DAS HINDERNIS DES LEBENS
Das Hindernis des Lebens −
eine beiläufige Notiz Kants.
Man muß auch heute noch
mit bürgerlicher Melancholie rechnen.
In die Nähe von Gärten
gehört der Augenblick der Phantasie:
ein Tulpenbeet, eine Terrasse
mit Mandelbäumen,
während Handlungshemmung
sich fortsetzt.
Schmerz und Gegenschmerz −
mein Herz habe ich allein,
schreibt Werther, wie man
seine konstitutionelle Depression
behält oder
der Einbruch der Nacht
eine Aufhebung von Ordnung
bewirkt.
Die Gesammelten Gedichte 2 wurden zu Karl Krolows sechzigstem Geburtstag vorgelegt. Der Band faßt die Gedichte der Jahre 1965 bis 1974 zusammen – das Veröffentlichte und das neu Entstandene – und schließt sich so an Band 1 der Gesammelten Gedichte an, die 1965 erschienen. Diese Kontinuität der Publikation fügt sich Karl Krolows kontinuierlicher Arbeit.
Suhrkamp Verlag, Ankündigung
1965 erschien der erste Band von Karl Krolows Gesammelten Gedichten. Die Kritik nutzte damals diese umfangreiche Auswahl zu einer ausführlichen Analyse des Stilwechsels. Übereinstimmend stellte man eine zunehmende Intellektualität und wachsende Artistik sowie eine rasche und äußerst sensible Wandlungsfähigkeit fest. Allgemein wurden drei Hauptphasen beobachtet: Man trennte eine bis ca. 1948 reichende naturlyrische Strömung von einem „barocken“ Abschnitt, der unter dem Eindruck der absoluten Metapher der Surrealisten steht. Für die späten fünfziger Jahre konstatierte man eine Dämpfung von Stoff und Bild und eine „erfinderische Lust an allerlei Methoden der Geometrisierung, der Mechanisierung und Verkünstlichung der irdischen Erscheinungen“ (Holthusen).
Der im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte zweite Band der Gesammelten Gedichte bietet Anlaß, eventuelle neue Wandlungen in der Entwicklung Krolows festzustellen und zu kommentieren. Die Sammlung umfaßt Gedichte von 1962 bis 1974. Die rund 350 Texte, von denen ca. 60 bislang in Buchform unveröffentlicht waren, stammen somit aus einem Zeitraum, in welchem die lyrische Gattung abgewertet und das abstrakte Gedicht der Nachkriegsära als elitäre „Chinoiserie“ (Höllerer) einer heftigen Kritik unterzogen wurde. Der Band dokumentiert, daß Krolow zunächst seine gemäßigt surrealistische Lyrik fortsetzt; 1967/68, auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen, zeichnet sich ein Wechsel ab. Die Gedichte werden alltäglicher, die zierlichen Bilder und erlesenen Details sind aufgegeben.
Repräsentativ für die Entwicklung bis 1967 ist ein Gedicht wie „September“
September lehrt
den Wind das Vögelfangen.
Mit fliegendem Haar
trägt ersie südwärts,
während über Tischen
Apfelmost verdunstet.
Behutsame Energie
macht keine Umstände
beim Ernten von Früchten
und Augenpaaren.
In der Ferne
strohblumenleichte Stimmen
streiten mit dem Horizont.
Geometerziehen Linien
durch die erfrischte Luft.
Die Verben (lehren, davontragen, verdunsten, streiten, ziehen) verleihen dem kleinen Gedicht einen ruhelosen Charakter. Trotz der Schnittbildtechnik kommt keine Umrißschärfe der Details auf, da Krolow – im Unterschied zu William Carlos Williams – die Dinge nicht für sich stehen läßt, sondern miteinander verwebt. Die beiden Personifikationen am Eingang sind noch dem Dekor der älteren Idyllendichtung verpflichtet; die dicht nebeneinander aufgerufenen Früchte und Augenpaare und die am Horizont streitenden Stimmen erweitern das Gedicht um eine surreale Komponente.
Die Verwischung des räumlichen Nebeneinanders findet in der Eleganz der Wortwahl ihre Entsprechung. Krolow arbeitet z.B. nicht nur mit der optisch eindrucksvollen Silhouette der Geometer, er versucht auch, den Wortklang für das Septemberliche aufzuschließen. „Geometer“ assoziiert den Eindruck des Kühlen, Klaren, Künstlichen, der durch die Evokation der „erfrischten Luft“ noch zusätzlich verstärkt wird. Solche kühlen Epiphanien sind überaus häufig; sie markieren die Gegenwelt zur irdischen Schwermut und Trauer. Es geht Krolow dabei nicht mehr um die metaphysisch motivierte möglichst genaue Wiedergabe der sinnlichen Eindrücke, wie den Naturmagikern, noch um die psychologische Tiefenperspektive, das Hervorheben des „inneren Abgrunds“, wie den Surrealisten, sondern um den gesuchten, überraschenden Effekt. Literatur ist für ihn „ein einziger Spielraum“ und – mit Holthusen – „ein poetisches Kaleidoskop“, das sich bei jeder Drehung zu neuen phantastischen Figuren umgruppiert. Dennoch zeichnet sich ein Gedicht wie „September“ bereits durch eine gewisse Mäßigung aus: Die früher bevorzugten scharfsinnigen und witzigen Concetti (Herbstlaub = „Feuersnot eines Blätterhauses“) und die Entlegenheitsmetaphorik („Licht raschelt im Spalier – eine exotische Schlange“) sind nahezu ganz ausgemerzt. Von einem „freien, ja schrankenlosen Aufeinanderbeziehen aller Details“ kann keine Rede mehr sein. Das Spielerische ist stets sachbezogen; die Jahreszeit bietet den konkret vorstellbaren Rahmen, in dem sich die Einzelheiten trickhaft aufeinander zu bewegen können.
