literatur, dennoch Bestätigung dieser, wenn man so will, durchaus außerliterarischen Empfindung. Der Erzähler beobachtet in diesem eindrucksvollen Buch seine familiäre Welt mit einem kranken Kind, in der er sich nicht zurechtfindet, gegen die er nicht ankommt, mit einem sehr genauen Blick, den er auflöst in ein ausschweifendes assoziatives Schreiben, das seine Gegenstände umkreist, einkreist, um sie schließlich wieder von sich abzustoßen. In nuce zeigt sich da ein literarisches Verfahren, das den unentwegt brechenden Blick des Erzählers als das bestimmende literarische Erkundungsverfahren seines Autors vorführt: „Er sah, daß er sie [seine Frau] nicht einmal für eine Stunde von sich abschütteln konnte, so wie sie war, wirklich, trotz seiner Einbildung, daß sie nicht so war, wie sie sich ihm zeigte, durch ihn dazu herausgefordert, sich zu zeigen, wie sie wirklich war und er es von ihr glaubte, nämlich nicht so abwesend und ständig damit beschäftigt, irgend etwas anderes zu sein.“ In diesem Schreib-Verfahren zeigt sich die Beobachtungs-Obsessivität von Brinkmanns Gedichten und auch schon jenes Collage-Verfahren, das postum drei nicht minder obsessive Bücher irgendwie hervorgebracht hat. Aber in diesem Roman ist auch jener Weltekel schon lesbar, der sich immer wieder anders literarisch verkleidet hat, der aber auf Literatur auch verzichten konnte – so wen es gegen Ende heißt:

Von Literatur keine Rede mehr! Was es genau ist, kann er nicht sagen. Es ist soviel, gegen das er zum letzten Mal ankommen muß, kotzen, darüber sich erbrechen, alles einfach auskotzen und zukotzen, während sie reden und reden, wer? Da sind doch welche! In dem schall-toten Raum rumort was. Das ist er selber.

Brinkmann war als Schriftsteller ein Phänomen: mitten im Strom einer besonders bewegten Zeit auf ganz eigene Weise abseits. Er erschien mir immer als ein Autor, der in dieser Zeit unterging, ohne darin aufzugehen. Und er stellte das, was gemeinhin „Literatur“ ist, für sich und für andere, Kritiker, Leser, Kollegen, auf den Prüfstand „Wirklichkeit“ – seiner ganz besonderen Wirklichkeit. Auf sie reagieren in diesem Buch alle, die von Brinkmann reden, davon handeln auf ihre Weise alle Beiträge dieses Buchs (und am genauesten und in bewundernswerter Klarheit Dieter Wellershoff). Ob es die Abstoßung Marcel Reich-Ranickis ist, den Brinkmann vielleicht symbolisch, in jedem Falle aber blind für die Erfahrung des anderen, beleidigte, oder ob es die Generalabsolution des generationsmächtigen Individualisten Brinkmann durch einen allumfassend selbstbezogenen Bazon Brock ist; ob Elfriede Jelineks helle Sicht auf den von Leidenschaft gegen das Eingefahrene Besessenen, Peter Handkes sympathisch verwandte Ahnung der Ambivalenz von bedrückender Ratlosigkeit und Enge einerseits und den ins Weite drängenden Gedichten andererseits; oder des frühen Gefährten Brinkmanns Ralf-Rainer Rygulla Notat, Brinkmanns Schaffen sei bestimmt gewesen „von dem unerbittlichen Drang, Literatur mit dem Leben zur Deckung zu bringen“, aber dies sei auch ein Anspruch Brinkmanns an alle anderen gewesen, die er gekannt habe – also eine dringliche Forderung, ihm in dieser Entschiedenheit zu folgen (und dann aber sagt, dass im Grunde niemand diesen eingeforderten Begleitweg mitgehen konnte) – stets geht es in diesen Äußerungen um die Einwirkung oft unerträglichen literarischen „Handelns“ aufs konkrete sich zu diesem „Handeln“ Verhalten. Nicht um Literatur als Lebenshilfe, sondern als Provokation. Aber wer sagt denn, dass diese Provokation nicht auch eine Form der Lebenshilfe sein könnte? Eine andere freilich als die Hermann Hesse’sche, die damals, als Brinkmann schrieb, so viele andere junge Leute fasziniert hat. Es gab ja nicht nur die sogenannten 68er, sondern es gab ja auch die Blumenkinder, die Hippies, die damals anderes lasen als jene Dichter, die Brinkmann aus New York importiert hat. Das Phänomen Brinkmann, das dieser Band propagiert, feiert, verdammt, in jedem Falle untersucht und wohl doch zu verstehen sucht – dieses Hydra-Phänomen kann eben nur unter den verschiedensten und auch gegensätzlichen Aspekten angesehen werden, um jene Komplexität auszumachen, das dieser an den Mängeln seiner Existenz leidende, fast zugrunde gehende Schriftsteller Brinkmann nun einmal war.

