NACHT-SCHLUSS BEI BOLS
Noch starrt die schwarze Nacht, mit Blatternarben,
Die Sterne heißen. Laßt uns weiter thronen,
Rosenlikör auf magischen Balkonen
Durch Halme schlürfen, und in süßen Farben
Traumtrunken schwimmen: Deine Fliederweste,
Du fahler Maler, küßt mich sehr; Bohême-Girl,
Dein Shawl glänzt ganz zitronen; du, System-Earl,
Trägst statt des Shlips zerwalkte Himbeerreste.
Ein seliger Ekel zeigt mir Ewiges…
O schaut aus dem verdreckten Licht der Birnen:
Es wehen Hauche naß von kühlen Firnen,
Am Stahl des Himmels zuckte Möwiges.
Kurt Hiller
welche aus exuberierendem Leben stammt und selber wieder Leben erzeugt, darf nur zweifeln, wer Skeptiker am Sinne des Lebens ist. Das pflegt der männisch Empfindsamkeit rügende Staats- oder Erkenntnisbeamte, der abgeklärte Dandy, der feixende Fabrikant nicht gerade zu sein; und die Philosophen sind die letzten, die dem Wert der Kunst mißtraun; die letzten zumindest, die sie verraten…
Hat sie einen Sinn, so den: daß jemand sein Erleben gestaltet – und andere aus der Gestaltung ein Erleben schöpfen. Da zu beiderlei Tätigkeit eine seelische Struktur gehört, die selten Ereignis wird, bleibt Kunst eine Angelegenheit der Wenigen. Sie zum Gemeingut der Bewohner zu machen, mag als Maxime von Weltverbesserern, als edle Forderung der Zivilisatoren Geltung haben; als Kriterium ist Volkstümlichkeit immer ein Unfug. Freilich kein leicht auszurottender; besonders wo Sprache des Künstlers Material bildet, glaubt jeder Absolvent einer höheren Schule und Unvorbestrafte, die Qualität der Leistung am Maßstab seines Empfängnisvermögens messen zu sollen. Worte dienen ja dem Verkehr, dem Handel, der Wissenschaft; dienen als Werkzeug der gemeinen täglichen Verständigung; und Herr Meyer, der vor einem Gemälde oder gar vor einer Symphonie sich bescheiden als „Laie“ fühlt, erinnert sich vor einem Gedicht, daß er schreiben und lesen lernte. Nun gleicht ein Gedicht einem Spiegel; und (Lichtenberg war dieser Weisheit Vorläufer): ein Esel, der hineinschaut, sollte, falls er klug ist, nicht verwundert sein, wenn er dabei die Impression von etwas sehr Esligem gewinnt. Aber statt in seines Gesichtes Ausdruck wittert er dann in dem Ausdruck des Dichters meist die Ursache; nennt rasch, was er nicht versteht, unverständlich; und hat, für alle Fälle, die Diagnose „pathologisch!“ bereit.
Darin allerdings zeigt der Aristokratismus der Kunst sich nicht, daß ein Poet uns unaufhörlich seiner Hehrheit und seines Herrschertums versichert; nicht darin, daß einer, stirnrunzelnd und renaissancehaft, Brokate mit Blut besprengt oder Landschaften der Feudalzeit voll Minne, Mönchen und Mannen mystisch heraufbeschwört. Keineswegs die Meister – die wir ehrfürchtig lieben (auch wo sie uns befremden) –, sondern ihre traurigen Nachäffer sind es, deren sakrales Gouvernantentum und steife, stiefe Pose wir nicht mehr ertragen können. Auch wir sind Verächter pöbelmäßigen Schluderns und wissen den Wert einer strengen Technik wohl zu schätzen; aber Hochnäsigkeit als konstitutives Prinzip von Dichtungen lehnen wir entschlossen ab. Und wir bestreiten schlechterdings, daß die Verwendung von Vokabeln wie „Wasen“, „getarnt“, „Gewäfer“ an sich ein Beweis für Tiefe sei. Er ist es ebensowenig wie jene hysterische Angst vor Deutlichkeit und aufrichtigem Bekennen, die viele, ihrem eignen sauern Theorem (: ein „Gebild“ müsse „gewachsen“, nicht „gemacht“ sein) zuwider, zwingt, ihr Erleben, bevor sie es formen, stofflich umzuformen und etwa, wo der erotische Typus einer Schauspielerin sie reizt, Penthesileen „ewiger und schöner denn Sterben“ werden zu lassen. Man tut sich dann viel zugute auf einen Unterschied zwischen „Gestaltetem“ und „bloß Geredetem“; und es ist doch nur der Unterschied zwischen Schwindel und Wahrheit.
Nicht besser als das mürrische Pathos dieser feierlichen Magister aus des großen George Seminar ist das wirr-gottsälige der Quallen, welche die Flut der „literarischen Revolution“ den Kontrainstinkten aller guten Lateiner zurückgelassen hat. Grenzenloses Weltfühlen, metaphysische Schwärmerei, Pantheismus geben allein noch kein Gedicht; und ein erkenntniskritischer Schnitzer wird nicht dadurch zu Kunst, daß ihn einer in freien Rhythmen vorträgt. Man kann als Religionslehrer monistischen Gemeinden vorzügliche Dienste leisten und braucht unter Dichtern dennoch kein Begnadeter zu sein.
Die pädagogesken Assoziationen häufen sich… Turnlehrer bilden die dritte Gruppe: Karg sind sie, strack und wuchtend; wandern schweißbedeckt und analytikerfeindlich ins Grüne und Braune; effektuieren zum Schluß masochistisch-gymnastische Akte – durch Verwandlung ihres fetten Leibes in Scholle (die ein Pflug massiert) oder in Stücke Brots (die brunnenhaft springen)…
Was diese alle treiben, ist nicht Kitsch, sondern immerhin schlechte Kunst. Aber wir finden es fast ebenso abscheulich wie jenes böseste Gestümper von vergißmeinnichtblauer Werdandiotie und jodelbar gemachter Popularsternkunde, das die lyrischen Hausbücher noch heute füllt.
Und so plant Der Kondor, ein Manifest zu sein. Eine Dichter-Sezession; eine rigorose Sammlung radikaler Strophen. Zum erstenmal sollen hier lebende Künstler der Gedichtschreibung, und nur Künstler, vereinigt werden. Mit Proben, die ausreichen, ein Bild zu geben: Künstler einer Generation. (Die ältesten sind Ende der siebziger Jahre geboren, die jüngsten 1890; gemeinsam ist ihnen vielleicht nichts als die Gegensätzlichkeit zu den beregten Sorten und allenfalls das Stigma des Neuen.)