Zu dieser graziösen Vexierpoesie gehört ein spielerischer Umgang mit literarischen Vorbildern. In der Wind-Personifikation des Septembergedichts blitzt noch einmal die Naturlyrik Lehmanns auf, bei dem der Südwind als Verführer erscheint, der die Herbstblätter auf seinem Arm davonträgt; die letzten beiden Zeilen erinnern an die „mathematische Mystik“ Guilléns und an seine Technik, durch Begriffe wie „linea“, „circulo“, „redondo“ und „geometría“ Konturen, Formen und Farben von den Körpern der Dinge zu abstrahieren. Artur Rümmler hat kürzlich umfassend die Metaphorik Krolows von 1942 bis 1962 analysiert (Bern/Frankfurt 1972) und zahlreiche Identitäten in Wortwahl und Bildlichkeit mit der deutschen Naturlyrik sowie dem spanischen und französischen Surrealismus nachgewiesen. Es handelt sich bei diesen von Rümmler entdeckten Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten keineswegs um Plagiate, da die Literatur für Krolow stets überindividuelles Spielmaterial darstellt, das neu kombiniert und zu „Objekten intellektuellen Vergnügens“ arrangiert werden kann. Der Autor des von Krolow bevorzugten Gedichttyps tritt nicht als Priestermagier auf, sondern als „maître de plaisir“. Solche immer wieder vorgebrachten Charakteristiken werden häufig übersehen. Eine Identifizierung seiner Lyrik mit der hermetischen Poesie Celans und Eichs muß daher stets zu falschen Ergebnissen kommen.
Eher fällt eine Affinität zur Literatur des 18. Jahrhunderts auf, mit der von Krolow wiederholt gerühmten „Grazie, Rationalität, Helligkeit und Bewußtseinsverfeinerung“. Die Neigung des Lyrikers zum Kleinen, Leichten und Antipathetischen und die Dämpfung der surrealistischen Stilbewegung zum Gefälligen und Graziös-Erotischen rückt ihn in eine Wahlverwandtschaft zur galanten Poesie des Rokoko, die sich ebenfalls in der kultivierten „Nachahmung“ gefiel und die lediglich „kleine“ und „bescheidene“ Lieder hervorbringen wollte. Das Sanfte und Muntere steht dabei oft in Beziehung zu einer negativen Welterfahrung, die bewußt ausgeklammert wird. „Von Waffen und von Haß umgeben, / Sang ich von Zärtlichkeit und Ruh“, schreibt Weiße. Bei Lessing, der die erste Sammlung seiner Lieder mit einem Hinweis auf Catull „Kleinigkeiten“ nennt, finden wir wie bei Gleim und Jacobi die Neigung zur „kleinen Manier“ und den Widerwillen gegen alles Pathetische. Jacobi hebt das spielende, mühelose Produzieren hervor, er nennt sich den „kleinen Sänger kleiner Lieder“ und preist die „kleinen Sylben […] leicht und ungezwungen“.
Verwandte Formulierungen finden wir bei Krolow. Er spricht sich für das Überschaubare in der Literatur aus, für „alltägliche Vorgänge, Kleinigkeiten, etwas, das unbemerkt verläuft, gleichwohl da ist […]. Die großen Ideen, die eine Epoche bestimmten und mitunter verheerten, waren mir als Themenkreis nicht geheuer.“ Zahlreiche Epitheta, mit denen er in seinen Essays und Kritiken der fünfziger und frühen sechziger Jahre das gelungene Gedicht charakterisiert, könnten auch zur Kennzeichnung der galanten Poesie herangezogen werden. Ein Gedicht soll „zierlich“, „zart“, „liquid“, „graziös“, „intim“, „leicht“ sein, ferner „vergnügt“, „keck“, „spielerisch“, „schmal“, „federnd“, „bündig“, „luftig“, „leuchtend“, „kurz“, „diskret“ und „durchlässig“. Der für die galante Lyrik in Frankreich gebräuchliche Terminus „vers de société“ („Gesellschaftslyrik“) als Antithese zur Erlebnisdichtung erhellt auch Krolows Gedichttyp. Der witzige Einfall („belle esprit“), das schön arrangierte Naturgedicht, die sanfte Ironie sind darauf aus, das Publikum nicht zu verletzen, sondern seinen Geschmackserwartungen möglichst zu entsprechen. („Mit scharfem Stachel sticht das Bienchen und der Igel, ich aber steche nicht mit meinem Sinngedicht“ – Gleim.)
Eine solche Dichtung braucht einen gesellschaftlichen Rahmen; der Rokokolyriker entwirft seine Arbeiten zielgerichtet für Almanache, Taschenbücher, Blumenlesen, Zeitungen. Ähnlich verhält es sich bei Krolow. Zahlreiche seiner Texte sind aus einem bestimmten jahreszeitlichen Anlaß heraus geschrieben und in Anthologien, Zeitschriften, vor allem jedoch in der Tagespresse zuerst publiziert worden. Das Gedicht „September“ erschien z.B. am 5.9.1964 in der Gießener Freien Presse. Die Übereinstimmung des Gedichtgegenstandes mit dem Veröffentlichungsdatum ist beabsichtigt: Krolow hat, wie die Bibliographie von Rolf Paulus (Frankfurt 1972) zeigt, mehr als fünfhundert solcher Zeitungsgedichte geschrieben, nicht alle sind in die Bände aufgenommen worden. Allein bis 1945 druckt die Presse ca. 50 Gedichte mit zumeist landschaftlicher bzw. jahreszeitlicher Thematik. Erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre nimmt die Produktion dieser Texte ab.
In Zusammenhang mit der veränderten Bewußtseinslage in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre setzt bei Krolow abermals eine thematische und stilistische Neuorientierung ein. Er entwickelt nun einen Empirismus des Körpers. „Ich versuche, / mich zu vergewissern, / daß ich vorkomme“, heißt es in dem programmatischen Gedicht „Sich vergewisseren“ aus dem Jahr 1967. Polemisiert der Lyriker noch 1962 gegen den „Individualballast“ und gegen eine „Umschlingung von Pathos und Dunkel, Schwermut und Vereinzelung“, ist jetzt ein gewisses Eingehen auf private Erfahrungen und innere Konflikte festzustellen. In zunehmendem Maß wird die „intellektuelle Heiterkeit“ mit Resignation, Verdruß und einer zuweilen „aggressiven Melancholie“ vertauscht. Deutlich wendet sich Krolow gegen die Phantastik („früher ein Mittel, nicht gesehen zu werden“) und spricht demgegenüber von „subjektivem Empfinden / von Schmerz in der linken Körperhälfte“, von der „Nähe des Todes“ und dem „wirklichen Leben“.
Selten noch erscheint die „schön belichtete Landschaft“, öfter die vernutzte und verdorbene Umwelt voll „einförmiger Häuser / unter einem Himmel mit lauter / chemischen Flecken“. Krolow distanziert sich von der Bukolik („Das Haus, in dem ich lebe) / wird kälter. / Ich gebe es auf, / die Jahreszeit zu beschreiben“) und scheut sich nicht, von der Sexualität zu reden („Auf und nieder, sein Körper, / sein Bauch, sein / Glied in ihrem Bauch“). Auch als Vokabel hält das Ich einen vehementen Einzug. In den sechsundvierzig Gedichten des Bandes Landschaften für mich (1966) ist es lediglich viermal vertreten; in den neunundfünfzig neuen, noch in keiner Sammlung aufgenommenen Texten von 1972/74 kommt das Wort sechsundvierzigmal vor.