Heinz Ludwig Arnold, Vorwort

Einleitung

Er sei ein ICH, das quer zur Welt liege, bemerkte einmal Peter Handke treffend über Rolf Dieter Brinkmann. Doch wer liegt schon richtig in dieser Welt, die sich in einer tiefgreifenden kulturellen Krise befindet und die uns verdeutlicht, wie unsere Institutionen die Natur und wir uns selbst verraten haben? Es ist nicht nur bedrückend, es macht zornig, dass Politiker und Experten auf unterschiedlichen Gebieten nicht in der Lage sind, die vordringlichen Probleme in den Griff zu bekommen, geschweige denn zu lösen. „Für Millionen ist jetzt das Ketchup billiger…“ (R.D. Brinkmann), für Millionen das Leben teurer. Für Millionen haben Politiker ein soziales Notprogramm kreiert, das auch noch den einbrennenden Namen Hartz trägt. Welch eine Perversion, die man in ganz Deutschland akzeptiert, im brasilianischen Vergnügungsviertel nicht verstehen kann, dafür aber begeistert Schlingensiefs Wagner-Operninszenierung Der fliegende Holländer. Aber was hat das hier Skizzierte und das viele Andere in der Welt mit Brinkmann zu tun, der doch in Querlage seine Gefühle erkundend präzisierte – und das für einen Aufstand? Gegen wen, weswegen? – Gegen alle und sich im Besonderen. Er verschonte dabei keinen, sich selbst am wenigsten. „Wie leb’ ich denn?“, fragte er. Und das nicht allein vor dem Hintergrund des Weltgeschehens, sofern es für die meisten über die Angst hinaus überhaupt überschaubar ist. Unser Spiegelbild sollten wir befragen, um zu erkennen, dass selbst im tabufreien Raum, in dem wir uns bewegen, hinter unseren eigenen und den vielen bürokratischen Charaktermasken ein beschnittenes Bedürfnis liegt, frei atmen um Denkräume entfalten zu können. Anders als die literarischen und künstlerischen Nachahmer hat sich Brinkmann vom Smog der Alltagserfahrung schreibend und schreiend zu befreien versucht, seinen permanenten Ausbruchversuch zum Lebensthema gemacht. Wie wichtig doch dieser Gegenschwimmer Brinkmann ist, im Strom einer dahintreibenden und Fähnchen schwenkenden Unterhaltungs- und Freizeitgesellschaft, der, vom Schwemmgut getroffen und angeekelt, nie aufgab. Wir müssen endlich erkennen, dass das Bekannte versagt hat und wir uns ins Unbekannte vorwagen müssen und dabei nicht haltmachen. „Warum hier haltmachen? Warum irgendwo haltmachen?“ hat das ein Ziel? Für Brinkmann „Westwärts…“? Nicht haltmachen wollte auch der in Goethes Freisinn-Gedicht 1815 beschriebene Reisende, der seinen Aufbruch in neue Welten und die damit verbundene geistige Beweglichkeit, Freiheit und Aufgeschlossenheit für etwas Neues formuliert: In der Auseinandersetzung mit Brinkmann begegnete ich wieder dem Brinkmann, der unter meinem eigenen Namen in den 1960er und 1970er Jahren in mir revoltierte und mich agieren ließ. So möchte ich auch heute nicht haltmachen und mit einem Plädoyer für den Grenzgänger eintreten und fand dafür kulturelle Eingreifer und Verbündete: die Autoren dieses Bandes. Eigentlich geht es mir gar nicht um den Rolf Dieter Brinkmann, den literaturwissenschaftliche Zaungäste wie eine Zitrone ausgepresst haben und dessen Werkverwaltung beharrlich auf der alten Schreibmaschine und den letzten Dokumenten sitzt. Vielmehr geht es mir um den Synonymos Brinkmann, stellvertretend für all die Protagonisten, die „Implosionsartisten“ (Bazon Brock), die den Schmerz schreibend zu überwinden versuchen. Somit habe Ich es mir zur Aufgabe gemacht, diesem Querliegenden ein bleibendes Zeichen zu setzen, das uns erinnern soll, dass Brinkmann doch nicht zu kurz lebte. Mein künstlerisches Vorhaben, dem Dichter an seinem Geburtsort ein Denkmal zu realisieren, thematisierte ich parallel in meiner Lehrveranstaltung an der Universität in Vechta – „Projekt Rolf Dieter Brinkmann – Zeichen für einen Grenzgänger“. Beteiligt waren Studentinnen des Bachelorstudiengangs Designpädagogik am Institut für intermediäre Gestaltung (ImeG) unter Mitwirkung meiner Mitarbeiterinnen. Das Thema, als interdisziplinäres Gruppenprojekt angelegt, beinhaltete neben der Auseinandersetzung mit der Literatur Brinkmanns die ästhetische Transformation von Sprache zum Bild und zur dreidimensionalen Gestaltung und zur Dichterplastik im Kontext der Kunst im öffentlichen Raum. Die ersten Kontaktgespräche hinsichtlich der Realisierung der Plastik ließen erkennen, dass man dem Enfant terrible Brinkmann an seinem Geburtsort immer noch nicht ganz verzeiht. Offenbar hat er das bürgerliche Umfeld seiner Geburtsstadt allzu sehr brüskiert und mit seiner Weltsicht überfordert. Aber waren es nicht auch die Städte Köln oder Rom, die er in späteren Jahren genauso mit seinen Schimpftiraden überzog? So zog ich es vor, mich zunächst auf diese Anthologie zu konzentrieren und zusammen mit der Ausstellung Der unheimliche Brinkmann den Diskurs über den Dichter zu aktualisieren. Nun wird das Projekt weitere wohlmeinende Förderer finden, um für den Querliegenden die Skulptur zu ermöglichen.