Eine Richtung? Eine „Richtung“ will Der Kondor nicht fördern. Erscheint die Erlebensart des geistigen Städters, die uneinfache, bewußtere, nervöse (mit Dynamos und Massenstreiken hat sie nichts zu tun!), hier als bevorzugt, so rührt das nur daher, daß man sie anderswo quäkerisch vernachlässigt hat. So ausgeschöpft der Behälter der agrarischen Emotionen auch ist: unsre Einwände kleben nicht am Gegenstand; und ein Beispiel im Kondor wird zeigen, daß sogar die kompromittiertesten Wörter („Acker“ und „verhalten“), neu geboren und gut gesetzt, die künstlerische Wirkung eines Gedichts nicht hemmen können.
In dem Augenblick, da ich diese etlichen Meinungen heiter-wütend, zukunftsgewiß und unsäglich unabhängig niederschreibe, überkommt mich das Begehren, manchem zu danken. Dem idealen Verleger, der eine ernsthafte, kunsthafte, abseitige Sache ermöglicht hat, und den Mitarbeitern allen, weil sie mir das Ihrige zu meinem Zwecke anvertrauten.
Besonders stark wird in diesem Bande Georg Heym vertreten sein; Georg Heym, der Anfang Januar 1912 – aufreizender Mißgriff Gottes! – zu vierundzwanzig Jahren in der Havel ertrank. Es gibt Einwände gegen Heyms Kunst, und es paßt mir nicht, sie hier zu äußern. Feststeht, daß er ein wundervoller, genialischer Kerl war und daß man von ihm den tausendjährigen Revolutions-Päan erhoffen durfte, den Friedrich Schiller nicht gesungen hat. Unter denen mit Mark, roten Wangen und Phantasie war Heym der einzige, auf den man diese Bezeichnungen unironisch anwenden konnte … (Seine hier veröffentlichten Gedichte sind, bis auf eines, den Korrekturbogen zu seinem Buch Der Ewige Tag entnommen, die er mir, mit Genehmigung des Verlages Ernst Rowohlt-Leipzig, kurz vor seinem Tode für den Kondor zu Verfügung gestellt hat.)
Noch einen Zusatz der Bescheidenheit: Der Herausgeber, offen und schlicht gesagt, glaubt zwar, daß auf diesen Blättern die wertvollsten Verse stehn, die seit Rilke in deutscher Sprache geschrieben wurden, aber seine eigenen rechnet er darunter nicht. Er sieht in sich eine Person, die imstande ist, zerlegende Prosa zu liefern; einen Dialektiker oder Polemiker; vielleicht einen Glossendichter; nicht: einen Dichter. Wenn er dennoch, wie Hämlinge zu krähen sich nicht entblöden werden, die „Gelegenheit wahrnahm“, ein paar eigne (Lieblings-)Verse „einzuschmuggeln“, so tat er das durchaus nicht etwa auf Bitten seiner Freunde, sondern aus Eitelkeit.
Kurt Hiller, Vorwort
Der Neuausgabe des Kondor liegt die Erstausgabe von 1912 zugrunde, die seinerzeit in einer Auflage von 350 Exemplaren erschienen ist und seit 1912 erstmals wieder vorliegt. Der Neusatz lehnt sich eng an diese Vorlage an. Umbruch und Seitenzählung der Gedichte stimmen mit der Ausgabe von 1912 ebenso überein wie Titelblatt, Typographie und Einband.
Im Anhang werden Entstehung, Bedeutung und Wirkung des Buches erläutert, sowie die bio-bibliographischen Fakten dieser frühexpressionistischen Anthologie mitgeteilt. Das Nachwort beruht auf Quellen, die ich 1962 bei der damals noch lebenden Schwester des Kondor-Verlegers Richard Weissbach (1883–1950) einsehen konnte. Die inzwischen erschienenen verdienstvollen Aufsätze von Richard Sheppard wurden dankbar benutzt. Dem Nachwort vorangestellt ist ein Dialog des Schriftstellers Herbert Eulenberg, der in der Neuen Rundschau 1913 erschien und die Zeitsituation und Aufnahme des Kondor veranschaulicht. Anschließend folgt die Bibliographie der Kritiken und Polemiken. Dem bio-bibliographischen Verzeichnis – die Autoren des Kondor und ihre Beiträge – liegt mein in Zusammenarbeit mit Ingrid Hannich-Bode verfaßtes Handbuch Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus (Stuttgart, Metzler 1985) zugrunde. Es rundet den dokumentarischen Anhang ab.
Die Idee zu dieser Veröffentlichung ging vom Buchverlag Silver & Goldstein, Berlin, aus. Rolf-Peter Baacke und Detlef Bluhm möchte ich für die Gelegenheit danken, die vor langen Jahren gesammelten Materialien ausbreiten zu können.
Paul Raabe, September 1989
– Ein Dialog über den Kondor (1913). –
Der alte Literaturprofessor: Greulich, greulich! Welch eine Generation wächst nach uns auf! Es wird immer toller. Der Pegel des gesunden Menschenverstandes ist längst von dieser modernen Literatur überschwemmt. Das ganze Land wird uns versumpfen. Greulich, greulich!
Der junge Dozent: Liegt etwas Neues vor, Herr Professor, das Ihren Abscheu gegen die heutige Schriftstellerei gesteigert hat?
Der alte Professor: Haben Sie die Verse dieser jüngsten Poetaster gelesen? Da! Hier liegt der Band voll Blödsinn. Giftig grün eingebunden. Die Farbe ist das einzige nicht Unpassende an dem ganzen Buch. Richard Weißbach heißt der Mensch, der es verlegt hat. Schwarzbach sollte er heißen! Und in Heidelberg ist es erschienen. Herrgott, wenn man denkt, so etwas hat vielleicht sogar in meinem Seminar gesessen!
Der junge Dozent: Sehr leicht möglich, sogar wahrscheinlich! Sie sprechen also von den Versen der jungen Lyriker, die unter dem Ruf Der Kondor gesammelt worden sind.
Der alte Professor: Der Kondor, ja, aber nicht der, den Alexander von Humboldt in den Kordilleren und auf dem Chimborasso bewundert hat. Diese grüne, vermausert ruppige Bestie hier würde ihm weniger imponieren.
Der junge Dozent: Bei uns in den Drahtkäfigen der zoologischen Gärten, Abteilung Raubvögel, pflegt dieser riesige schwarz-graue Vogel wohl auch anders auszusehen als auf den 4 bis 5.000 Meter hohen Kämmen um Quito in Ecuador?
Der alte Professor: Ach, lassen wir den gespreizten Titel ganz beiseite! Aber diese aufgeblasene Vorrede, die ihn an Anmassung weit übertrifft, haben Sie die gelesen, Herr Kollege?
Der junge Dozent: (nickt bejahend).
Der alte Professor: Was sagen Sie dazu? Zum Sprachloswerden, nicht wahr? Kurt Hiller heißt der Jüngling, der sie verbrochen hat. Wenn ich ihn jetzt hier hätte, diesen eitlen Pinsel!
Der junge Dozent: Aber seine Eitelkeit gibt er ja wohl selbst am Schluß seiner einleitenden Worte zu. Und im übrigen kommt er mir nicht selbstbewußter und unbescheidener vor als etwa Paul Heyse.
