Klaus Kastberger (Hrsg.): Andreas Okopenko

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Klaus Kastberger (Hrsg.): Andreas Okopenko

Kastberger-Andreas Okopenko

MEIN LEBEN MIT OKOPENKO

– Notizen eines Literaturkritikers. –

1.
Beschriebe ich Okopenkos Lyrik (und ich sollte es nicht, denn ich bin ihm ein ziemlich distanzloser Freund), dann würde ich mit der Behauptung beginnen, daß die Wörter ein Gewicht haben.
Das Gewicht der Wörter kann man in die Waagschale werfen, man kann mit dem Gewicht der Wörter ökonomisch umgehen, entsprechend umgehen; man kann zum Beispiel seine Wörter ganz schwer machen, Worte daraus machen – vielleicht weil man will, daß sie in der Sprache („die Sprache“, wie wunderbar!) Spuren hinterlassen, damit jeder, der eine Sprache spricht, auf die Fährte gelockt wird und am Schluß (oder wenigstens eines Tages) bei den Gedichten anlangt, die in der Sprache als Inbegriff der Sprache angelegt worden sind; gleichsam als ihre attraktive, ihre anziehende wahre Sprache.
Das funktioniert natürlich niemals (kaum jemals), aber die Idee – also das regulative Prinzip, das dahinter wirkt – kann man schon für die Tat nehmen: Es gibt viele Gedichte, in denen die Wörter im schwersten Einsatz stehen, Gedichte, die so sind, als ob sie mit der Sprache (und vielleicht zurecht) unvergeßlich blieben. Aber ein Gedicht, von dem sich zum Beispiel sagen ließe, daß es unsere gesamte Kultur enthält – enthielte dieses Gedicht (oder besser die Aussage darüber) nicht den Widerspruch, daß bei der Schwere einer solchen Bedeutung das Leichte unserer Kultur ausgeschlossen wäre und daß ein so schweres Gedicht unsere gesamte Kultur gar nicht enthalten kann?
Ich weiß es nicht, denn vielleicht ist das Leichte im Schweren aufgehoben, einfach darin geborgen. Das allerdings will ich nicht glauben, ich will vielmehr glauben, daß das Leichte etwas Eigenes ist, und ich füge besorgt die Banalität hinzu: Das Leichte ist nicht das Schwache, es hat eben seine eigene Stärke.
Das alles habe ich hauptsächlich deshalb geschrieben, um ex negativo zu definieren (ein bißchen vereinfacht, zugegeben, und vielleicht erst recht einem Klischee Platz machend), was mich an Okopenkos Kunst so erstaunt: Es ist die SCHWERELOSIGKEIT, die mir besonders an seiner Lyrik imposant, beeindruckend erscheint, nämlich diese Kunst Okopenkos, das Flüchtige im Fluidum, ja, eben nicht einzufangen, sondern auszusprechen, es anzusagen. In diesem Sinne möchte ich ein Gedicht von Okopenko zitieren, und zwar ohne Umschweife. Ich nehme also einfach dieses (In: Gesammelte Lyrik):

FRÜHES BILD

Saß ich wo auf warmen weißen Stufen,
saß ich wo und wurde braungeschienen,
kam ein Käfer aus dem Busch gefahren.

Hörte einen lieben Namen rufen,
sah den Rufen nach und zog mit ihnen
irgendhin. – Das war mit vierzehn Jahren.