Karl-Eckhard Carius, Vorwort

Inhalt:

Peter Handke: So fordernd die Person – so beschenkend die Gedichte

Bazon Brock: Ich bin kein Dichter – ich fühle den Schmerz – R.D. Brinkmann ließ die Fetzen fliegen wie die Buddhisten ihre Gebetsfähnchen

Michael Krüger: … Fragen hätten ihn unterbrochen

Elfriede Jelinek: Gegen jeden Sitzplatz im Gemütlichen

Marcel Reich-Ranicki: Und es wird Sie vielleicht interessieren…

Marcel Reich-Ranicki: Rolf Dieter Brinkmann: Die Umarmung

Dieter Wellershoff: In der Arena der Literatur. Über Rolf Dieter Brinkmann

Marcel Reich-Ranicki: Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr

Klaus Theweleit: Widersprüche gibt es nur in der Sprache

Brigitte Friedrich: Ihr seid doch alle scheintot hier!

Michael Töteberg: Flickers. Rough Cut Establishing Shots oder Dasein heißt Kino

Teresa Salema: Zwischen-Räume, erträumt. Schnitt-Stellen, beabsichtigt. Im Vorzimmer des Zauberlehrlings RDB mit Blick auf den Süden

Ludwig Haugk: Draußen. Der Dramatiker Rolf Dieter Brinkmann

Ralf-Rainer Rygulla: Zu den Briefen des jungen Dichters 1961 bis 1970

Jörg Schröder: Schröder erzählt: Zum harten Kern

Martin Kagel/Glenn Wallis: Wer war Han Shan? Buddhistische Denkfiguren bei Rolf Dieter Brinkmann

Viriato Soromenho-Marques: Rolf Dieter Brinkmann in Whitmans Prärie

Jan Volker Röhnert: Plädoyer für Brinkmann

Richard Wagner: Cybulski des Westens

Eckhard Schumacher: London, Schritte

Melanie Weidemüller: Plädoyer für einen Unerträglichen oder: It’s not only about Pop

Marc Wellmann: Dichterplastik. Über die Begegnung der Bildhauerei mit der Literatur – Zur Geschichte und Funktion des plastischen Dichterbildnisses

Karl-Eckhard Carius: „Ich blicke hoch und sehe*“ Zur Intention der Skulptur für R.D. Brinkmann

 

„Gegen jeden Sitzplatz im Gemütlichen“,

so charakterisiert Elfriede Jelinek in diesem Buch die Lebenshaltung von Rolf Dieter Brinkmann. Seine provozierende Denk- und Schreibweise, sein scharfer Blick sowohl auf die jeweils bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als auch auf das alltägliche Leben sind heute so aktuell wie zu seinen Lebzeiten. Hier setzt Schnitte im Atemschutz konzeptionell an, um den Diskurs über den Dichter zu fördern. Die literarische, kulturelle und politische Bedeutung Brinkmanns wird von 22 Autoren kontrovers behandelt. Unter dem Titel „Magie der Wunde – Schnitte zur Weltoperation“ setzt sich Bazon Brock mit der Ästhetik Brinkmanns auseinander, ein Beitrag von Dieter Wellershoff reflektiert dessen Konflikte im institutionalisierten Kulturbetrieb. Die innere Zerrissenheit Brinkmanns, seine subversive Kreativität und sein individueller Freiheitsdrang werden in der reich illustrierten, grafisch anspruchsvollen Publikation kongenial aufgegriffen. Der Band begleitet zugleich das Vorhaben, dem berühmtesten und gleichzeitig umstrittensten Sohn der Stadt Vechta eine Skulptur zu widmen als Zeichen für den Literaturrebellen. Die ästhetische Problematik der „Dichterplastik“ (Marc Wellmann) wird daher ebenfalls in einem historischen Exkurs erörtert.

edition text + kritik, Ankündigung

 