Der alte Professor: Nur mit weniger Recht. Tischt uns dieser Schnösel nicht zum tausendsten Male wieder die alte abgestandene l’art pour l’art – Weisheit auf „Kunst bleibt eine Angelegenheit der Wenigen“, orakelt seine Vorrede und weiter: „Die Volkstümlichkeit als Kriterium ist immer ein Unfug.“ Heiliger Goethe! Also die Lyrik gehört den Lyrikern oder, was heutzutage das gleiche heißt, den großstädtischen Kaffeehausliteraten. Ich danke dafür. Matthias Claudius war Beamter, Robert Burns Bauersmann, Mörike Mädchenschullehrer.
Der junge Dozent: Weiß der Kuckuck, was noch alles aus diesen jungen Leuten werden kann! Die Berufsfrage wird ihnen sicherlich noch genug Sorgen und Schmerzen machen. Vorläufig sind sie nur erst eines, und haben ein Recht darauf, es zu sein: ,Jünglinge‘.
Der alte Professor: Jünglinge! Diese abgelebten, abgestumpften Buben, die alles schon durchgekostet haben und durch das Leben wie durch die Friedrichstraße bei Nacht torkeln, die am Dasein nur den Schimmel sehen und den Eiter und die faulige Verwesung. Ich danke für dieses ver sacrum! Wenn so unsere ganze heutige Jugend aussieht, so möchte ich nicht das geringste mehr mit ihr zu tun haben. Diese Montmartre-Epigonen, Nachläufer Rimbauds und Verlaines, die sich nur in schlechter Gesellschaft herumtreiben und nur das Häßliche an allem sehen.
Der junge Dozent: Man kann sich, verehrter Herr Professor, die Jugend, die hinter einem kommt, ebenso wenig aussuchen wie die Zeit, in der man lebt, falls man sie nicht wie unsere lediglich alte Historie oder Sprachwissenschaft treibenden Kollegen einfach ignorieren will. Bemerken Sie, bitte, daß fast alle diese jungen „Dichter“, um dieses vielumfassende, weitauszulegende Wort auch auf sie anzuwenden, in der Großstadt aufgewachsen sind und daß dies keine schöne Umgebung zu sein pflegt, daß vielmehr das Häßliche sich hier und für junge reizbare Wesen, die am taedium vitae kranken, doppelt empfindlich hervordrängt.
Der alte Professor: Ich habe Jahre lang in Berlin gewohnt, aber ich —
Der junge Dozent: Verzeihen Sie die Unterbrechung! „Gewohnt“ sagten Sie. Aber vielleicht nicht „gelebt“, wenigstens nicht so wie diese jungen Menschen, die —
Der alte Professor: Nun muß ich Sie unterbrechen! Das ist es ja eben, was ich dieser heranwachsenden Brut vorwerfe: Sie leben ganz einseitig, nur mit ein paar unteren Organen, sie sehen vermutlich infolge ihres fortgesetzten Schwiemelns nur die Nachtseite des ganzen Daseins, sie haben – das wollte ich sagen! – den Sinn für das Wesentliche unseres Menschseins verloren. Glauben Sie nicht, daß Dante oder Goethe zuweilen im Bordell gewesen sind? Ich will es gar nicht bestreiten, ich bin gar nicht so altmodisch und zimperlich. Aber haben sie davon ein solch großes Geschrei gemacht wie diese jungen Herrchen, die samt und sonders an Koprolalie leiden und an „Unflätigkeitswohlbehagen“, wie ich diese häufige heutige Seelenkrankheit verdeutschen möchte.
Der junge Dozent: Derlei Erlebnisse hinterlassen vielleicht in unsern stillen pazifizierten Zeiten einen stärkeren Eindruck bei dem Einzelnen! Und daß der sinnliche Trieb in diesen Jungen noch mächtiger ist als der Wille zur Vergeistigung dürfte erklärlich und verzeihlich sein. Sie suchen das Un- und Außergewöhnliche, und daß sie dies in der gesättigten unbewegten Luft um unser Bürgertum nicht finden, ist doch nicht ihre Schuld. Darum steigen sie wohl zu den Dirnen und Zuhältern und Zöllnern wie weiland Christus hinab, weil das Leben hier mehr schäumt –
Der alte Professor: Und „exuberiert“, wie ihr wichtigtuender Vorbläser und Prologus sich ausdrücken würde. Wenn sie sich dort wohlfühlen, wenn ihnen die Luft um ihre Huren mit den – ich zitiere Ernst Blaß, unum pro multis ! – „Sadistenzügen um die feine Fresse“ lieber ist als der Hauch, der ein Grethchen, eine Mignon oder Ottilie umwittert, gut! ich gönne ihnen ihr Element. Sie mögen sich mit ihrer Unverlogenheit, auf die sie wohl gar noch stolz sind, brüsten und mit ihrem Lieblingswort „geil“ wunders wie lebendig, „springlebendig“ sagt man wohl heutzutage, vorkommen, und sich demiurgisch was drauf einbilden, wenn sie im Suff ein blödsinniges neues Wort wie „Gluthränz“ von sich stoßen! Wenn sie nur etwas als Dichter könnten!
Der junge Dozent: Ja, das ist allerdings die Hauptfrage. Alles übrige sind Geschmacksachen, über die man nicht streiten soll. Denn ob einer sich lieber in einer Bar herumlümmelt oder in einem Juristenkränzchen den liebenswürdigen Frauenverehrer macht, sind Nebensächlichkeiten.
Der alte Professor: Meinetwegen! Aber sie können nichts, Ihre dichtenden Jünglinge. Wissen Sie, wer ihre Verse macht? Der Alkohol oder der Reim, oder beide zusammen. Hören Sie ein Pröbchen aus dem Gedicht: „Nachtschluß bei Bols“ – anderes geht ja in der ganzen Welt nachts nicht mehr vor!
Ein seliger Ekel zeigt mir Ewiges…
O schaut aus dem verdreckten Licht der Birnen:
Es wehen Hauche naß von kühlen Firnen,
Am Stahl des Himmels zuckte Möwiges.
Ewiges, Möwiges, zum Totlachen! Eine Parodie ist überflüssig.
Der junge Dozent: Man könnte einwerfen, ob die schmutzig weiche Berliner Barmorgenstimmung damit nicht ganz gut aquarelliert worden sei. Aber gehen wir zu Wichtigerem über: Finden Sie nicht, daß dieser Georg Heym – er ertrank uns leider vor einem Jahr! – schon recht viel konnte, daß der junge Franz Werfel Schönes verspricht und daß Ihr Ernst Blaß und einer, der da heißt: Arthur Kronfeld, etwas zu sagen und neuartig „auszudrücken“ haben. Das ist das rechte Wort für ihre Art. „Ausdruck“, und darum scheint mir ihre Kunst mit der heutigen Malweise der Expressionisten und dem überfliegenden kaleidoskopischen Wesen der Futuristen verwandt zu sein und parallel zu gehen. Sie ist ebenso farbenfreudig und unvermittelt wie diese Malerei und hat die gleiche Vorliebe für das Grelle und schreiende Starke. „Glühgrün lampjongt es in den Baumbeständen“ fängt eine Notte Italiana beispielsweise bei ihnen an. Ophelia treibt „im Haar ein Nest von jungen Wasserratten“ auf dem Wasser. Und so sieht der Frühling ihnen aus:
Geht man heute durch den Stadtpark, ist das Stroh von den Beeten weg. Und schon schwillt stellenweise aus dem Braun des Rasens ein grüner Fleck.