Nicht nur die scharfsinnige Metapher und die graziöse Personifikation sind zurückgedrängt, überhaupt alles Zärtlich-Doppelbödige, zuweilen herrscht ein räsonierender, geradezu trockener Ton. Krolow gibt die Gliederung in Strophen auf; der schon früher in seine Lyrik eingezogene Prosageist verstärkt sich. Die Sprache wird zeitgemäß salopp, genau berechnete umgangssprachliche Partikeln („wie sonst“, „Hitze wie üblich“, „so so, hier bin ich“) und Amerikanismen („beautiful“, „sweet and lovely“) führen zu einer noch weitergehenden Auflösung des Poetischen:
Mach’ noch einmal
den Mund auf, ehe
etwas dazwischen kommt
und jemand zuschlägt. Dann
ist es zu spät. Gewöhnlich
hat man genug. Aber noch
ist es nicht so weit,
shut up und so, noch
nicht, du kannst wirklich den Mundauftun.
Ein einfaches Lied
hat etwas Offenes
wie ein Fenster,
das auf irgend etwas
sehen läßt, an das man
sich schnellgewöhnt.
(„Einfaches Lied“)
Krolows neue Gedichte kommen mit wenigen Wörtern aus, sie verzichten fast ganz auf Metaphern und poetische Detailausschnitte; in „Einfaches Lied“ erinnert lediglich ein Wie-Vergleich an die frühere Schmucktechnik. Die häufigen Zeilenbrechungen folgen weder einer rhythmischen noch syntaktischen Notwendigkeit, sie zerteilen die wenigen Prosasätze in kleinste Energiepartikeln und betonen damit das Mechanische eines Bewegungsablaufs. In Zusammenhang damit steht – analog zur Umgangssprache – eine Bevorzugung von Abstrakta und eine Reduktion auf gewisse Grundphänomene des Lebens wie gehen, berühren, singen, lieben und sterben. Eine solche physische Dimension der Sprache variiert u.a. Ergebnisse der Lyrik Robert Creelys, dessen Gedicht „Enough“ Krolows „Einfaches Lied“ beeinflußt haben mag und das in der 1967 erschienenen deutschen Übersetzung von Klaus Reichert lautet:
Eins
ums andre
kommt
die form. Ein
ding folgt
einem andern. Eins
und eins,
und eins. Mach
ein bild
für diewelt
die kommt. So
wird es kommen.
Es handelt sich bei Krolows Neuorientierung – ähnlich wie bei der naturlyrischen, surrealistischen und poetisch-dadaistischen Phase – wiederum um einen überindividuellen Stilwechsel. Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre propagiert vor allem die junge deutsche Lyrik, soweit sie sich von der konkreten Poesie und dem politischen Gedicht abzusetzen versucht, unter dem Eindruck von William Carlos Williams, Robert Creely und der amerikanischen Pop Art eine neue Unmittelbarkeit. („Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen“, Rolf Dieter Brinkmann.) Man bevorzugt einen durch Klarheit gekennzeichneten Stil, eine an der gesprochenen Sprache orientierte, sich in ständiger Bewegung haltende Diktion, die sofort verständlich ist und auf bewußte oder unbewußte Verrätselung und Verdunkelung verzichtet. Was nicht natürlich ist und nicht mit der Empirie übereinstimmt, wird verworfen. 1967, im selben Jahr, in dem Krolow seinen Text „Sich vergewissern“ konzipiert, schreibt Handke seine „Neuen Erfahrungen“, mit denen er die neodadaistische Collagetechnik überwindet und körperliche Grunderfahrungen wie Scham und Todesangst in seine Dichtung integriert. Ebenfalls 1967 veröffentlicht Brinkmann seinen Band Was fraglich ist wofür mit dem zentralen antisurrealistischen Gedicht „Einfaches Bild“, Nicolas Born publiziert seine Sammlung Marktlage und Jürgen Becker schreibt seine ersten „privaten“ Gedichte („Momente“, „Gedicht aus Köln“). An diesem 1967/68 einsetzenden Empirismus mit seiner fluktuierenden Sinnlichkeit hat Krolow somit produktiven Anteil, zumal der von den Amerikanern geforderte Verzicht auf Psychologie und Bedeutung zugunsten des Augenblicks und des „Glücklichseins im Zentrum der Dinge“ (Frank O’Hara) seiner Grundkonstellation entspricht.
Von den exzessiven Tendenzen des „Neuen Realismus“ mit seinen langen Gedichten und den wuchernden Trivialstoffen grenzt er sich allerdings ab. Auf die krasse Schreibart und die ungehemmte Stoffülle reagiert er mit „Entfernung, Distanz“ und mit „ironischer Fixierung“. Es geht ihm darum, den niederen Stil und die alltäglichen Materialien in einer ähnlich proportionierten Weise auszubalancieren wie seinerzeit die surrealistischen Traumbilder. In einer Selbstinterpretation des Gedichts „Sich vergewissern“ schreibt Krolow:
Einiges ist unverändert geblieben: Das Momentane, das Widerrufbare, das Zögern im Erscheinen und eine Art Furcht, zuviel Aufhebens von diesem Erscheinenzu machen. Es ist nichts von einem In-Szene-Setzen zu erkennen.
Es wäre in der Tat verfehlt, Krolows neue Gedichte als Bekenntnisse oder Ich-Protokolle zu verstehen. Das Spielerische und Anonyme, das Interesse an „Schönheit, Proportion“ sind nach wie vor dominant. Nur, daß die Mechanik eine körperliche geworden ist und daß sich die Melancholie, die einst die heiteren Schwebebildchen hervorbrachte, zuweilen unmittelbarer ausspricht.