Wie ich lebe und warum

Rolf Dieter Brinkmann gilt als provokanter Schriftsteller, der in den sechziger Jahren anfing, intensiv die Felder Literatur und Popkultur zu mischen. Er betrieb eine Grundlagenforschung der Gegenwart, verknüpfte Pop-Bilder mit Texten und unterlief unbequem konventionelle Vorstellungen von dem, was der bundesrepublikanische Kulturbetrieb Literatur nannte. Ein Enfant terrible aus dem Underground. Im gegenwärtigen Diskurs um Pop und Literatur ist Brinkmann in immer neuen Auflagen ein subversives Juwel, das aus vergangenen aufrührerisch politisierten Zeiten, Stichwort 1968, in vorbildhafter Differenz zum Schund gegenwärtiger Pop-Literatur präsentiert wird. Gegen diese gewöhnlich gewordene Praxis tut nicht unbedingt eine relativierende Historisierung gut, die Brinkmann im Kontext seiner Zeit mit heutigen Positionen vergleicht. Schrecklich dumm sind hingegen auch Begeisterungsbekundungen im Unterschied zu literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskursen, die schlicht fröhliche Indifferenz statt akribischer Lektüre feiern. Wie die New Yorker Künstlerin Jutta Koether 1993 im Magazin Spex schrieb, können Texte von Rolf Dieter Brinkmann beim Lesen einen aktuellen Existentialismus produzieren, der die vermeintlich eigenen Lebensumstände zugunsten der Kunst produktiv in Frage stellt. Jutta Koether hatte den Foto-Essay „Wie ich lebe und warum“ aus der 1970 veröffentlichten Anthologie Trivialmythen gelesen: „Wie wir leben und warum. Gerade gestern diesen Satz als Titel einer Fotostrecke des Kölner Dichters R.D. Brinkmann gefunden; in einem alten März-Verlag-Reader. Das ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Neu-Existenzialismus. Warum will ich jetzt doch hier leben und warum mich nicht davonmachen? Ja, ich hatte mich davongemacht. Seit 1989 habe ich die wenigste Zeit meines Lebens in Deutschland verbracht. Und in diesem Jahr ganz besonders Zweifel gehabt.“ Der Essay „Wie ich lebe und warum“ besteht aus einer Serie von Fotos, die Brinkmanns nähere Lebensumgebung, das vermeintlich Private, Ende der sechziger Jahre in Köln, wie seine Wohnung, zeigen. Banal, schmuddelig, trostlos. Die Bilder zeigen einen Alltag, dessen Sinn, „warum“, den Lesern zum Geschenk gemacht wird: Da könnten sie selbst darauf kommen. Es geht nicht um die Verwandlung relativ trostlosen privaten Lebens eines Autors in Kunst; als „Fotostrecke“, Foto-Essay, verschiebt der Text die philosophisch-existentialistische Frage des Titels auf die Ebene eigensinnig künstlerischer Produktion. Das ist das „Anfangen“, der schreibende Anfang von Brinkmann, den er in den Tonbandaufzeichnungen „Die Wörter sind böse“ als etwas Schönes bezeichnet. Die kulturwissenschaftlichen, literarischen und anekdotischen Beiträge in der Anthologie Brinkmann. Schnitte im Atemschutz, die im Zusammenhang der in Vechta stattgefundenen Ausstellung Der unheimliche Brinkmann und eines Denkmalprojekts des Herausgebers Karl-Eckhard Carius steht, stellen Rolf Dieter Brinkmann aus sehr unterschiedlichen Perspektiven vor. Es gibt persönliche Erinnerungen, eine Literaturkritik, Brinkmann als dichtenden Schmerzensmann, als eine Ausnahmepersönlichkeit im Literaturbetrieb, als experimenteller Benutzer neuer Medientechniken in der Sprache, als Kölner Kinogänger und Subkulturaktivisten, als sich selbst inszenierenden Autor vor der Kamera, experimentellen Wahrnehmer, als Gegenstand von Todesnachrichten und imaginären Dichter-Körper mit Haut und Lunge. Schriftsteller wie Peter Handke, Dieter Wellershoff und Elfriede Jelinek, Theoretiker wie Klaus Theweleit, Bazon Brock, Teresa Salema und Eckhard Schumacher, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, die Fotografin Brigitte Friedrich, die Magazinredakteurin Melanie Weidemüller, der Verleger Jörg Schröder, der Spezialist für indischen Buddhismus Glenn Wallis, der Vechtaer Linguistikprofessor Wilfried Kürschner und viele mehr entwerfen ein heterogenes Bild eines außerordentlich vielseitigen Autors. Im Kontext der musealen Würdigung von Rolf Dieter Brinkmann, Ausstellung und Skulptur in der zu Lebzeiten überwiegend von ihm gehassten norddeutschen Stadt Vechta wünscht man sich beim Lesen bisweilen, der tote Autor würde sich nicht nur im Grab umdrehen und wutentbrannt neu auferstehen, sondern anders gelesen werden, als es die zur Denkmalspflege verdammende Hochkultur möchte. In diese mögliche Richtung weist nicht das grafische Design des Bandes, auch wenn es dem Muffigen von Denkmälern zu widersprechen scheint. Es sind die in der Anthologie zitierten, öffentlich gemachten schwarzweißen Autorenfotos von Brigitte Friedrich, Jens Hagen, Candida Höfer und ein Automatenfoto mit Ralf-Rainer Rygulla, die als eigener Text nicht nur einen nach normalen Vorstellungen gut aussehenden Rolf Dieter Brinkmann im Jahr 1969 abbilden, sondern auf die visuelle Performanz geschlechtlicher Ambivalenz als gegenwärtige „Arbeit“ des sogenannten Schriftstellers zeigen. Dadurch wissen diese Fotos mehr über das zukünftige, streitbare Geschlecht dieses unbequemen Autors, Stichwort heterosexueller Sexismus oder geschlechtliche Ambivalenz – Karl-Eckhard Carius’ einleitenden Begriff der „Querlage“ von Brinkmann gegen den Strich gelesen −, als die diesen seltsam schönen Körper retrospektiv einholenden sprachlichen Beiträge. Ein motivisches „Anders sehen“ und die Frage „…Was sehen Sie?“, erklärende Kapitelüberschriften aus der Anthologie, könnten Wörter von Rolf Dieter Brinkmann aus einer Zukunft sein, in der der tote Autor Rolf Dieter Brinkmann jetzt noch nicht ist.