Der alte Professor: Hören Sie auf, um Gottes willen, Kollege! Mir wird direkt schlecht, wenn Sie noch weiter zitieren. Dieses unreife Wischiwaschi, dieses sinnlose Aneinanderreihen von Worten, Gesichten und Vorstellungen, dieses Aufhäufen von Scheußlichkeiten, diese gräßliche Vorliebe für das Bunte, dieses: „Reim dich oder ich freß’ dich!“ ist mir ebenso schaudererregend und unangenehm wie der Gang durch eine moderne Bilderausstellung.
Der junge Dozent: Und mir ebenso interessant! Es brauchen ja nicht alles unsterbliche Meisterwerke von „Ewigkeitswert“ zu sein, im Zeitungsdeutsch zu reden, die der Tag emporwirft und gebiert. Wir müssen das Neue nicht gleich loben oder verwerfen, wenn wir es nur empfangen und aufnehmen wollen.
Der alte Professor: Ich nicht! Ich nicht!
(Er rennt wütend weg und überläßt den jungen Dozenten seinen Gedanken über die Trägheit der Masse und das Beharrungsvermögen des Einzelnen.)
Herbert Eulenberg
I
Im vornehmen, durch den akademischen Geist der Universität bestimmten Heidelberg lebten um 1910/11 große Gelehrte wie Max Weber und Ernst Troeltsch, Eberhard Gothein und Karl Neumann, zu denen Jüngere wie Karl Jaspers und Friedrich Gundolf neben vielen anderen gehörten. Häufig war Stefan George zu Gast, man lebte in einer gepflegten geistigen Tradition.
Doch auch die neue Zeit ging an Heidelberg nicht vorüber. Das galt auch für die Dichtung nach Stefan George. So lasen Richard Dehmel und Frank Wedekind, Heinrich Mann und Oskar Loerke, wie überall im Reich, auch in Heidelberg aus ihren Werken. Sie wurden eingeladen durch einen gewissen Richard Weissbach, der die Autorenabende der Heidelberger Gesellschaft für Dramatik veranstaltete. Diesen damals Achtundzwanzigjährigen, der auch die monatliche Beilage „Literatur und Wissenschaft“ der Heidelberger Zeitung redigierte, hatte Kurt Hiller, ein damals ebenfalls so gut wie noch unbekannter Berliner jüngerer Literat im Mai 1911 in Heidelberg kennengelernt. Dies geschah offenkundig durch Vermittlung seines Berliner Freundes, Arthur Kronfeld, der als Assistent an der Psychiatrischen Universitätsklinik tätig war und eine wissenschaftskritische Arbeit über die psychologischen Theorien Sigmund Freuds vorbereitete, die, als sie ein Jahr später erschien, großes Aufsehen erregte.
Kurt Hiller, der sich durch einen scharfen Intellekt und übrigens durch eine auffallende Glatze auszeichnete, hatte 1907 selbst in Heidelberg über die kriminalistische Bedeutung des Selbstmordes promoviert – seine Dissertation erschien 1908 in Carl Winters Universitätsverlag – und war dann nach Berlin zurückgekehrt, wo er mit seinen Freunden Erwin Loewenson und Hans Davidsohn – alias Jakob van Hoddis –, Erich Unger und John Wolfsohn nach dem Austritt aus der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung, einer nichtschlagenden Studentenverbindung, im Herbst 1909 den Neuen Club gründete, in dem ein halbes Jahr später Georg Heym als dichterisches Genie entdeckt und gefeiert wurde.
Die Freunde, von Nietzsches Philosophie wie von Stefan Georges Dichtungen gleichermaßen angezogen, veranstalteten öffentliche Vortragsabende in ihrem Neopathetischen Cabaret. Dort lasen Jakob van Hoddis und Georg Heym, Kurt Hiller und Erich Unger, Ernst Blass und Else Lasker-Schüler Lyrik und Prosa, Loewenson und Wolfsohn hielten philosophische und literarische Vorträge; Armin Wassermann und Ludwig Hardt, Tilla Durieux und Rudolf Blümmer rezitierten Rilke und Hofmannsthal und lasen Werke von Wedekind und Scheerbart.
Was es mit diesem literarischen Kreis auf sich hatte, stellte Kurt Hiller in einem Aufsatz „Die Jüngst-Berliner“ dar, den Richard Weissbach in der Monatsbeilage der Heidelberger Zeitung im Juli 1911 zusammen mit einem Aufsatz von Arthur Drey über Georg Heym veröffentlichte und der zur unmittelbaren Vorgeschichte der Anthologie Der Kondor gehört.
„Sie wünschen, etwas erzählt zu kriegen – über uns; über den ziemlich geschlossenen Kreis“, beginnt Hiller seinen unkonventionellen Zeitungsartikel. „– was sage ich Kreis? wir sind… eine Clique von Dichtern, Glossatoren und sonstwie Logophilischen, die sich, in Berlin, gegenwärtig für die neue Generation hält. (Das tut sie selbstverständlich mit Recht; wie ab 1920 beweisbar.)… Orientierungshalber also erst ein paar Namen (ich schweige natürlich tot, wen ich nicht leiden mag). Als Genialste, will sagen: Reichste, Umfangreichste, Einfühlsamste, Zusammengesetzteste, Geschmeidigste – erscheinen mir: Ferdinand Hardekopf und Ernst Blass; der am meisten Potente, wie wohl weniger Zerebrale, der Hinhauer, der Rubens ist: Georg Heym; persönlich am nächsten steht mir: Kurt Hiller; beachtenswert finde ich auch: Ludwig Rubiner, Erich Unger…“ Hiller fragt dann weiter:
Was wollen wir? – Zunächst mal: wir wollen mitnichten Tyrannen stürzen. Kitschzelebritäten, darauf vertrauen wir, sinken von selber zusammen; und die sechs, sieben wahrhaft Großen, die leben (ich nenne da Heinrich Mann, Frank Wedekind, Alfred Kerr, Karl Kraus, Rainer Maria Rilke, Stefan George, auch den frühen Hofmannsthal) – denen fühlen wir uns nicht nur nicht antipodisch, sondern geradezu religiös subjiziert.