Hans-Dieter Schäfer, Neue Rundschau, Heft 2, 1975
– Zu seinem 60. Geburtstag am 11. März erschienen Karl Krolows Gesammelte Gedichte 2. –
Karl Krolow, obwohl er aus dem Lager der sogenannten Naturmagier stammt, lässt sich keinesfalls als Repräsentant der naturlyrischen Schule oder aber als Erbe deutscher Landschaftspoesie im weiteren Sinne verstehen. Krolow ist ein Dichter, der, ähnlich wie Rilke, weit über die Grenzen des Nationalsprachlichen hinausweist. Man kann sein Wesen und seine Bedeutung nur erfassen, wenn man ihn in grösseren kulturellen Zusammenhängen, speziell im Kontext des Romanischen, sieht. Zwar stand Krolow mit seinen – relativ unbedeutenden – Anfängen im Einflussschatten von Lyrikern wie Wilhelm Lehmann und Elisabeth Langgässer. Er selber aber hat sich, nach einer Zeit der stilistischen und thematischen Adaption, nicht ohne einen gewissen Nachdruck von seiner geistigen Ausgangswelt distanziert:
Unsere Natur- und Landschaftslyrik… blieb oft stoffbenommen, stoffbetäubt. Ich versuchte – über die Jahre hin – den Worten grössere Leichtigkeit und mit ihr grössere Beweglichkeit zu verschaffen und der Zeichenhaftigkeit, der Chiffrenkunst eine Kunst der singbaren Formel einzuverleiben, der ,präzisen Zeichenlehre‘ ,mathematisches Entzücken‘ beizugeben, die geometrische Klarheit, die algebraische Sicherheit.
Etwas von der handwerklichen und essentiellen Oekonomie, die Krolow für seine Poesie benötigte, fand er bereits in der „optischen Klarheit und Wahrnehmungs-Zartheit“ Lehmanns. Doch die entscheidenden Anregungen, die ausschlaggebenden Impulse suchte der Dichter anderweitig: jenseits der Sprach- und Landesgrenzen, im Umkreis der französischen und – zunehmend – auch der spanischen Literatur:
Das deutsche Gedicht unseres Jahrhunderts hat vorwiegend – auch vor 1933 – von seinen eigenen Artikulierungsmöglichkeiten, Aeusserungsweisen gezehrt. Das war eine Art freiwilliger Isolation.
Zwar kannte und nützte Krolow früh die Kontakte zur ausserdeutschen Lyrik, die von so verschiedenartigen Autoren wie George, Rilke, Trakl und Brecht hergestellt worden waren. Doch weder diese Uebertragungen noch die Eindeutschungen durch Philologen vermochten, jene „merkwürdige Inzucht“ zu beseitigen, die das poetische Leben seit Jahrzehnten charakterisierte. So nahm denn Krolow die allgemeine Rückständigkeit im lyrischen Bereich als eine persönliche Herausforderung an und begann eine eigene Nachdichtungstätigkeit, die ihn peripher mit englischer und amerikanischer, vor allem aber mit französischer und spanisch-sprachiger Poesie in Verbindung brachte.
Das Uebersetzen war ein Prozess, von dem der Lyriker in mehrfacher Hinsicht profitierte. Es gestattete ihm nicht nur, der deutschen Literaturszene mit ihren lastenden Traditionen und ihrer provinziellen Begrenztheit zu entkommen; es ermöglichte ihm auch, intuitive Schritte der Selbstkonfrontation, der Annäherung an schwer zugängliche Gefühlslagen sowie an bisher unbekannte Sprechweisen zu unternehmen. Krolow war allerdings keinesfalls der einzige, der nach Kriegsende Ausschau nach den poetischen Neuigkeiten unserer kulturellen Nachbarn hielt. Doch geriet niemand so sehr „in einen Rausch des Uebersetzens“ wie er – aus Gründen, die vor allem in seinem Naturell lagen. Krolow, der Norddeutsche, der geborene Hannoveraner, war von Anfang an ein extrem scheuer und diskreter Poet, der gewissermassen zwangsläufig alles Subjektive und Private aus seinen lyrischen Arbeiten ausklammerte. Da kamen ihm die fremden Temperamente und Regungen, denen er beim Uebertragen begegnete, als evozierende Kräfte entgegen. Sie gestatteten ihm, in sich selber Verborgenes aufzuspüren und abgespaltene Empfindungskomplexe dem lyrischen Ich und damit dem personalen Subjekt zu integrieren. Durch die anderssprachigen Worte, die neuartigen Satzverbindungen und die frappierend unbekannten Metaphern-Kombinationen wurde der Dichter sensationiert und phasenweise an das Zentrum seiner schöpferischen Sensibiliät herangeführt:
Der Vorgang des Uebersetzens ist für mich immer ein sinnenhafter Vorgang gewesen. Man kommt unversehens dem anderen Stoff, dem fremden Körper, seiner eigentümlichen Beschaffenheit nahe, ich möchte sagen: beängstigend nahe!
Dass Krolow die Annäherung an den zu übersetzenden Dichter als beängstigend empfindet, dass er den Arbeitsvorgang verbalen Transponierens als etwas Affektives erlebt, zeigt, mit welch wünschelrutengängerischer Genauigkeit er in der fremden Persönlichkeit eigene Wesenszüge sucht – sozusagen deckungsgleiche Partikel aus dem (individuell unerschöpflichen) Vorrat kollektiver Bilder.
Bei so verschiedenartigen Dichtern wie Eluard, Apollinaire, Supervielle, Reverdy, Soupault, Follain oder anderseits Lorca, Jorge Guillén, Alberti Diego, Altoiaguirre usw. begegnete Krolow bis ins Kleinste durchgegliederten Texten, wie man sie im Umkreis der deutschen Lyrik damals noch nicht antreffen konnte und wie sie erst allmählich von ihm selber sowie von Günter Eich, Paul Celan und einigen anderen entwickelt wurden. Dass die fremdsprachige Poesie letztlich nur Stimulanz sein konnte, dass sie lediglich eine Fülle von Mustern bereit zu halten vermochte, aus der ein eigener Stil noch zu erschaffen war – daran hatte Krolow, der ständig Wandlungsbereite und Aenderungsfähige, vom Beginn seiner Experimente an keinen Zweifel:
Es gibt keine Flucht ins fremde Wort! Aber es gibt Fluchtversuche, Fluchtgesten, Bewegungen auf diese Flucht zu, von der man nicht zurückkäme, wenn sie gelänge.
Das völlige Eintauchen in die Sphäre einer anderen Sensibilität wäre das Ende aller Selbstfindung gewesen.