Christopher Strunz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.3.2009

Permanente Revolte

− Der Kölner Lyriker Rolf Dieter Brinkmann, 1975 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, avancierte speziell in den letzten Jahren zu einem regelrechten „Kultautor“. Jetzt ist der Plan entstanden, ein Brinkmann-Denkmal in seinem Geburtsort Vechta zu errichten. Dokumentiert werden die Bemühungen darum in einem aufwändig gestalteten Buch, das zugleich mit Essays namhafter Berufskollegen Brinkmanns ausgestattet ist. −

Der Name „Rolf Dieter Brinkmann“ hat einen besonderen Klang. Ganz anders etwa als der Name „Born, Nicolas Born“, ein Zeitgenosse Brinkmanns, der nun ebenfalls wieder gewürdigt wird. Während man bei Born jedoch die hohe dichterische Qualität wieder entdeckt und ihm (in Gestalt seiner Tochter) posthum, lange Jahre nach seinem Tod, jene Preise verleiht, die man ihm zu Lebzeiten vorenthielt, geht es bei Brinkmanns neuem Ruhm nur nachrangig um Dichtung. Bei Brinkmann flirrt etwas mit, man denkt an Aufstand, an permanente Revolte, so weitreichend, dass sie sogar die 68er-Rebellion noch übersteigert, eine Meta-Revolte. Mit Rolf Dieter Brinkmanns Texten und deren literarischer Bedeutung hat das wenig zu tun, auch mit seiner realen Biografie nicht viel. Von allen, die ihn noch persönlich kannten, wird Brinkmann – trotz gelegentlicher sanfter Anwallungen – als ein ziemliches Ekel beschrieben, bis hin zu einem sozialen Autismus, der in seinen legendenbehafteten Tagebüchern etwa im Wunsch gipfelt, die Leute von der Straße in LKW zu sperren und die Abgase einzuleiten. Wer das nicht sieht und das verschweigt, betreibt ziemlich unverantwortliche Mythosbildung – eines Mythos nämlich, der ähnlich weit an der Realität vorbeigeht wie jener, der sich um die Gründergeneration der RAF rankt. Selbst die wissenschaftliche Rezeption, mittlerweile auf ein ungewöhnliches Maß angeschwollen, kann sich davon nicht freisprechen. Häufig ist die Frage dabei weniger, was bedeutet Brinkmanns Werk objektiv mit aller literaturhistorischer Distanz, sondern was bedeutet er als Person, was bedeutet sein Werk seinen Interpreten und Apologeten, was lesen diese da hinein, welche eigenen Süchte und Sehnsüchte projizieren sie auf Brinkmann. Vor allem scheint das jener unbestimmte Geist der Rebellion zu sein, ein generalisierender Hass auf die Welt, dem der exzessiv ver- und aburteilende Kölner Autor eine treffliche Matrix bietet. Einer wissenschaftlichen Bewertung Brinkmanns realem Stellenwert steht das natürlich im Wege. Jedoch, um das vorweg zu nehmen, der neue Sammelband Brinkmann. Schnitte im Atemschutz, zusammengestellt von Karl-Eckhard Carius dokumentiert beides: die reflexionslose Verherrlichung des Autors ebenso wie maßgebende, neue Bewertungsansätze seiner Person und seines Werks. Das Buch ist sozusagen der ästhetische Vorlauf zum geplanten Brinkmann-Monument in Vechta. Grafisch ausgesprochen schön gestaltet von Carius, Design-Professor in Vechta, und seinen Studenten. Bildtafeln mit Brinkmann-Cut-ups sind zwischen die Essays der einzelnen Beiträger gestreut. Das ist gut so, weil deren Äußerungen sehr heterogen ausfallen: winzige Sympathiebekundungen von Peter Handke und Elfriede Jelinek finden sich da, aber auch ein höchst aufschlussreiches Schreiben Marcel Reich-Ranickis, den Brinkmann seinerzeit bei einer öffentlichen Veranstaltung „bedroht“ hatte (Originalzitat: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich sie jetzt auf den Haufen schießen.“). Reich-Ranicki versagt aus diesem Grunde seine Mitarbeit, gestattet aber den Abdruck seiner damaligen Rezensionen zu Brinkmanns frühen Prosabänden, welche bei aller Würdigung des Newcomers die manifesten Bruchstellen in Brinkmanns Werk bereits klarsichtig markieren. Ein Highlight ist auch der lange Aufsatz von Dieter Wellershof, der – aus einer intimen Kenntnis Brinkmanns von den absoluten Anfängen her – in dieselbe Kerbe stößt wie Reich-Ranicki, Werk und Autor menschlich wie literarisch unvoreingenommen einordnet. Gerade die charakterliche Unsicherheit und überzogene Aggressivität des Autors müssen herausgestellt werden, um Brinkmann wieder menschlicher werden zu lassen – weniger überhöht, aber vielleicht etwas verständlicher in seinen faschistoiden Ausfällen. Bereits zu Lebzeiten auf ein kreatürliches Maß zurückgestutzt hat ihn März-Verleger Jörg Schröder. Von ihm gibt es einen nüchternen Tatsachenbericht, der Brinkmann in seiner offensiven Unbeholfenheit anschaulich macht. Neues und Spannendes bietet der Band über die Beziehung zwischen Rolf Dieter Brinkmann und dem Film (Michael Töteberg), weniger Interessantes über Brinkmanns Verhältnis zum Buddhismus (Kagel/Wallis). Eine Geschichte der Dichter-Denkmäler von Marc Wellmann bleibt in diesem Zusammenhang viel zu allgemein. Bazon Brock redet wie immer vornehmlich über sich selbst. Der Rest erschöpft sich in Hommage und Apotheose.
Dennoch: der Band hat einiges für sich, gerade in seiner inneren Unstimmigkeit: konzipiert als erstes Substrat einer geplanten Musealisierung, beweist er – durch die Widersprüchlichkeit seiner Beiträge – wie unpassend eine solche Ikonisierung im Falle Brinkmanns ist und wie sehr sie letztlich historisch scheitern muss. Das Fazit: statt Denkmäler bedürfte es einer literaturhistorischen Analyse, die das Werk von den mythischen Ranken befreit. Dazu aber wäre die Einsicht in den Nachlass erforderlich, um aus dem konkreten Material heraus Distanz zu gewinnen.