Hiller plädiert dann für das Rationale, die Latinität in der Dichtung, wendet sich gegen die Mystik in der Form und den Selbstzweck des Stils. „Weder auf Technik noch auf Stil kommt es an… Leute, die sich des Worts bedienen, um Kunst daraus zu machen, haben etwas zu sagen. Der Essayist und Glossator, der Dramatiker und Erzähler sicherlich; aber durchaus auch der Lyriker. Wenigstens erscheinen uns jene Aestheten, die nur zu reagieren verstehen, die nur Wachsplatten für Eindrücke sind und exact-nuancensam arbeitende Describiermaschinen… als ehrlich inferior. Wir sind Expressionisten. Es kommt uns wieder auf den Gehalt, das Wollen, das Ethos an.“
Zum erstenmal wird hier, in einer Heidelberger Zeitung, der Begriff des Expressionismus nach dem Beispiel der bildenden Kunst, in der die Bezeichnung auch gerade aufgenommen wurde, auf die neue Dichtung angewandt, die Hiller als „Formung der Erlebnisse des intellektuellen Städters“ versteht. Der Artikel machte die Heidelberger Leser nicht nur mit der Keimzelle, den Anfängen des Frühexpressionismus unmittelbar und zeitgleich bekannt, sondern er wurde gewissermaßen die Geburtsstunde des Kondor, der Anthologie, die der Redakteur Richard Weissbach mit dem engagierten Berliner Schriftsteller vereinbarte. Er hatte soeben erst einen kleinen Verlag, den A bis Ω Verlag, gegründet und Gedichte eines unbekannt gebliebenen Carlo Philips veröffentlicht. Im Mai 1912 ließ er seine Firma neu in das Handelsregister als Richard Weissbach Verlag eintragen. Der Kondor wurde seine erste Verlagsveröffentlichung. Kurt Hiller, sicherlich beeindruckt von dem Engagement des unbekannten Kleinverlegers, liebäugelte dennoch vorübergehend mit dem Ernst Rowohlt Verlag, in dem im Frühjahr 1911 Georg Heyms erster Gedichtband Der ewige Tag erschienen war. „Was würden Sie äußern, wenn die Anthologie gar nicht im A bis Ω Verlag, sondern in einem der ersten Verlage Deutschlands (wo einer der größten Dichter der Zeit erscheint) herauskommen wird? (Dergleichen ist denkbar. – Aber bitte vorläufig ein absolutes Stillschweigen, da sonst beide Chancen möglicherweise verscherzt werden.)“, schrieb Hiller am 25. September 1911 an Max Brod. Das riskante Doppelspiel – charakteristisch für seinen Leichtsinn und seine Unberechenbarkeit – blieb folgenlos; Hiller hatte sich dadurch, daß er sich im Frühjahr 1911 vom Neuen Club losgesagt hatte, ohnehin Feinde geschaffen.
Am 19. September 1911 hatte Georg Heym seinen Unwillen über die von Hiller vorgesehenen Mitarbeiter in einem Antwortbrief an Richard Weissbach zum Ausdruck gebracht.
Also: Hiller hat in der von ihm geplanten Anthologie Leute zur Mitarbeit aufgefordert, die wahrhaftig absolut unfähig sind, z.B. Brod, Philipps, Werfel und sich selbst. Diese Leute mögen als Prosaiker z.T. etwas leisten, das mag ich nicht entscheiden, als Lyriker halte ich sie nicht für irgendwie bedeutend. Ich bitte, das selber nachzuprüfen. Philipps wollte Hiller ja selbst unter keinen Umständen drin haben. Auch die Gedichte von Hardekopf erscheinen mir viel zu ungeeignet. Hardekopf, soviel ich ihn kenne, ist als Prosaiker, Essayist, bedeutend, seine Gedichte nur versifizierte Glossen. Lasker-Schüler erscheint mir immer wie eine wildgewordene Harfen-Jule. Bitte nachzuprüfen. Kurz – alle diese Leute leiden an absolutem Mangel an Metaphysik, und damit sind sie gerichtet. Alles gute Zeitdichter, aber nichts weiter. Sie müssen es mir verzeihen, wenn ich meine Ansicht so offen ausspreche. Hiller speziell ist nur gut als Temperament, aber ohne jede Tiefe, wie ich gesehen habe.
In der Tat erwies sich die Aufgabe, eine einheitliche Anthologie mit Großstadtlyrik zusammenzustellen, als sehr schwierig und aussichtslos. Hiller mußte auf die Mitwirkung von Jakob van Hoddis verzichten, da man sich im Neuen Club öffentlich auseinandergesetzt hatte. Carlo Philips war wohl ein Vorschlag Weissbachs gewesen, man ließ ihn fallen. Dagegen schätzte Hiller den Prager Dichter Max Brod wegen seines noch heute lesenswerten Romans Schloß Nornepygge. Er lud ihn zur Mitarbeit ein, und Brod wiederum schlug den von ihm entdeckten Franz Werfel vor.
So war sich Hiller von vornherein im klaren, daß er das Programm der „Jüngst-Berliner“ nicht ganz in eine Buchveröffentlichung umsetzen konnte, wie dies möglicherweise anfangs geplant gewesen war. Unter den 14 Beiträgern waren immerhin 10 Berliner, neben den beiden Pragern waren zwei Heidelberger vertreten, Herbert Grossberger und Arthur Kronfeld, wobei man letzteren auch als den Berliner Gefährten ansehen konnte.
Der Verleger ließ den Band bei W. Drugulin in Leipzig, der damals besten Druckerei in Deutschland, in einer klassischen Antiqua großzügig setzen. Der geschmackvolle grüne Pappband mit dem ausführlichen Text des Titelblatts wurde am 17. Mai 1912 im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom Verleger angezeigt und im Laufe des Monats ausgeliefert. Die erste expressionistische Anthologie sollte Aufsehen erregen.
Schon der Titel des Buches ist bezeichnend. Der Kondor ist der größte Geiervogel mit einer Flügelspannweite von sechs Metern, der sich von den höchsten Kordilleren Südamerikas noch einige tausend Meter mühelos emporwinden kann, ein furchterregender schwarzer Vogel, der auch der Phantasie Georg Heyms entsprungen sein konnte.
Hiller wollte mit einem ungewöhnlichen Buch die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und dies ist ihm nicht nur durch den Titel, sondern auch durch seine provozierende Vorbemerkung zu den 97 Gedichten unterschiedlichster Gestaltung durchaus gelungen. Sie ist in bewußt übertreibender Sprache und einem verklausulierenden, akrobatischen Stil in der Verwendung auch unüblicher Fremdwörter und Neuschöpfungen abgefaßt. In seinem Bekenntnis zur Aristokratie der Kunst setzte er sich gegen die epigonalen zeitgenössischen Lyriker im Gefolge der feierlichen Georgianer, auch gegen die metaphysisch schwärmenden Charontiker und die biederen Heimatdichter ab und stellt diesem tristen literarischen Alltag, wie er ihn zeichnete, seine Autoren entgegen:
Und so plant Der Kondor, ein Manifest zu sein. Eine Dichter-Sezession; eine rigorose Sammlung radikaler Strophen. Zum erstenmal sollen hier lebende Künstler der Gedichtschreibung, und nur Künstler, vereinigt werden. Mit Proben, die ausreichen, ein Bild zu geben: Künstler einer Generation.