Bezeichnenderweise lässt Krolows Interesse am Uebertragen von Poesie in dem Masse nach, in dem er sich selber lyrisch realisiert. Die fremde, die andersartige (Bild-)Dichtung war für ihn nur solange ein unentbehrliches Hilfsmittel, wie er dem eigenen Ich als etwas Fernem, fast Unerreichbarem gegenüberstand. Als er nach seiner „hochmetaphorischen“ Phase von Fremde Körper (1959), Unsichtbare Hände (1962) und in gewisser Weise auch noch Landschaften für mich (1966) in ein Stadium niedriger frequentierten Redens trat und beinahe programmatisch Alltägliche Gedichte (1968) zu schreiben anfing, war auch die Lust am Uebersetzen verschwunden. Der Dichter verkehrte jetzt nicht mehr auf dem Um-Weg über fremde Spruch-Körper mit seinem Unbewussten. Vielmehr projizierte er seine Empfindungen mittlerweile vorsätzlich auf die Objekte seiner realen Umwelt. Und was stilistisch als eine Senkung der Sprach-Amplitude, als ein Zugriff auf gewisse small-talkhafte Wendungen der jungen Amerikaner, aber auch deutscher Autoren (etwa Dieter Brinkmanns) in Erscheinung trat, das entsprach auf personaler Ebene dem Umstand, dass Krolow sich selber nun als konkretes Objekt fassbarer lyrischer Aussagen verstand:
…
ich besehe Bilder
von früher und lese,
dass es das gab,
während ich mir Neues
merken muss
…
und mich mit mir
neu einrichte, ohne Bilder,
kunstlos, ohne Jahreszeiten,
mit an den Beinen
hoch kriechender Kälte,
selber ein Stück
trockener Landschaft,
noch sichtbar.
Dieses für den späteren Krolow sehr typische Textbeispiel findet sich in dem 1969 geschriebenen Gedicht „Landschaflen, früher“, das in der Sammlung Nichts weiter als Leben (1970) steht. Zwar wäre es falsch, den Krolow der letzten Stilphase als gänzlich abgegrenzt von dem Krolow metaphorischen Redens anzusehen. In Nichts weiter als Leben heisst es einmal ausdrücklich:
Phantasie, immer noch
mächtiger als Gewissen.
Doch lässt es sich gar nicht ignorieren, dass der Imagination jetzt eine viel geringere Funktion zukommt als in der Zeit, in der Krolow seiner Umwelt die Lichter der Eingebungskraft aufsteckte und alles Sichtbare von einem ungeheuren visuellen Hunger plündern liess:
Der Vorrat an Augen
reicht nie aus.
Krolow vollendete seine lyrische Emanzipation, zu der er sich lange, nicht zuletzt durch seine Uebersetzungen, disponiert hatte, 1955 – möglicherweise nach einer Annäherung an die dadaistischen Kobolde Hans Arps, die gleichermassen eine sprachliche Auflockerung und eine intellektuelle Erfrischung bewirkten und die Krolow in die Lage versetzten, seiner Schwermut mit selbstironischer Heiterkeit zu begegnen:
Es ging ein stilles Leuchten
Von ihm aus.
Das machte die Glühbirne,
Die er im Munde trug.
1955 ging Krolow endgültig daran, „In seinem Leben einige Veränderungen / Mit Hilfe der Phantasie vorzunehmen“. Und hierbei war ihm nichts so sehr von Nutzen wie gewisse Fertigkeiten, die er im Umgang mit moderner französischer und spanischer Poesie erworben hatte. Welch langer und mühseliger Weg von dem Dichter zurückgelegt werden musste, bis er sich mit Hilfe eines völlig eigenen Instrumentariums ausdrücken konnte, weist Artur Rümmler in seiner Dissertation Die Entwicklung der Metaphorik in der Lyrik Karl Krolows (1942–1962) nach. In dieser – allerdings lediglich auf sprachliche Phänomene und Prozesse fixierten – Untersuchung wird dargelegt, wie nach und nach aus tradierten Naturmetaphern aggressive „expressionistische“ und sodann surrealistische Metaphern wurden, die sich ihrerseits ständig weiter differenzierten, bis schliesslich, nach 1959, „die betont intellektuelle Metapher mit der Tendenz zum Unmetaphorischen“ zur Verfügung stand, so dass nun auch Bereiche und Zustände beschreibbar wurden, die ausschliesslich der Einbildungskraft entstammten:
Fernes Land, in dem
Himbeeren durch die Luft fallen
und Männer mit leeren Bienenkörben
die Kirchenstille einfangen.
Besonders durch seinen Umgang mit den modernen spanisch-sprachigen Dichtern hatte Krolow sich poetische Verfahrensweisen erarbeitet, die ihn befähigten, seine Empfindungen und Vorstellungen minuziös abzubilden. Freilich darf man nicht ausser acht lassen, dass Krolows Aehnlichkeiten mit den Poeten der sogenannten 27er Generation mehr von konstruktiver, von technischer als von emotionaler und wesensmässiger Beschaffenheit sind. Autoren wie Rafael Alberti und vor allem Federico García Lorca waren – zumindest in ihren typischen Anfängen – noch wesentlich vom spanischen Volksgut affiziert. Und wenn sie auch artistisch bereits Anschluss an die Erfahrungen der internationalen Moderne besassen, so liefen ihre Intentionen doch, ähnlich wie die Bestrebungen der älteren Popularisten Antonio Machado und Juan Ramon Jiménez, auf Erneuerungsversuche lokaler, aber geschichtstieferer Traditionen des spanischen Südens hinaus. Sogar ein Vergleich mit Guillen ist nur bedingt zutreffend. Denn wenn Krolow diesem lyrischen Geometriker aus Valladolid auch die Fähigkeit zur Verräumlichung seiner Gefühle verdankt, so trennt ihn von ihm doch sein Verlangen, sich mit dem Phänomen der Zeitlichkeit auseinanderzusetzen, ein elementares Bedürfnis, das Krolow schon immer besessen hat, wenn es auch erst im Titel seines 1972 erschienenen Bandes Zeitvergehen leitmotivisch thematisiert wurde.