Enno Stahl, Deutschlandfunk, 21.1.2009

Rowdy, Dichter, großes Vorbild

− Rolf Dieter Brinkmann war einer der einflussreichsten und umstrittensten Dichter Deutschlands. Nun erzählen Schriftsteller von ihren Erfahrungen mit dem früh verstorbenen Autor. −

Radikal und rücksichtslos rechnete Rolf Dieter Brinkmann mit der Gesellschaft und Literatur der BRD  in den Sechzigern und Siebzigern ab. Er kollidierte nicht nur mit dem Literaturbetrieb und dem Generationsstil seiner Zeit: Brinkmann wurde zum Außenseiter, der ebenso faszinierte wie abschreckte. Vielen geriet er zum Vorbild. Der Künstler und Universitätsprofessor Karl-Eckhard Carius möchte ihm nun mit einer Skulptur ein Denkmal setzen –  in Vechta, Brinkmanns hassgeliebten Heimatstadt. Zudem gab Carius jetzt das Buch Schnitte im Atemschutz heraus, in dem Weggefährten und Freunde ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Schriftsteller schildern. In kurzer Zeit veröffentlichte der 1940 geborene Brinkmann einen Großteil seines Werks. „7 Gedichtbände, 2 Erzählungsbände, ein Roman, zwei Übersetzungen aus dem Amerikanischen, 2 Anthologien, 3 Hörspiele. Das macht 17 größere Arbeiten in 8 Jahren, und davon kann ich nicht leben.“, sagte er. Sowohl mit seinen Gedichte als auch mit seinem einzigen Roman Keiner weiß mehr leistete er formal und inhaltlich Bahnbrechendes. Die nach seinem Unfalltod veröffentlichten Text/Bild-Collagen-Bände  (Der Film in Worten, Schnitte, Rom, Blicke und das Tagebuch Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand) definierten die Begriffe „visuelle Poesie“ und „Roman“ neu. Noch vor der Veröffentlichung des Gedichtbandes Westwärts I & II wurde er im April 1975 in London überfahren und starb. Carius’ 190-seitiger Band aktualisiert die Diskussion über die Ausnahmeerscheinung im deutschen Literaturbetrieb. Namhafte Wegbegleiter und Kollegen berichten von ihren Erfahrungen. Peter Handke beschreibt Brinkmann in einem Brief an den Herausgeber wie folgt: „… der Mensch so wegweisend, sozusagen parallel zu gewissen Ästen vor einem großen Himmel, seine Sprach-Ansätze und Schwünge. Von tief innen bis ganz außen, das war  sein Wörterweg…“. „Ich bin nicht an Methoden interessiert. Ich bin am Experiment meiner Wahrnehmung interessiert“ war eines von Brinkmanns Leitmotiven, das „Fühlen des Schmerzes“ und dessen Vermittlung ein weiteres. Bazon Brock schreibt in seinem Text über die Ära Brinkmanns: „Künstler war, wer seine Defekte zur Quelle der Kreativität werden ließ“. Auf farbig unterlegten Seiten mit eigenwilligem Layout werden einzelne Thesen und Sätze Brinkmanns herausgehoben – sie waren auch Teil des Konzepts der Ausstellung Der unheimliche Brinkmann – Zeichen für einen Grenzgänger in Vechta. Elfriede Jelinek charakterisiert ihn: „Rolf Dieter Brinkmann will sich selbst immer wieder seine Leidenschaft gegen das Eingefahrene beweisen. Er will ja auch gar nicht fahren. (…) So hat dieser Dichter Schaum nicht vor dem Mund, sondern in der Lunge. Und er spuckt uns an, immer wieder ein letztes Mal, im Versinken, im Abtauchen immer vorhandener, je tiefer er kommt.“ Auch Marcel Reich-Ranicki kommt zu Wort. In einem Brief erklärt er, warum er sich nicht am Projekt beteiligen möchte. Brinkmann sei „ein ungewöhnlich ordinärer und abstoßender Mensch, er hat in aller Öffentlichkeit und sehr ernst erklärt, dass er das dringende Bedürfnis habe, mich zu erschießen.“ Dabei soll der Schriftsteller bei einem Treffen 1968 gesagt haben: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen“. Präsentiert werden im Buch auch die zwei Rezensionen, in denen Reich-Ranicki Brinkmanns Bücher Die Umarmung und Keiner weiß mehr in den Sechzigern vorstellte. Den aufschlussreichsten und genauesten Text des Bandes liefert Dieter Wellershoff, Brinkmanns Lektor bei Kiepenheuer & Witsch. Er analysiert Brinkmanns Erschrecken vor dem eigenen Spiegelbild und dessen Umgang mit Widerständen. Mit einer Anekdote von einem Gartenfest liefert Wellershoff Einsichten in die Psyche des Schriftstellers, zeigt dessen Getriebensein, seine Unsicherheiten und innere Abhängigkeiten, vermittelt, wie Brinkmann seiner Bipolarität ausgeliefert war und einige Menschen mit Provokationen und Ausbrüchen attackierte. Aus anderen Beiträgen erfährt man zudem, dass Brinkmann Autoren bei ihren Lesungen unterbrochen und gelegentlich beschimpft hat. Der Band zeigt nicht nur, wie verstörend und wichtig Brinkmann für seine Zeit war, sondern auch, dass seine Literatur und seine Ansichten noch heute hochaktuell und dringlich sind.