2.
Die deutschsprachige Lyrik muß einerseits, und sie muß anderseits
– als Kritiker bin ich in der Lage, derartige Sätze zu formulieren, besser „aufzustellen“; es ist ja ein Beruf, in dem es – nach allem, was bisher geschah – kein berufsschädigendes Verhalten mehr geben kann. Daher darf ich sorgenfrei und rhetorisch fragen: Was also muß die deutschsprachige Lyrik?
Vor allem muß sie ihre Bedeutungsschwere loswerden, zum Beispiel ihr Heideggern; schon Heidegger hatte manchem Studenten im Seminar befohlen: „Heideggern Sie nicht!“ Aber nicht einmal das Original kann dort Abhilfe schaffen, wo der Ernst im Blute liegt.
Was aber muß die Lyrik noch? Sie muß ebenso diese artifizielle Leichtigkeit austricksen, diese Lyriker-Lebenslüge, die erst einmal von den Brecht-und-Benn-Epigonen ins böse Spiel und dann von den Beat-Epigonen erneut ins selbe Spiel gebracht wurde.
Diese Art der Leichtigkeit ist der Bedeutungsschwere eng verwandt. Sie ist wie eine mehr oder minder elegante Reminiszenz an einen tiefgreifenden Sinn, den man beschwört, indem man verkündet, nicht mehr an ihn zu glauben. Kein Wunder, daß angesichts dieser vernetzten Sackgassen in der deutschsprachigen Lyrik derzeit, also 1997/98, eine Tradition zu triumphieren beginnt, die sich auf Heine und auf Tucholsky beruft. In dieser Tradition ist einem alles klar; da ist das Gedicht noch ein Gedicht – man erkennt es eindeutig an den Reimen.
Eindeutig ist jedoch vor allem der Zweck des Gedichtes: es macht gereimte Witze, zeigt sich schlau in allerlei kommunikativen Verschränkungen, und ich muß zugeben, daß mich ein V-Effekt bei einer Lesung des Hauptvertreters dieser Linie besonders fasziniert hatte. Der Mann las mit erwachsenen Charme seine Kinderreime, will sagen: seine Dichtung, und in der anschließenden Diskussion bestand er selbst und sein ihn bis zum letzten Buchstaben flankierender Verleger darauf, in lyrischen Fragen eine Art von verfolgtem Geschmack zu besitzen. Die heitere Kunst passe eben nicht in das verdammte Weltbild der versnobten Literaturbranche, man versage dem wahren, dem lustigen Dichter die Anerkennung!
Selbst oder gerade am Höhepunkt des Erfolgs muß man sich als Opfer darstellen, als Objekt einer immerwährenden destruktiven Ignoranz. Das gehört zum Job. Nietzsches herrenmenschliche Verspottung des Triumphs der Benachteiligten in der Kultur findet im Kulturbetrieb unserer Tage eine unpathethische Berechtigung: „Benachteiligung“, „Verfolgt-Sein“ läßt sich als Reklamegag einsetzen – in the long run wohl auch mit der Folge, daß Benachteiligung und Verfolgung, die nicht als Reklame abzubuchen sind, sondern die tatsächlich passieren, immer schwerer zu fassen werden: Der Erfolg der auf Verwechslung abzielenden Reklame entzieht allmählich auch dem Einklagen einer realen Benachteiligung jede Berechtigung.
Der langen Rede kurzer Sinn: Ich habe mich hier an eine Frage herangetastet, die zu den unhöflichsten gehört, die man in Gegenwart eines Dichters stellen kann, die gleichwohl bei einem Kolloquium über Andreas Okopenko unvermeidlich schien. Die Frage lautet: Warum ist Andreas Okopenko für die literarische Öffentlichkeit nicht in jenem Ausmaß präsent, das der literarischen Qualität seiner Schriften entspräche?