Kurt Hiller verstand sich damals, wie man in seiner Weisheit der Langenweile (1913) nachlesen kann, als Literaturpolitiker, als aktiver Funktionär einer neuaufkeimenden literarischen Strömung, die er zu Recht als Sezession, als Abweichung von bisherigen Reformen bezeichnete. Er fühlte sich als Wortführer, als Propagandist eines von ihm selbst mit eingeleiteten dichterischen Umbruchs. Seine Anthologie sollte in diesem Sinne eine hell auflodernde Fackel sein oder in dem von ihm gewählten Bilde ein Kondor, den man staunend seine Bahn in die höchsten Höhen ziehen sieht. Als „Künstler einer Generation“ wollte er die einzelnen Autoren verstanden wissen, wobei ihm die exakten Geburtsjahre der Else Lasker-Schüler (1869) und Salomo Friedlaenders (1871) wohl nicht bekannt waren.
Der Kondor steht, wie die beiden ersten avantgardistischen Zeitschriften, Herwarth Waldens Der Sturm (seit März 1910) und Franz Pfemferts Die Aktion (seit Februar 1911) am Anfang einer literarischen Bewegung, die in den Jahren 1910–1914 ihre frühe Blüte erlebte und nach dem Kriege 1920/22 zusammenbrach. Schon die Zeitgenossen – und wieder war Kurt Hiller, wie erwähnt, der erste, der es tat – gaben dieser Bewegung, die unterschiedliche Richtungen vereinigte, den Namen Expressionismus. Auch die fehlende Einheit im Stil und in der Haltung, die Zusammenschau des Gegensätzlichen kommt im Kondor zum Ausdruck. „Eine Richtung? Eine ,Richtung‘ will Der Kondor nicht fördern“, heißt es in der Vorbemerkung, und Hiller sieht „die Erlebnisart des geistigen Städters“ kontrastiert zur Haltung der „O Mensch“-Dichter und jener, die er an anderer Stelle einmal „Agrariker“ nannte.
So vermittelt der Kondor ein typisches Bild von der Vielfalt der Möglichkeiten in den Dichtungen des Expressionismus. Im Mittelpunkt stehen die zehn bekannten Gedichte Georg Heyms, die dieser, wie Hiller schreibt, selbst aus seinem Band Der ewige Tag kurz vor seinem Tod ausgewählt hatte. Wenn der Herausgeber in seiner Vorbemerkung mißverständlich behauptet, „daß auf diesen Blättern die wertvollsten Verse stehn, die seit Rilke in deutscher Sprache geschrieben wurden“, so sind damit zu Recht die Gedichte Heyms gemeint, dessen sinnlosen Tod ein „aufreizender Mißgriff Gottes“ – Hiller in einer ihn aufs höchste ehrenden Weise beklagt.
Den Auftakt der alphabetisch angelegten Anthologie bilden die Gedichte von Ernst Blass; sie sind Ausdruck einer nervösen modernen Großstadtlyrik, die mit den Versen von Ferdinand Hardekopf und Ludwig Rubiner – beide von Hiller hochgeschätzt – zu den stärksten und typischsten Dichtungen des Bandes zählen. Für Ernst Blass, den heute so gut wie vergessenen Schriftsteller, bedeutete die Verbindung zu dem Heidelberger Verleger den Auftakt zu einer lebenslangen Freundschaft, die mit der Veröffentlichung seines ersten Gedichtbuchs Die Straßen komme ich entlang geweht noch im gleichen Jahr 1912 ihren Anfang nahm.
Daß der später sehr bekannte Heidelberger Professor der Psychiatrie, Arthur Kronfeld, vertreten ist, hängt wohl mit der Freundschaft zu Hiller zusammen, während der andere Heidelberger, Herbert Grossberger, wohl auf das Konto von Weissbach ging. Ihre Gedichtbeiträge wurden von den Kritikern besonders abqualifiziert.
Auch Arthur Drey, 22jährig wie Blass, Grossberger und Werfel damals, war ein von Hiller sehr geschätzter Freund aus dem Kreis des Neuen Clubs; seine schwermütigen Verse wurden im Gegensatz zu den Gedichten aller andern Beiträger weder vorher noch nachher wieder gedruckt. Als Außenseiter mochte man Else Lasker-Schüler und ihren Wuppertaler Landsmann, Paul Zech, auch Salomo Friedlaender und René Schickele in dem Kondor-Kreis sehen, und doch signalisiert ihre Mitarbeit, so unterschiedlich ihre poetischen Standorte auch waren, daß sie sich dem Neuen, dem Expressionismus, zugehörig fühlten, weniger im Stil, als vielmehr im Engagement. Besonders die berühmten Gedichte Else Lasker-Schülers zeichnen den Kondor aus und geben ihm Farbe und Anspruch. Das gilt auch für Franz Werfel, der die charakteristischsten Texte seines ersten Gedichtbuchs Der Weltfreund – ein halbes Jahr zuvor erschienen – beisteuerte und als Antipode Georg Heyms das Diesseits besang. Daß der junge Werfel von Max Brod, der mit einigen Proben seiner Lyrik vertreten ist, gelernt hat, wird man feststellen können, aber auch, wie schnell der Jüngere über ihn hinauswuchs.
So ist der Kondor in der Vielfalt der Temperamente und Tendenzen ihrer Beiträge ein typisches Werk des frühen literarischen Expressionismus, den man ja auch allein in der Vielfalt seiner Ausdrucksformen verstehen kann. Daß es schließlich den Herausgeber in seinen publizistischen Stärken und seinen menschlichen Schwächen selbst charakterisiert, macht die Anthologie liebenswert, denn Kurt Hiller hat „aus Eitelkeit“, wie er schreibt, zehn eigene Gedichte eingefügt. Er ist damit so stark wie Georg Heym oder Else Lasker-Schüler, Franz Werfel oder Arthur Drey vertreten. Mit seinen rührenden Versen, hinter denen man den glänzenden Dialektiker und Polemiker, den Glossenschreiber und Essayisten nicht ohne weiteres vermuten kann, wollte Hiller offenkundig auch die Sammlung relativieren, dem Kondor ein wenig die Flügel stutzen. Vor allem aber wollte er so seine Kritiker provozieren, und das ist ihm mit dem Band, seinem Vorwort, seinen eigenen und seiner Freunde Gedichte so gelungen, daß sich dem Erscheinen des Bandes ein Kondor-Krieg anschloß, der leidenschaftlich geführt wurde, wie es letzten Endes der Herausgeber angezettelt hatte.