Carsten Klook, Die Zeit, 7.11.2008

„Alles was ich will, ist, nichts mit euch zu tun haben.“

− Karl-Eckhard Carius plädiert für eine angemessenere Würdigung Rolf Dieter Brinkmanns. −

Lange Zeit war es still um den 1975 nach einer Lesung in London überfahrenen Rolf Dieter Brinkmann. Zum 30. Todestag versuchte sein Verlag durch Neuausgaben zweier seiner Bücher noch einmal Interesse für ihn zu wecken, doch wohl vergeblich: Sein Spätwerk aus dem Nachlass ist noch immer neuwertig zu 1980er-Jahre-Preisen im Buchhandel erhältlich. Nun versucht der Künstler Karl-Eckhard Carius, das Interesse an diesem großen und vergessenen Nachkriegsdichter erneut zu wecken: Er will ihm in Vechta eine Dichterplastik errichten und hat zu diesem Zweck das Buch Brinkmann. Schnitte im Atemschutz als Plädoyer für diese herausgegeben, das eine illustre Schar von Fürsprechern Brinkmanns versammelt: Von alten Freunden wie Ralf-Reiner Rygulla, Jörg Schröder, Peter Handke oder Bazon Brock über ehemalige Kontrahenten wie Marcel Reich-Ranicki bis hin zu Elfriede Jelinek hat Carius sowohl bereits veröffentlichte, wie auch exklusive Stimmen zu Brinkmann versammelt, um dessen Verdienst für die deutsche Literatur herauszustellen. Jelinek etwa schreibt in ihrem Beitrag: „Rolf Dieter Brinkmann will sich selbst immer wieder seine Leidenschaft gegen das Eingefahrene beweisen. Er will ja auch gar nicht fahren. Im Kampf um die Verwirklichung seiner Leidenschaft erhebt sich sein Werk (und kickt sofort den Stuhl hinter sich weg), das gegen jeden Sitzplatz im Gemütlichen oder auch nur Gewöhnlichen aufbegehrt.“ Ob sich Brinkmann wohl damit gefühlt hätte, in seiner verhassten Heimatstadt Vechta eine Plastik zu seiner Person errichtet zu sehen, ist fraglich. „Nun sind die Förderer dieser prosperierenden Region angesprochen, der Kultur ihrer Kreisstadt zu einem Identifikationsobjekt zu verhelfen. Vielleicht finden die Vechtaer Bürgerinnen und Bürger auf diesem Wege doch noch zu ihrem Dichter“, schreibt Carius im letzten Artikel des Buches. Gegen jeden Sitzplatz im Gemütlichen? Pustekuchen. Denn was soll die Ehrung eines Künstlers, der wie kaum ein anderer das Alltägliche des Dichtens betont hat, der sich wie so wenige seiner Kollegen weniger als Dichter, denn als Dokumentarist seines Lebens sehen wollte? „Man kann so soviel besseres machen, als beispielsweise lange an einem Gedicht herumzubosseln – in der Stadt herumgehen, Zeitung lesen, ins Kino gehen, ficken, in der Nase bohren, Schallplatten hören, mit Leuten dumm herumreden…“, schreibt er in seinen Anmerkungen zum Gedicht „Vanille“. Diese programmatische Äußerung Rolf Dieter Brinkmanns beschreibt einen zentralen Themenkomplex seines Werkes: Das Verhältnis von Leben und Schreiben. Brinkmanns Suche nach einer neuen Form von Literatur außerhalb vorgegebener Sinnmuster, nach einer Literatur der unmittelbaren Präsenz, setzt auf Verwendungsweisen von Sprache, die auf die tagtäglich zu machende sinnliche Erfahrung reagieren und abzielen. Diese festzuhalten, in Literatur zu überführen und so die Grenzen zwischen dem Leben – der Wahrnehmung der Realität – und dem Schreiben – der Darstellung des Wahrgenommenen – zu verwischen, zieht sich als roter Faden durch das Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Ihm geht es um die Spontaneität, eine sich nur in einem Augenblick deutlich zeigende Empfindlichkeit als Schnappschuss festzuhalten. „Man braucht nur skrupellos zu sein, das als Gedicht aufzuschreiben. Wenn es dieses mal nicht klappt, wirft man den Zettel weg, beim nächsten mal packt man es dann eben, etwas anderes“, notierte er einmal. Brinkmanns Intention besteht darin, die Position des Künstlers in der Gesellschaft zu untergraben, und durch die bewusste Einbeziehung von Alltagsbeobachtungen und Gebrauch von Mitteln der Trivialliteratur – Pornografie, Western und Science Fiction, wie es der von Brinkmann hochgeschätzte Leslie A. Fiedler in seinem berühmt gewordenen Aufsatz „Cross the border – close the gap“ vorgibt – gleichzeitig eine Vereinnahmung durch den Kulturbetrieb zu verhindern. „Underground bedeutet zunächst einmal ein allgemeines Verhalten – ein persönliches Verhalten, das sich abgesetzt hat von dem Verhalten der älteren Generation, die eben permanent sich selbst repräsentieren kann, ein Establishment repräsentieren kann. Und man hat sich davon abgesetzt und geht seine eigenen Wege“, sagte Brinkmann in einem Interview. Denn nur unabhängig vom verhassten Kulturbetrieb sah Brinkmann die Möglichkeit, aus eingefahrenen Strukturen und der Befangenheit, in nationalen Räumen zu denken, auszubrechen. Die Kritik an der Idee einer Plastik spricht jedoch nicht gegen Schnitte im Atemschutz. Wenn man diesen Anspruch und auch die dazugehörigen Artikel ausklammert, findet man in dem Sammelband einige interessante Stimmen und Ansätze zu Werk und Leben Brinkmanns versammelt, die vielleicht zumindest eines bewirken – dass er mal wieder gelesen wird.