3.
Die Antwort muß man – so weit es möglich ist – ohne das Reklamepathos der geschickten Benachteiligung vorbringen. In diesem Sinn könnte man gleich etwas hagestolz sagen, daß die Taxinomien des Betriebs ohnedies nur so weit interessant sind, wie ein Autor auch seine Miete zahlen muß. Aber ich glaube, daß ein Werk zusätzlich von den Grenzen mitbeschrieben wird, die eine Gesellschaft und ihre „Rezeptionsbedingungen“ ihm setzen. Man kann jedenfalls leicht sehen, daß der Autor für die sozialen und ästhetischen Vergleiche, die ich anstelle, nicht selber verantwortlich ist; es ist der Interpret, der sie ihm aufbürdet!
Zunächst ist Okopenkos Werk dadurch eine Grenze gesetzt, daß ein Verleger fehlt, der sich für dieses Werk einsetzt. Über den Residenz-Verlag möchte ich nichts sagen, außer vielleicht, daß er in Salzburg liegt und mir leider nicht.
Aber bei Deuticke habe ich, seinerzeit Lektor, selber erlebt, mit welcher alibihaften Halbherzigkeit dort zuerst die Lockergedichte – in einer gegenüber der Freibord-Ausgabe leicht erweiterten Fassung – unter dem Titel Immer wenn ich heftig regne wieder aufgelegt wurden. Im selben Verlag erschien dann auch der Lexikon-Roman, und zwar in der verdienstvollen, aber doch etwas musealisierenden Reihe „EINE BIBLIOTHEK DER ÖSTERREICHISCHEN ZEITGENÖSSISCHEN LITERATUR“.
Nun muß ich aber sagen: Es gibt halt Verleger, die man nicht einmal zu dem Glück, das sie haben, zwingen kann. Anderseits aber gilt, daß weder die Lockergedichte noch der Lexikon-Roman in einer Buchhandlung zu kaufen wären, hätte ihnen Deuticke nicht sein interesseloses, von keinerlei Werbung begleitetes Wohlgefallen geschenkt.
Zweitens muß ich auch sagen, daß es an Okopenko selbst liegt: „Seine Person“ gibt nichts her für den Medienmarkt. Im Zeitalter der Personalisierungen ein Unglück, ja, vielleicht sogar eine Defizienz in der Ausübung des Schriftstellerberufs. Zu dem Beruf gehört, daß das schriftstellernde Ich in der Lage ist, aus sich ein Selbst, das ist: eine öffentliche Person, welche den gleichen Namen wie das Ich trägt, herauszusetzen.
Dieses personale Konstrukt (oder: konstruierte Personal) ist der Ansprechpartner der Medien; das originäre Ich fängt es manchmal ein und holt es wieder zu sich zurück, manchmal aber läßt das Ich seine äußerliche „Person“ raushängen – je nach dem, was der Schriftsteller von den Medien zu erwarten hat: Muß er sein image in Sicherheit bringen? Oder kann er es weiter im Umlauf lassen, um es schließlich um so glänzender wieder in Besitz zu nehmen?
Die Vorstellung, Okopenko wäre mit solchem self-management befaßt, bringt mich zum Lachen. Das kann er einfach nicht, und er kann es vor allem auch nicht auf die Art, der gemäß – wie das ja nicht selten der Fall ist – gerade der demonstrative Rückzug aus der Medienpartnerschaft das Interesse der Medien weckt. Der Kulturjournalismus wird nicht müde, Leute, die sich ihm voller Verachtung verweigern, lobend zu erwähnen, und es existieren genug Dichter, die ihre Verachtung des Kulturjournalismus in einem fort der Zeitung und dem Fernsehen anvertrauen.
Okopenko kann das nicht. Er verfügt auch über keinen aufsehenerregenden Haß auf irgend etwas; seine Obsessionen hat er mehr oder minder strikt privatisiert, und in erotischen Dingen ist er in seinen Schriften dermaßen zart, dermaßen behutsam, daß er samt seinem Liebesunglück, das er gelegentlich besingt, wie aus einer anderen, aus einer besseren Welt erscheint: Es ist die Utopie eines sanfteren Umgangs der Menschen miteinander, von der Okopenkos Schriften zurückhaltend zeugen. Man könnte auch sagen: Dieser Autor ist ein Softie, der mit der Härte der Branche, in der er arbeitet, überhaupt nichts anfangen kann.