II
Erstaunlich ist – das sei zunächst vorausgeschickt – die Aufgeschlossenheit der Presse gegenüber dem Neuen. Es ist vom heutigen Standpunkt kaum nachzuvollziehen, wieviel Raum den Feuilletonchefs der Zeitungen im ganzen Reich zur Verfügung stand. Auch die Zeitschriften hatten Interesse an der Mitteilung der Neuerscheinungen, und so brachte der Bühnen-Roland schon am 13. Juni 1912, einige Wochen nach Erscheinen des Kondor die erste Kritik, verfaßt von dem Berliner Schriftsteller Max Jungnickel, der auch in der Aktion veröffentlicht hatte. Die fast einzige positive Kritik sei einleitend vollständig zitiert:
Bei Richard Weissbach in Heidelberg ist ,eine rigorose Sammlung radikaler Strophen‘ erschienen. Der Kondor ist die interessanteste Gedichtsammlung, die seit Rilke, dem feinen Schöpfer manches Künstlergebetbuches geschrieben wurde.
Kurt Hiller, einer der kultiviertesten Kerle im jungen Deutschland, einer mit strahlendem Horizont, ein Attackenreiten gegen Krämergehirne und Kitschseelen, leitet das Buch temperamentvoll ein.
Der Kondor enthält Strophen, die man lesen muß mit innerem Gesicht. Hier sind die Berufensten, die die Sprache der Seele reden; eine Sprache ohne Erdenschwere.
Seltsame Stimmungen und Empfindungen klingen an. Lebensblicke und Gefühlstiefen sind bedeutend erweitert. Neue Persönlichkeitswerte schimmern hier auf. Neue Lauscheseelen formten hier Strophen.
Weil diese Kondorkerle mehr können als Verse schreiben, deshalb zerfetzen sie jeglichen Formkultus.
Unendliche Verfeinerung und Differenziertheit des Nervensystems zeichnet diese Gedichtkünstler aus.
Der Kondor bringt die klangvollsten Namen. Ich nenne aus der Fülle nur einige: Georg Heym, der farbenpeitschende, jung hingesichelte Poet. Ferdinand Hardekopf, der mutige Przybyszewsky-Prophet. Gesten und Gebärden lösen ihm Klänge aus. Max Brod, der aus Alltag lauter Feiertag macht. Paul Zech, der glücklichste Landschaftsmaler unter den Poeten unserer Tage. Else Lasker-Schüler, mit Tönen voll schmelzender Weichheit und Bildern voll seltener Pracht und Leuchtkraft, mit wundersamen Seelentraumwäldern und überirdischem Leuchten.
Ich bin gewiß: Mancher Leser wird beim Anblick dieser wunderfremden, verschwärmten Strophen lächeln. Dieses Lächeln ist geradezu begreiflich, wenn man an all die gezuckerten, verschminkten Reimveteranen in unseren Tagen denkt.
Vier Wochen später veröffentlichte der von der Jugend verachtete Ernst Lissauer im Literarischen Echo, der instruktivsten literarischen Wochenschrift, seine Kritik in Form einer Zitatensammlung in verhöhnender Absicht:
,Proben und Stücke‘ als ,kurze Anzeige‘: ich setze Vorrede und Verse in fröhliche Korrespondenz. ,Auch wir sind Verächter pöbelmäßigen Schluderns‘.
Kurt Hiller hatte sich auf Erwiderung eingestellt und hatte für die schweren Geschütze seiner angriffslustigen Repliken von Franz Pfemfert, zu dem er in diesen Monaten noch in leidlich guter Beziehung stand, Raum in der Aktion zur Verfügung. Da heißt es:
… Der knorr’ge Lissauer, der zwischen Kunscht und Kritik klassizistisch strenge Grenzen zieht, sich also als Richter nimmermehr für befangen erklären wird, weil er als Dichter von dem zu Richtenden bekämpft worden ist; der knorr’ge Lissauer revanchiert sich. Er bringt, im Literarischen Blecho, Verse des Kondor… und sucht, aber kommentarlos, auf diese Art zu beweisen, dass beispielshalber Hardekopf ein Schluderer, Schickele un-neu, Ernst Blass gar das Gegenteil eines geistigen Städters sei.
Auch auf Heinrich Lautensack, den Münchener Schriftsteller, der sich in der Deutschen Tageszeitung vom 21. Juli 1912 höchst abfällig über die Kondoristen geäußert hatte, schlug Kurt Hiller unter dem Titel Kondorkritiker II polternd und fast beleidigend ein:
Jener Lautensack, dessen Tuntenhauser Barock mich ja oft lächert, hat in ein antisemitisches Fachblatt über den Kondor Formeln geträufelt, die diesen Sack, sogar bei unsern (anständigeren) Gegnern, endgültig unmöglich machen würden, – wenn er das nicht längst wäre. Er quatscht mit der Kessheit aller Schwachdeetze die ersten Köpfe des jungen Deutschland an.
Als gar Julius Bab – bei den jungen Berliner Literaten so verhaßt wie Lissauer – den Finger hob und in seinem Theatrum lyricum, einer Artikelserie in der Gegenwart während der Theaterferien 1912 „mit dem in jedem Sinne grünen Bande Der Kondor“ ins Gericht ging und – von Georg Heym abgesehen – alle Mitarbeiter als „dreiste Dilettanten“ und „Versifixe“ disqualifizierte – „was der Kondor Gutes bringt, ist nicht neu, und was er Neues bringt, ist nicht gut“ –, da meldete sich die Konkurrenz zu Wort. Herwarth Walden, mit Kurt Hiller inzwischen zerstritten, nimmt die Kondorkritik zum Anlaß, mit Julius Bab, dem „Lyriksucher“ im Sturm abzurechnen:
Andere Leute benutzen die schöne Sommerszeit einmal zu baden. Der Oberlehrer Julius Bab hätte es vielleicht auch nötig gehabt. Seit Jahren rennt er auf den Wegen zum Drama hin und her, und hat dabei so viel Staub aufgewirbelt, daß der Menschheit die Ruhe seiner menschlichen Bedürfnisse zu gönnen gewesen wäre. Der Julius Bab erholt sich auf seine Weise und geht zur Sommerszeit in das Theatrum lyricum.
Walden holte weit aus und rechnete mit Bab so ab, daß eine lebenslange Feindschaft die Folge des Kondorfluges wurde. Dabei fand Walden selbst, damals noch mit Else Lasker-Schüler verheiratet (die ihm den schönen poetischen Namen umgehängt hatte), den offenkundig aufsehenerregenden grünen Band selbst natürlich nicht gut.