Jonas Engelmann, literaturkritik.de, Februar 2009

 

 

Ihr nennt es Sprache: Rolf Dieter Brinkmann – Zum Todestag von Rolf Dieter Brinkmann lasen am 22.4.2010 Hans Christoph Buch, Matthias Göritz, Günter Herburger, Stephan Turowski in der Literaturwerkstatt Berlin. Die Moderation hatte Jan Röhnert.

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

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Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA

Nachrufe auf den Autor:

Dieter Wellershof: Alleinsein ist wie ein Gas, das ausströmt
Kölner Stadt-Anzeiger, 26./27.4.1975

Hans-Bertram Bock: Der Tod in Londons City
Nürnberger Nachrichten, 26./27.4.1975

Marcel Reich-Ranicki: Aber ein Poet war er doch
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.4.1975

Wolf Wondratschek: Er war too much für euch, Leute
Die Zeit, 13.6.1975

Günter Herburger: Des Dichters Brinkmann Tod
Die Zeit, 13.6.1975

Zum 25. Todestag des Autors:

Alex Rühle: Die Welt als Rohmaterial
Süddeutsche Zeitung, 15.4.2000

Werner Olles: Unstillbare Sehnsucht
Junge Freiheit, 21.4.2000

Zum 30. Todestag des Autors:

Peter Henning: „Ich bin ein Dichter!“
Basler Zeitung, 23.4.2005

Ulrich Rüdenauer: In ein anderes Blau
literaturkritik.de, Nr. 5, Mai 2005

Ulrich Rüdenauer: Der große Außenseiter
Deutschlandfunk, 13.4.2005

Theo Breuer: Mein Rolf Dieter Brinkmann ist eine Fiktion
titelmagazin.com, 22.4.2005

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Markus Fauser: Er war kein Urvater des Pop
literaturkritik.de, 1.4.2015

Theo Breuer: Flickenteppich · Blicke auf Brinkmann
poetenladen.de, 14.4.2015

Jens Uthoff: Der Wortvandale
die tageszeitung, 16.4.2015

Stefan Lüddemann: James Dean der deutschen Literatur?
Neue Osnabrücker Zeitung, 15.4.2015

 

Rolf Dieter Brinkmann – Keiner weiß mehr. Ein Porträt.

4 Antworten : Karl-Eckhard Carius (Hrsg.): Brinkmann. Schnitte im Atemschutz”

  1. Gerd Brunner sagt:

    Eine lange Beschreibung zum Dichter/Schrifsteller
    Brinkmann, das Gedicht das ich heute bei srf2 hören
    wollte (ich kam zuspät) konnte ich hier nicht lesen,
    nur Ansätze.

  2. Viele weitere Materialien und Stimmen zu Werk und Wirkung von Rolf Dieter Brinkmann finden Sie auf meinem Blog “Das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums” (www.brinkmann-wildgefleckt.de). Aktuell mit neuen Beiträgen aus Anlass des 80. Geburtstags des Autors am 16. März. Die Seite existiert seit 2015, als begleitende digitale Visitenkarte zu meiner gleichnamigen wissenschaftlichen Studie über Brinkmann (Königshausen & Neumann 2015, alle Infos dazu und Leseproben online). Schauen Sie mal vorbei, der Besuch lohnt sich.

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