4.
Ich betone noch einmal, daß ich kein Plädoyer für die Stillen im Lande halte. Ich schließe ja keineswegs aus, daß dem Dichter Okopenko für seinen Beruf tatsächlich etwas fehlt, das andere im Übermaß haben mögen. So wie dieses Berufsbild sich derzeit darstellt, können jene Könner gar nicht unrecht haben, die einer auf events reduzierten Kultur schließlich voll und ganz entsprechen. Sie machen den bloßen Vorgang der Veröffentlichung ihrer Bücher zum Ereignis, ja, nicht nur das, einem von ihnen ist es sogar gelungen, bereits den Vorschuß für sein Buch (10.000.000 – in Worten: Zehn Millionen) zum event zu stilisieren – und kein Kritiker und nur wenige Leser kommen um ein Buch herum, das so viel gekostet hat!
Zur Härte des Berufs gehört selbstverständlich auch der Fleiß; eine Produktion muß mit einem Verlegerjahr und seinen Rhythmen mithalten können. Die Infantilisierung der Branche, also diese faszinierende Fixierung auf lächerliche Äußerlichkeiten, wird gleichzeitig von einemArbeitsethos begleitet, das in seiner unspielerischen Ernsthaftigkeit das Menschen-, also auch Künstlerrecht auf Faulheit nicht anerkennt.
Aber es sind eben nicht bloß diese sozialen, literatursoziologisch aufschlüsselbaren Gegebenheiten, die den Rahmen bilden, in dem ein Werk wie das von Andreas Okopenko nicht die gebührende Wertschätzung erfährt. In Zeiten der rhetorischen Radikalisierung des literarischen „mainstreams“ (und ich halte diese Werbesprache für angebracht) stand Okopenko am Rande, weil er in politischen Dingen mit undiplomatischer Vorsicht urteilte.
Außerdem hatte er eine Fähigkeit zur Selbstironie, die man nicht persönlich nehmen muß, sondern die man auch als solidarische Ironisierung einer häufig gepflogenen Redeweise, nämlich des politischen Bekenntniszwangs verstehen kann, der ja bekanntlich selten hält, was er verspricht. Also sprach Okopenko im Lexikon-Roman unter „Politik“:

Um Rätselraten zu sparen: Der Autor des Lexikonsromans möchte eine Menschheit, die unter den Konditionen von LIBERTÉ EGALITÉ FRATERNITÉ bestandfähig ist, zum Sozialismus nicht geprügelt zu werden brauchte, in ihm die Individualität und alle anderen Wert- und Lustfaktoren höchst entwickeln konnte, keine Repression mehr kennt und alle Intelligenz an die Stabilisierung und Intensivierung des Lebens wendet. Der Autor des Lexikonromans ist also

• politisch unzufrieden,
•              ungebildet,
•      
      ungläubig,
•      
      unentschlossen,
•      
      unwirksam.

Natürlich kann man diese Auflistung ihrerseits leicht ironisieren: Der Autor des Lexikon-Romans möchte halt gut leben und solange das nicht ganz so gut geht, bleibt er halt politisch unzufrieden. Aber ich lese den Abschnitt „Politik“ aus Okopenkos Lexikon-Roman heute noch gerne, weil ich mir vorstelle, wie furchtbar eine derartige lexikalische Ausführung in den Ohren einiger Götter von damals geklungen haben muß.