Krolow, der gegen explizite „Bedeutungen“, gegen stoffliche Schwerpunktbildungen votierte, glich in seiner hochmetaphorischen Periode in mancherlei Beziehung Vicente Huidobro, jenem chilenischen Dichter, der – via Paris – 1918 seinen creationistischen Schreibstil nach Madrid gebracht hatte, um sofort junge urbane Talente wie Gerardo Diego und Guillermo de Torre zu initiieren und bald auch die aufgeschlossensten andalusischen Regionalisten anzuregen. Wie Huidobro war auch der Krolow der mittleren Phase in erster Linie Artist, Stilist, formaler Experimentator, dem es weniger um die Abbildung spezifischer Emotionen ging als um die Vervollkommnung der lyrischen Sensibilität an und für sich. Hatte Huidobro 1918 in Ecuatorial in programmatischem Innovationsbestreben ausgerufen: „El Ruiseñor mecanico ma cantado“, „Die mechanische Nachtigall hat gesungen“, so paraphrasierte Krolow diese typisch creationistische Metapher 1961 in dem Gedicht „Siebensachen“, in dem er sagte:
Der Frühling
ist eine mechanische Nachtigall
Mehr noch als für Huidobros mechanische Nachtigall begeisterte sich Krolow für das Künstliche bei Ravel. Das beweist das 1964 konzipierte Gedicht „Ohne Anstrengung“ aus der Sammlung Landschaften für mich, das folgendermassen beginnt:
Ohne Anstrengung,
nur so, gedankenlos
dieses und jenes – den Tag
als Wäscheblau auf der Leine,
Ravels künstlichen Finken
in der kichernden Luft, „ich fühle
sein Herz schlagen“…
In seinem Poetischen Tagebuch von 1966 kommt Krolow abermals auf Ravel zu sprechen, in zwei verschiedenen Kapiteln. Und zwar nennt er einmal Ravels Musik eine „grosse Spielzeugschachtel. Etwas für Algebraiker…“, während er anderweitig bemerkt:
Der Komponist des L’Enfant et les Sortilèges äusserte über einen künstlichen Buchfinken:
Ich fühle sein Herz schlagen.
Diese Eigenart, das Lebendige gerade, ja nur noch im Leblosen zu gewahren, fasziniert Krolow, der nun pro domo hinzufügt:
… in der Lyrik hat der Frühling längst etwas von einer ausgestopften Nachtigall angenommen, wie der Herbst vom wohlpräparierten Fasan. Die ausgestopften Vögel schweben inniger an der Wand. Die Liebhaber des Künstlichen haben sich freilich zu allen Zeiten derartige Volieren gehalten, durch deren Maschen vor zweihundert Jahren die Sonaten Domenico Scarlattis und Baldassare Galuppis so gut schlüpften wie heute Gedichte von Hans Arp.
Wenn man sich vor Augen führt, dass Arp und Huidobro Brüder im dadaistisch-creationistischen Geiste waren, ja dass sie sogar ein gemeinsames Buch, Tres novelas ejemplares, geschrieben haben, dann schliesst sich hier ein Kreis, den Krolow in weitgespannter Erwartung um den verborgenen Mittelpunkt seiner Bedürfnisse geschlagen hat.
Die Intentionen des Krolowschen Dichtens wurden und werden am besten durch ein (in einem Tagebuchblatt ausführlich kommentiertes) Wort von Stephane Mallarmé ausgedrückt:
Weiss man, was Schreiben ist? Eine sehr alte, sehr unbestimmte, aber gefährliche Uebung, deren Sinn im Geheimnis des Herzens verborgen ist.
Statt vom Geheimnis des Herzens darf man heute, ein Jahrhundert nach Mallarmé, gewiss vom Unbewussten sprechen. Krolow allerdings hat auch jetzt, da er sich mit lyrisch gesenkter Stimme vor dem Hintergrund der Alltagskulisse artikuliert, seine Vorbehalte gegen allzu methodische Fragestellungen und analytische Durchdringungen der äusseren Umstände und inneren Bedingtheiten nicht aufgegeben:
Ich will nicht der Wurzel
meiner Traurigkeit nachgehen.
Das Erforschen von Motiven und das Erkunden dialektischer Beziehungen – etwa zwischen „Determination und Freiheit“ – gehören weiterhin nicht zu Krolows lyrischem und essayistischen Programm. Krolow bleibt ein Sinnenmensch, der immer wieder dem Zyklus der Jahreszeiten folgt, wenn auch die Natur längst so vernutzt ist, dass beispielsweise der Sommer nur „seine eigene intelligente Kopie“ zu sein scheint:
Du kriegst die Augen nicht zu,
auch wenn die Gegend
ein blinder Fleck ist
Wie bei Ravel und bei Huidobro ist bei Krolow Künstlichkeit mit einem hohen Grad von Erregbarkeit gepaart. Und letztlich war es wohl diese ausserordentliche Sensitivität, die den Dichter dazu gebracht hat, von der komprimiert-metaphorischen Sprechweise abzugehen und das pausenlose Sinnenfest der Imagination und Illumination in einen „bürgerlichen“ Normalzustand zu überführen:
Das mechanische Spielzeug meiner Kindheit,
Phantasie, in die Jahre gekommen,
früher ein Mittel, nicht gesehen zu werden…
Der Lyriker Karl Krolow hat einen Desillusionierungsprozess durchgemacht, der nicht nur mit Zeitvergehen, mit Aelterwerden zu tun hat. Da sind auch andere Faktoren mit im Spiel: der Umstand, dass man in der Poesie gegenwärtig kaum ein verbindliches Instrument zur Daseinsbeschreibung zu erblicken bereit ist, sowie das gravierende Faktum allgemeiner gesellschaftlicher Entfremdung, weltweiter Normierung und seelischer Verkarstung:
Die Zivilisation
hat den Zufall abgeschafft
Krolow verzichtet allerdings auch in seinen späteren Jahren nicht auf seine Einbildungskraft. Er reduziert aber die Reichweite ihrer Wirkung:
Niemand achtet
auf die reale Biographie
einiger Blumen im Baumschatten.
In seiner direkteren, seiner wirklichkeitsorientierten Phase freilich verdeutlicht sich Krolow weniger durch Metaphern als durch Beschreibungen. Und was er schon in den Paris-Schilderungen seines Prosabandes Minuten-Aufzeichnungen (1968) erprobt hatte, eine gewisse Offenheit in sexuellen Dingen, das realisierte er nun auch in seinen Gedichten:
Libido, die vom Objekt
auf den Körper zurückfällt
… wenn ihn Sperma
verlässt im Stehen oder
Liegen, nach üblicher Art…
Oder:
Der Minuten-Zeiger
rückt ernsthaft vor.
Die winzige Zeit des Samen-Abgangs. Eiweissflecke…
Früher, zur Zeit metaphorischen Redens, hatte Krolow das Geschlechtliche subtiler dargestellt; er hatte gesagt:
In den Heuschobern
Rascheln Mäuse
Und weibliche Schenkel.
Oder:
Das Bett im Winkel
brennt bis gegen Morgen.