5.
Der Spott gegen alles Gesinnungsstramme kommt in Zeiten schlecht an, in denen sich viele aus der literarischen Welt der Mühe unterworfen haben, einfach zu glauben, es gäbe so etwas wie die „richtige“ Gesinnung, man muß sie bloß „haben“ und dann entschieden, will meinen: entscheidend, an den Tag zu legen. So fern wie dem Andreas Okopenko lag mir dieser Glaube nie; nach wie vor ringe ich um Bildung, um Glaube eben, aber auch um Entschlossenheit und um Wirksamkeit. Wenn ich eines Tages all das errungen haben werde, werde ich dann – wenigstens politisch – zufrieden sein?
Bei der Literaturbetrachtung kommt man leicht ins Sinnieren. Literatur ist nämlich ohne Zweifel eine der allzumenschlichen Anstrengungen, „Sinndefizite“ wettzumachen; die Qualität der Literatur hängt jedoch davon ab, wie dies geschieht. Mit meinem vollentwickelten Sinn für Schematismen behaupte ich, daß sich Okopenko früher vom mainstream vor allem „inhaltlich“ unterschied. Heute unterscheidet er sich vor allem „formal“, also durch die „Methode“ seines Schreibens. Belehre mich bitte keiner, daß in Texten „Form“ und „Inhalt“ keineswegs geschieden sind – ich könnte darauf zum Beispiel antworten: In (gelungenen) Texten nicht, aber oft genug in der (mißlungenen) Rezeption von Texten.
Der Lexikon-Roman und die Meteoriten zerlegen den Kosmos in Abschnitte, in Partikel, in Fragmente. Dennoch bleiben die Texte nicht im Fragmentarischen stecken, der Autor hat seine Bücher fertiggestellt, es fehlt ihnen an nichts, es gibt in ihnen nichts, womit der Autor nicht fertig geworden wäre.
Aber der Sinn des Ganzen wird dem Leser nicht frei Haus geliefert; der Sinn geht nicht aus einer eindeutigen Konstruktion hervor, er verbirgt sich auch nicht irgendwo enigmatisch, und sei es „zwischen den Zeilen“. Der Sinn ist nichts Festes und nichts Wabberndes – er steckt in den Querverweisen, in den Verbindungslinien, in den assoziativen Möglichkeiten zwischen den vereinzelten Abschnitten – und er steht im Grunde auch dem Autor nicht zur Verfügung.
Der Autor hat über den Leser nicht verfügt, welchen Sinn der sich aus dem Ganzen machen soll. Der Autor hat – bei großer Genauigkeit im Detail – dem Leser im großen und ganzen so viel Freiheit gegeben, wie ein Text es nur erlauben kann.
Das ist aber – in meiner Lesart – kein literarischer Trick; es ist ein intelligentes Verfahren: Dadurch, daß auch der Autor den Sinn nicht hat, ist es möglich, im Text so etwas wie die moderne Kontingenzerfahrung beispielhaft wiederzugeben. Okopenko hat eine Methode erfunden, mittels derer der Sinn den Text autopoetisch durchwaltet. Diese Methode hält den Sinn präsent, ohne daß es irgend jemanden gäbe, der auch nur wissen könnte, was den Text im Innersten zusammenhält. Da es im Text auch kein Zentrum gibt, von dem aus sich die Welt erklärt, es aber auch das entlastende Dogma, die Welt wäre schlechthin unerklärbar, nicht gibt (dagegen stehen ja die Anstrengungen im Detail), entspricht Okopenkos Prosa einer wahrhaft zeitgemäßen Wahrnehmungsweise.
In dieser Weise werden auch Meteoriten zum Roman, denn was sollte ein moderner Roman mehr können, als vor Augen zu führen, wie sehr er, ohne zu zerfallen (also bei aller Konzentration und Reduktion), der Vielfalt, dem realen Chaos nahe bleibt?

6.
Der mainstream verläuft heute anders; meine Argumentation gegen ihn ist freilich die alte, die doppelbödige: Einerseits wirft man dem mainstream vor, verschiedene hochstehende Werke nicht integrieren zu können, anderseits bemißt man die hohe Qualität dieser Werke nicht zuletzt daran, daß der mainstream außerstande ist, sie aufzunehmen.
Ja, so ein mainstream hat es schwer!
Derzeit macht er es sich wieder besonders leicht: All dieses Erzählen und Nach-Erzählen, all dies zu Herzen gehende Fabulieren, das sich glücklich selbst genug ist, gefällt mir ja auch. Traurig bemerke ich nur, wie sehr heute noch – in unserer offenen Gesellschaft! – der Kitsch unterdrückt ist, so daß die wunderbaren Kitschautoren dieser Tage ihren grandiosen Kitsch bloß mit Kunstanspruch verteidigen können.
Freilich darf keiner die an mich bereits ergangene Mahnung eines jungen Germanisten übergehen:

Spielen Sie ja nicht verschiedene ästhetische Konzepte gegeneinander aus!

Aber Kritiker tun das halt, und man kann das dann gegen sie ausspielen. Ich erinnere an Peter Handke, der einmal über einen Kritiker trefflich, ja unübertrefflich sagte: „Was er sagt, das sagt er halt“, und so sag’ ich’s halt: Ein Werk wie das von Okopenko steht im Zeichen (wohltemperierter) Emanzipation, während der literarische mainstream von heute, also fast die gesamte Bestsellerliste, im Zeichen (extremer) Kompensation steht. Die Kontingenz- und Komplexitäterfahrungen werden derzeit am liebsten durch ein ausuferndes Sinnangebot kompensiert; es ist, wie Odo Marquard, der freilich sehr kluge, affirmative Theoretiker dieser Entwicklung sagt, nichts „als (eine) spezifisch moderne Rettung der zauberhaften Züge der Wirklichkeit ins Ästhetische.“
Die Balance von emanzipatorischen und kompensatorischen Elementen in der Kunst, ist eine schwierige Frage; meine Behauptung hier: Derzeit sind die Dämme gebrochen, der mainstream fließt rücksichtslos ab in die totale Kompensation. Die am meisten geschätzte Literatur ist jene, der es am besten gelingt, den in der außerliterarischen Wirklichkeit erfahrenen Zersplitterungen, Verfremdungen und Zerrüttungen einfach einen ungebrochen erzählten Sinn entgegenzuhalten. Auch wenn „inhaltlich“ von all diesen Gebrechen der (Post-)Moderne berichtet wird, so bleibt das „Formale“ davon penibel unangetastet. Das klingt dann so wie die sonore melodisch einlullende Stimme des Nachrichtensprechers vom Fernsehen: „Heute wieder Massaker in Algerien…“
Ich glaube nicht, daß die ästhetische Qualität dieser Texte halten kann, was sie ideologisch versprechen. Gewiß, diese Texte erfüllen die Erwartungen vieler. Im Lexikon-Roman heißt es unter „Erwartungsmuster“ über die Zerstörung derselben:

Zum einen ergibt sich diese Zerstörung spontan aus jeder genug aufmerksamen Protokollierung (denn, wie Cysarz sagt, es gibt nur Neues unter der Sonne), zum anderen will der Autor sich und die Leser aus dem Schnarchfluß stören. Darum immer wieder Stromschnellen: Gedankensprung, Blicksturz, Affektwechsel, Phrasenverstellung, Neologismus.

„Schnarchfluß“ ist für mich eine geniale Übersetzung von „mainstream“, und ich glaube, daß die spezifische ästhetische Qualität von Okopenkos Texten auch daher kommt, daß sie eine Sprache sprechen, die sich in allen Stromschnellen gewaschen hat. In meiner Privatmythologie ist die Gegen-Sprache dazu die Fluß ohne Ufer-Sprache Hans Henny Jahnns: ein hartes, nie überhartes, vollkommen klares Deutsch. Okopenkos Sprachkörper ist dagegen biegsam, kann ohne Härte deutlich werden, bleibt aber spielerisch, auch in ihren Entschiedenheiten.

7.
Okopenko hat eine Gedichtgattung mit erfunden, die er LOCKERGEDICHTE nennt – und wonach ist einem mehr als nach LOCKERUNG, nach letzter Lockerung in diesem Jammertal, bevor irgendeine Ader platzt, irgend etwas hochgeht, irgend etwas sich nicht mehr halten läßt, das so starr und eingefroren serviert wurde, wie zum Beispiel nicht selten Gedichte, Dramen und Prosa.
Da ist viel locker zu machen, da ist ein weites Land aufzulockern, jede lockernde Bewegung in diesem Rahmen, in dem die Verstocktesten hausen, ist vonnöten. Gedichte, heißt es in der verbesserung von mitteleuropa, roman, haben bereits „amtscharakter“. Auflockerung: Die Lyrik ist das Schwere, das man leicht machen muß.
„Spontangedichte“ kann man die „Lockergedichte“ auch nennen, und das Wort, der Begriff „spontan“ hat es mir angetan. Das Plötzliche belassen, schrieb Canetti in seinen Aufzeichnungen, und dies ist wohl eine Art von offenem Produktionsgeheimnis: Die Arbeit des Dichters besteht zum Teil darin, nicht alles, was ihm einfällt, zu überarbeiten. An den Plötzlichkeiten kann man auch trainieren. Simone de Beauvoir erzählt In den besten Jahren vom jungen Sartre:

Er verfaßte Klagelieder, Abzählverse, Epigramme, Madrigale, Kurzfabeln, alle Arten von Blitzgedichten, und manchmal sang er sie zu selbsterfundenen Melodien. Er verachtete weder Kalauer noch Knittelverse; er vergnügte sich mit Assonanzen und Alliterationen; so übte er sich im Umgang mit Worten, erforschte sie, vermaß sie und nahm ihnen gleichzeitig ihr alltägliches Gewicht.