Zwei sehr verschiedene Sprachlagen, die einen zu der Ueberlegung bringen, was wohl den Wandel der Gefühls- und Artikulationsart bewirkt haben mag. Das zunehmende Alter des Autors? Oder die veränderte geistige und gesellschaftliche Situation – etwa das Hereinströmen amerikanischer underground-Lyrik und das Entstehen einer deutschen Subkultur Mitte der sechziger Jahre? Bei dem in biographischer Hinsicht „hermetischen“ Krolow bleiben wir nach wie vor auf das Mittel der Exegese angewiesen. Immerhin drängen sich einige Vermutungen auf, die hier auf die Grundlage von ein paar allgemeinen Betrachtungen gestellt werden sollen: Metaphorisierung, dichterische Ueberhöhung hat immer mit Verschweigen, mit Umschreiben zu tun. Ein unmittelbares Aussprechen bestimmter Dinge bewirkt demgemäss zwangsläufig eine Verringerung des innerpersonalen seelischen Drucks. Und diese Reduzierung des Erregungspegels nimmt ihrerseits Einfluss auf das Mass an Sublimation. Sie bestimmt also unter anderem auch die Beschaffenheit von metaphorischen oder sonstigen verbalen Tabus.
Nun ist es nicht unbekannt, dass Krolow 1970 im Merlin-Verlag einen Band Bürgerliche Gedichte veröffentlicht hat, derb-sexuelle Verlautbarungen, die er zwar nicht in den zweiten Teil seiner Gesammelten Gedichte aufgenommen hat, zu denen er sich seinerzeit aber ausdrücklich bekannte – insofern, als er das Pseudonym Karol Kröpcke bei einer öffentlichen Lesung mit seiner eigenen Person deckte. Auf die Frage eines Reporters des ZEIT-Magazins „Warum schreibt Krolow als Kröpcke Gedichte?“, gab der Autor die Antwort:
Ich stehe mir sonst selber im Weg.
Dieses Bekenntnis lässt die Schlussfolgerung zu, dass Krolow, der als ein Lyriker apollinischen Typs begann, im Laufe seiner inneren Entwicklung und seiner literarischen Profilierung einen allmählichen Spannungsabbau vorgenommen hat. Nachdem sich der Eros vorher lange Zeit hindurch rein spirituell darstellte und hierbei arielhafte Verkleidungen bevorzugte, wurde an einem bestimmten Punkt der Entfaltung der körperliche Teil der Liebe sozusagen „ausgeworfen“, um von nun an die Affektivität – und damit auch die lyrische Stimmlage – zu senken.
Der Mensch Krolow wird in den Arbeiten des Lyrikers Krolow dadurch zunehmend sichtbar, dass dieser etwas von seiner ursprünglichen Scheu abbaut und sich andeutungsweise in seinen spezifischen Lebensumständen zeigt. Wenn Krolow in seinem Poetischen Tagebuch einmal davon gesprochen hat, dass die „Begehrlichkeit der Schreibhand“ stets anders zu schreiben versuche als dies der Schreiber wolle, so werden jetzt der Intuition und der Imagination bewusst und konsequent Zügel angelegt:
Ich will doch wirklich
nur sagen, was ich sehe.
Krolow ersetzt Phantasie weitgehend durch Methode, Erfindungsgabe durch Kritik, Zauber durch ironische Polemik:
Manche lehren immer noch
ihre kleinen Söhne einen Diener machen.
Antibürgerliche statements, Attacken gegen die verlogen-artigen „kapitalistischen Umgangsformen“ gehören ebenso zum Repertoire von Krolows jüngster Lyrik wie kurze emotionale Aufstände gegen die ontologische Provokation des Sterben-Müssens:
… der Kinderwunsch,
sich unter einer fremden Achsel
zu verstecken.
Mehrmaliger Gebrauch des Todes vorm Tode.
Du bist mehrmals vorher dran,
ehe es dunkel wird
und niemand mehr
Gute Nacht sagt.
Auch über die Erotik, der der Sex nicht wirklich weiterhelfen konnte, wird ein bitteres Wort gesprochen „… die sinnliche Revolution / verschaffte keine Erleichterung“. Krolow, der seit Nichts weiter als Leben (1970) alle Gedichte en bloc, ohne jede strophische Gliederung zu Papier bringt, benutzt die Phantasie nicht mehr, um das Unsagbare zu sagen und metaphorische Utopien zu erschaffen, sondern um das Banale mit sich selber zu versöhnen, um der Vergänglichkeit den Schrecken, der geschichtlichen Tat den heroischen Glanz und jeglicher Art von Transzendierung den illusionistischen Charakter zu nehmen:
WOHIN EIN SCHIFF GEHÖRT
Ein Schiff gehört ins Wasser
oder als Oeldruck an die Wand
wie es unter gekämmten Bäumen
auftaucht, ohne zu scheitern.
Natürlich gehört es auch
ins Buch, in dem man
über Seegefechte lesen kann
und wie die Ruder brachen
unter Knirschen, während man
im Zimmer einem alten Grammophon lauscht
und Obst aus Papiertüten isst,
seine Erlebnisse aus zweiter Hand
verarbeitet und froh ist,
dabei zu sein, wie auch auf dem Wasser
Geschichte gemacht wird.
Man lässt sich in seinem Nachdenken
über die Tatkraft anderer
nicht unterbrechen
und ahnt, dass das alles
nicht nur aus glücklichen Tagen
bestanden hat, wie bei diesem Schiff
an der Wand, das durch Laub fährt.
Ohne die Wirkungen, die von Karl Krolows Dichtung ausgehen, ist die deutsche Poesie seit 1945 nicht mehr zu denken.
Diese Feststellung von Walter Helmut Fritz, die 1965 im Klappentext des Bandes Gesammelte Gedichte von Krolow zitiert wurde, ist heute noch immer richtig. Die Wirkungen Krolows sind vielfältiger Art: nicht nur hat er mit seiner Lyrik eine ganze Reihe jüngerer Dichter wenigstens eine zeitlang nachhaltig beeinflußt; auch als Übersetzer, Interpret, Essayist und Rezensent hat er immer wieder Interesse und Verständnis für Dichtung zu wecken gewußt – weniger als streitbarer Kritiker, mehr als Vermittler, auf Verständigung, Ausgleich und Balance bedacht.
Wie nur wenige zeitgenössische Schriftsteller ist Karl Krolow der Lyrik treu geblieben. Von den Diskussionen und Polemiken der letzten .Jahre, die das gesamte Genre Lyrik als gesellschaftlich irrelevanten spätbürgerlichen Plunder wegfegen wollten, hat er sich nicht beeindrucken und kaum irritieren lassen. Das beweist unter anderem der soeben erschienene zweite Band der Gesammelten Gedichte, der an den vor zehn Jahren erschienenen Band 1 anschließt und den der Suhrkamp Verlag pünktlich zu Krolows 60. Geburtstag vorlegte.
Noch immer fällt, wenn der Name Krolow genannt wird, das Stichwort „Naturlyrik“. Doch inzwischen hat sich der Autor weit entfernt von den Anfängen, die noch im Bann der naturmagischen Dichtung standen. Seit den 50er Jahren bereits nahmen die romanischen Einflüsse zu; die Gedichte der französischen und spanischen Surrealisten wurden zur Stimulans seiner Poesie, in der er Naturlyrik und Surrealismus zu verschmelzen suchte.
Inzwischen hat er längst seinen eigenen Ton gefunden, hat sich von der liedhaften und gebundenen Form wie auch von der spezifisch surrealistischen Metaphorik gelöst. Sein Ideal ist nicht das starre, statische Kunstwerk; er plädiert für das offene, durchlässige Gedicht, für lyrische Gebilde, die untereinander korrespondieren, weiterschwingen. Wichtiger als die Perfektion des einzelnen Textes ist ihm die lyrische Summe einer Kollektion von Texten. Damit wird es wohl auch zusammenhängen, daß selbst der Lyrikkenner nicht – wie etwa bei Celan, Bachmann oder Eich – ganz bestimmte Gedichte Krolows in Erinnerung behält, sondern Eindrücke, die nach der Lektüre eines Gedichtbuches zurückbleiben.
Karl Krolow schreibt, vergleicht man ihn mit anderen dichtenden Zeitgenossen, viel und, wie es scheint, mit leichter Hand, ohne Anstrengung. Er meißelt seine Worte nicht, die Sprache steht ihm zur Verfügung für seine nicht-hermetischen, luftigen Verse, denen schwebende Leichtigkeit, Eleganz und Grazie nachgerühmt wird.
Der jetzt vorliegende zweite Band der Gesammelten Gedichte Krolows enthält überwiegend bereits veröffentlichte Texte aus den im letzten Jahrzehnt erschienenen Büchern Landschaften für mich, Alltägliche Gedichte, Nichts weiter als Leben und Zeitvergehen. Der letzte Teil des Buches bringt einige neue, bislang noch ungedruckte Gedichte.
Als „Surrealismen des Alltags“ hatte Peter Rühmkorf Krolows Lyrik schon 1962 charakterisiert, und diese Kennzeichnung trifft heute vielleicht noch stärker zu als damals. Diesen Poeten, dessen Zentralbegriff „Sensibilität“ heißt, inspiriert Konkretes, ihm reicht bereits – wie es in dem Gedicht „Sinn der Dinge“ heißt – ein „minimaler Reiz der Wahrnehmung“. Irrealiät wird erzielt, indem die Details der Alltagswelt in eine neue, ungewohnte Anordnung gesetzt werden; die Realität wird auf diese Weise transparent für Unwirkliches, auch für Bedrohliches.
Wie im Spätwerk Günter Eichs, so läßt sich auch in der neueren Lyrik Krolows eine Tendenz zum Skurrilen, Komischen, Saloppen beobachten, eine Scheu vor auftrumpfender Bedeutungsschwere.
Während Eich jedoch zuletzt immer einsilbiger, verschlossener und lakonischer wurde, ist das Krolowsche Gedicht offen und flexibel geblieben: offen für Alltägliches, Banales, für Subjektives und Privates, offen aber auch in der Form. Da gibt es keine Formanstrengung bis an die Grenze des Verstummens und Zerbrechens (wie bei Celan etwa), keinen unwirschen Rückzug in mürrische Monologe (wie gelegentlich bei Eich). Auch als Poet ist Krolow ein Mann des Ausgleichs, und in einer Selbstcharakteristik hat er, im Blick auf seine jüngste Lyrik, treffend von einem „formalen understatement“ gesprochen, das gelegentlich „bis zur Vernachlässigung von Form getrieben wird“.
Sind Krolows Gedichte auch nicht frei von Dunkelheit und Melancholie, so versteckt sich der Ernst doch gern in intellektueller Heiterkeit. Einen Mann „mit Singvögeln unter seinem Hut“ hat Krolow den Dichter einmal genannt, einen „heiteren Zauberer“.
Jürgen P. Wallmann, die horen, Heft 104, 4. Quartal 1976
Hans Bender: An irgendeinem banalen Mittwoch
Süddeutsche Zeitung, 3./4.5.1975
Hans-Jürgen Heise: Sensibles und Triviales versöhnen
Universitas, Heft 8, 1975
Michael Hamburger: Everyday experiences
The Times Literary Supplement, 5.9.1975
MOMENT POÉTIQUE
Für Karl Krolow
Mit Bildern nicht zu sagen –,
fern, ach so traubenkühl,
nah: Dächer, Brücken ragen
schwarz aus Olivenpfühl…
Welch Zittern, welch Errichten
von Zelten im Samun –,
ein Vers dann, ein Vernichten
–: Verbirg es, schweige nun –
Alexander Xaver Gwerder
Lesung Karl Krolow aus dem Vorrat seiner literarischen Arbeiten und neue Gedichte am 29.1.1992 im Deutschen Literaturarchiv Marbach
Preisverleihungsakt des Großen Niedersächsischen Kunstpreises 1965 an Karl Krolow
Peter Jokostra: Wenn die Schwermut Fortschritte macht. Zum 65. Geburtstag
Die Welt, 11. 3. 1980
Walter Helmut Fritz: Großer Weg zur Einfachheit. Zum 65. Geburtstag
Stuttgarter Zeitung, 11. 3. 1980
Joachim Kaiser: Einzigartiger lyrischer Zeitzeuge
Süddeutsche Zeitung, 10./11.3.1990
Kurt Drawert: Das achte Leben der Katze
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.3.1995
Curt Hohoff: Schlechtes vom Menschen, nichts Neues also
Die Welt, 11.3.1995
Oliver Bentz: Lyrik, luft- und lichtdurchlässig
Wiener Zeitung, 8.3.2015
Fritz Deppert: Karl Krolow: Der Wortmusiker von der Rosenhöhe
Echo, 9.3.2015
Christian Lindner: Gedichte aus der frühen Bundesrepublik
Deutschlandfunk, 11.3.2015
Alexandru Bulucz: „Immortellen, Nebel“
faustkultur.de, 11.3.2015
Peter Mohr: Allianz von Wort und Wahrheit
titel-kulturmagazin.net, 11.3.2015
Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999
Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.1999
Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999
Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999
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