Die Spontaneität hat demokratische Züge; sie verachtet nicht einmal den Knittelvers. Das Spiel mit ihr kann den Worten das Gewicht nehmen, eine der Voraussetzungen dafür, ihnen ein anderes zu geben: Dichten heißt Gewichten.
So was kann jeder. Es gibt tatsächlich Dichter, die zumindest behaupten, daß sie nichts anderes können wollen als das, was jeder kann. Ach, ich erinnere an Gunter Falk, der keines seiner Wundergebilde vorgeführt hatte, ohne dazu zu sagen:

Meine Damen und Herren, das können Sie auch, so etwas können sie auch, machen sie sich ihr eigenes Gedicht.

Falk war also ein egalitärer Dichter. Merkwürdig, daß man die elitären mehr zu mögen scheint. Man glaubt von denen mehr zu haben, die von sich sagen:

Das kann nur ich, ich allein, und vielleicht ein paar andere, die mit mir den Schauplatz übersichtlich halten, die mir dabei helfen, das Niveau meiner eigenen Leistung dem Publikum plausibel zu machen.

In der Tat, nicht alle Menschen sind Künstler. Vielleicht ist es aber so, wie Sir Karl Popper es über die Philosophen gesagt hat:

Ich glaube, daß alle Menschen Philosophen sind, wenn auch manche mehr als andere.

Dieser Glaube enthält ein lockeres Verhältnis von Spontaneität („alle Menschen sind – gleichsam per se – Philosophen“) und Disziplin („manche sind es mehr als andere“); und eben deshalb sind sies mehr als andere, weil sie sich einer Disziplin unterworfen haben. Es gibt ja einen falschen, vielversprechenden Begriff von Spontaneität, einen schmeichelnden Begriff, nämlich den, daß ein jeder sofort was dichten oder philosophieren kann, wenn er es nur will.
Mit dieser kulturpolitischen Schmeichelei wird man gelegentlich ebenso peinlich konfrontiert wie mit dem im Grunde bloß ständischen Vorurteilen stolz Disziplinierter, also mit den Vorurteilen von Leuten, die einfach – und gewiß oft auch mit Recht – auf ihre Disziplin stolz sind. Spontan sein – das ist dagegen eine Sehnsuchtsvokabel; die Spontaneität soll alles lockern, vor allem die Krämpfe jeglicher Impotenz: Seid spontan!
Aber es hilft nichts: Die Spontaneität eines Dichters ist (im Spontangedicht) immer noch eine andere als es die eines Menschen, der weniger ein Dichter ist und dennoch dichtet – und sei es ganz spontan.
Spontangedichte haben aber dennoch mit der Spontaneität aller Menschen gemein, daß sie unter der Schwelle der Disziplinierungen, unter der organisierten Spontaneität (zu der auch das Erwartungsmuster „Dichtung“ gehört) durchtauchen.
Man kann auch ironisch sagen: Spontangedichte sind herrenlos, da undiszipliniert. Wem zum Beispiel hätte Okopenkos unerreichbares Spontangedicht „KAPITULATION“ nicht einfallen können:

Alles, was du sagst, das stimmt.
Nicht umsonst heißt Schiele Klimt

Oder benötigt die tiefe Wahrheit „SCHRIFTZEICHEN / sind Giftleichen“ im Ernst einen Autor?

Franz Schuh

 

 

 

Vorwort

Andreas Okopenko ist einer unserer bedeutendsten Dichter, und die Stille um ihn ist gleichzeitig seine Gloriole. – Mit diesen Worten hat Friederike Mayröcker den Stellenwert des Autors innerhalb der österreichischen Literatur markiert.
Ohne Zweifel gehört Okopenko zu den wichtigsten und dabei verstecktesten Dichtern im Land. Seine Leistungen für die österreichische Literatur sind unbestritten: Ende der 50er Jahre sorgte seine erlebnishaft geprägte und dabei naturwissenschaftlich-genaue Lyrik für Aufsehen; von namhaften Experten, Kollegen und Weggefährten werden diese Texte bis heute zum Besten gerechnet, was nach 1945 in Österreich geschrieben wurde. Mit dem Lexikon-Roman legte der Autor 1970 einen Avantgardeklassiker vor, mit Büchern wie Meteoriten (1976) und Kindernazi (1984) setzte er die avancierte literarische Formgebung auf einer politisch-biographischen Ebene um. Okopenko ist als Herausgeber (der legendären Zeitschrift publikationen sowie der Schriften von Hertha Kräftner, Ernst Kein u.a.) und als präziser Beobachter des heimischen Kulturbetriebs bekannt; als witziger und pointierter Sprachkünstler erweist er sich in seinen Lockergedichten und Parodien.
In essayistischen und analytischen Auseinandersetzungen legt der vorliegende Band die Leistungen Okopenkos dar. Die Qualität seiner Texte wird hierbei nicht allein als ein historisches Verdienst gesehen, sondern auf ihre heutige Wirkkraft geprüft. Nicht nur Gründe und Ursachen der versäumten Rezeption werden aufgezeigt, sondern auch Möglichkeiten einer künftigen.
Neben den Beiträgern, die – motiviert von einem Okopenko-Kolloquium in der Alten Schmiede in Wien – diese Unternehmung getragen haben, ist dem Autor zu danken: Andreas Okopenko hat uns wertvolle und aussagekräftige Materialien zur Verfügung gestellt. In einem Essay („Meine Wege zum Schriftsteller“) geht er den biographischen Wurzeln seines Schreibens nach, in exemplarischen Eigeninterpretationen zweier Gedichte zeigt er Wege des Verstehens auf, und in den bereitgestellten Photos und Faksimiles vermittelt sich ein authentischer Einblick zu seinem Leben und Werk.

Klaus Kastberger, Vorwort

 

Inhalt

– Vorwort
– Andreas Okopenko: Meine Wege zum Schriftsteller
– Andreas Okopenko: Aufgefordert, ein Gedicht zu erläutern
– Andreas Okopenko: Brief an Herrn Schwark
– Wendelin Schmidt-Dengler: Dunkle Glanzstellen. Zu Andreas Okopenkos Gedichten aus den fünfziger Jahren
– Franzobel: Oko Negus, da Kronprinz von Humoaaa. Zu Andreas Okopenkos Akazienfresser
Andreas Okopenko: Drei theoretische Texte aus den fünfziger Jahren (Grundsätze, Präzisierung und Verschleierung, Über die Sachlichkeit)
– Daniela Petrini: Es schlägt ein. Andreas Okopenkos Poetik des Fluidum
– Andreas Okopenko: Protokoll einer Donaufahrt vom 18. Juni 1968
– Klaus Kastberger: Umkehrung der Welten. Andreas Okopenkos Lexikon- Roman zwischen Avantgarde und Engagement
– Daniela Strigl: In der Reißmaschine der Zeit. Zur hautnahen Vergangenheitsbewältigung in Andreas Okopenkos Kindernazi
– Otto Breicha: Von einem und zu anderem. Einige lockere Überlegungen zu Person und Werk
– Franz Schuh: Mein Leben mit Okopenko. Notizen eines Literaturkritikers
– Auswahlbibliographie
– Autorenverzeichnis

 

 

Adolf Haslinger – Laudatio zum Großen Österreischischen Staatspreis 1998.

Konstanze Fliedl – Laudatio zum Georg-Trakl-Preis 2002.

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Daniel Wisser: Der sanfte Linke
Die Presse. 13.3.2020

Zum 10. Todestag des Autors:

Karin Ivancsics: Eine Freundin erinnert sich
Die Presse, 25.6.2020

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Instagram + KLGÖM +
TagebücherNachlass + Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachrufe auf Andreas Okopenko: Die Presse ✝ sonne & mond ✝
NZZ ✝ in|ad|ae|qu|at

 

Andreas Okopenko: Anarchistenwalzer gesungen von Palma Kunkel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00