Nun ist der Kondor schon deshalb eine schlechte Anthologie, weil er Gedichte von Personen enthält, die nicht einmal Dichter sind… Mit großem Bedauern lese ich den Namen Else Lasker-Schüler in diesem Buch. Sie wird vielleicht die Gefolgschaft ebenso wenig gekannt haben, wie die drei Dichter, die in dem Buch außer dieser Künstlerin noch enthalten sind…
Eine solche Schützenhilfe konnte die „Kondoristen“ nicht befriedigen, und so sprang Ernst Blass in der Aktion („Kondor-Kritiker III“) in die Bresche und versuchte, nicht belustigt wie Hiller, sondern eher ein wenig empfindlich gekränkt, Stellung zu beziehen:
Die Gedichtsammlung Der Kondor ist in den deutschen Blättern zumeist absprechend rezensiert worden. Der Raubvogel, der sich auf die Schädeldecken unserer Zeitgenossen sürzte, und dem es gelang, Köpfe zu zerhacken, von deren Härte man glaubte, Wände könne man damit einrennen –, dieser Raubvogel ist bei deutschen Schreibgestalten nicht beliebt geworden. Ihrer Gehirne Schmutz befleckte des Vogels heftige Majestät. Doch die Flecken sind Trophäen. Dies allgemein bemerkt. Zu den in dieser Zeitschrift bereits skizzierten Gesichtern von Kondorkritikern kam nun ein neues von noch schärferem Profilmangel. Mit sandiger Stimme ein Lehrer: Der treffliche Herr Julius Bab. Ernst und ergriffen und mit jener nachtwandlerischen Sicherheit, die ihn, wenn er fehl geht, nie verlässt, hat er gemeint, Ernsthaft-Abfälliges über den Band sagen zu müssen. Voll Ueberzeugung.
Das Wesen des Mannes hat im Ganzen etwas Rührendes. Man ficht gegen ihn, doch ohne Lust. Lieber möchte man sich nach der Lektüre eines Aufsatzes von Bab hinsetzen und stundenlang weinen: über diese Reinheit, diese bestrebte Treue, dies Vorbei traben am Entscheidenden.
Dennoch: Kurt Hiller hatte mit seiner Anthologie und ihrem markanten Vorwort Aufmerksamkeit, Empörung, Ablehnung bewirkt. Die Werbung des Verlegers mit dem Wort von der „rigorosen Sammlung radikaler Strophen“, dieser „Dichter-Sezession“ auf der Bauchbinde und in den Anzeigen hatte Erfolg: die Schlagwörter wurden zu Überschriften der ablehnenden Kritiken. „Ach, du arme blaue Blume jugendlicher Romantik, wie hast du dich verändert! Die neuesten unserer Dichter setzen uns in überwältigendem Überfluß Gestank, Kot, Gespei, Pfütze, Dreck, Kadaver, schwadig, madig und Darmverschlingung vor. Es wimmelt davon nur so in diesem Buche“, schrieb die Vossische Zeitung, und das Hamburger Fremdenblatt stellte fest:
Es ist nicht nur widersinniges und widerwärtiges und bestenfalls läppisches Zeug, was sie zur Schau stellen; dahinter hohnlächelt trotz aller Dekadenz und blasierten Müdigkeit die blanke Rechenkunst, die den Erfolg der Spekulation auf Unsicherheit und Modesklaverei der lieben Zeitgenossen überschlägt. Aber es soll sich schon manch einer verrechnet haben, und die ehrliche Hoffnung, daß die „Kondorigen“ an dem gesunden Kern unseres Zeitempfindens scheitern und in ihren absinthfarbigen Sumpf zurücksinken mögen, wird nicht enttäuscht werden.
Die Kölnische Zeitung resümierte ebenfalls nach einer ausführlichen Berichterstattung:
Der Kondor ist ein durch und durch ungesundes, undeutsches Buch. Wir zweifeln jedoch nicht daran, daß gewisse Kreise diese ,Dichter-Sezession‘ als eine befreiende Tat begrüßen werden; denn je gewagter und zügelloser eine neue Richtung auftritt, um so lauter wird erfahrungsgemäß für sie ins Horn gestoßen. Aber allem Cliquenwesen zum Trotz, halten wir es im Zeitalter der Kubisten und Futuristen für unsere Pflicht, diese Anthologie als das zu kennzeichnen, was sie wirklich ist: ein trauriges Machwerk und eine Irreführung des dichterischen Geschmacks.
Fritz Hammer griff im Deutschen Literaturblatt das verhängnisvolle, auf die Diffamierung der Moderne als entarteter Kunst vorausweisende Wort von dem ungesunden undeutschen Buch auf und schließt:
Die Herren Kondoristen mögen ihre ,Gedichtschreibungen‘ für die ,wertvollsten Verse seit Rilke‘ halten, das soll ihnen nicht verargt werden. Für reife Menschen von Geschmack und Urteil kommt diese Art von rasseloser Dichterei literarisch überhaupt nicht in Betracht.
Am gleichen Ort äußerte sich Michael Georg Conrad, der dreißig Jahre zuvor als Herausgeber der Gesellschaft selbst eine literarische Revolution mit eingeleitet hatte. Er konnte für die jungen Autoren kein Verständnis aufbringen:
Die Kondoristen wissen und ersehnen nichts von Rasse und Deutschtum, nichts von der Rückkehr zu den vorbildlichen Gipfelleistungen unserer bodenständigen künstlerischen Gesamtkultur… Wir haben nichts gegen das Leben der großen Stadt und seine künstlerische Gestaltung in der Lyrik. Wir fordern aber, daß diese Gestaltung wirklich neue Kunst sei, Persönlichkeitsleistung voll Ernst und Schönheit zur Bereicherung deutschen Lebens, Erhöhung des Geistes.
Allerdings lassen diese Kritiken auch in ihrer Ablehnung erahnen, daß der Kondor seine Wirkung nicht verfehlte. In der konservativen Beilage zum Literarischen Zentralblatt für Deutschland wird das so gesehen:
Ein unerquickliches Buch: aber keins von den Lauen; man mag sich zu den Gedichten stellen wie man will, Ehrlichkeit und das Bestreben, sich selbständig zu behaupten, kann man den Meisten nicht abstreiten… Für den Zünftigen hat das gut ausgestattete Buch sicherlich ,orientierende‘ Bedeutung; darüber hinaus aber können wir es kaum empfehlen.
Ernsthafter waren Einwände und Zustimmung der Schriftsteller und Kritiker zu bewerten, die im gleichen Boot wie Hiller und seine Mitarbeiter saßen. Erich Mühsam beispielsweise, der unerschrockene Anarchist, Poet und Publizist, hatte in seiner Zeitschrift Kain schon im Februar 1912 geschrieben:
Die Berliner Produktivität hat sich von der Produktion emanzipiert. Sie begnügt sich mit der Verherrlichung der Reproduktion. Laßt uns Musik komponieren, Bilder malen, Lyrik dichten, wie Kerr und Hardekopf Kritiken schreiben! – Mit diesem Programm gründen die Jüngsten Literaturzirkel.
Dies greift der Kain-Herausgeber auf, als er im August 1912 „Die Rigorosen“ vorstellte als ein „Manifest des lyrischen Nachwuchses“:
Der Kondor ist der niederdrückende Beweis meines Urteils. Was Gutes in dem Buch steht, kommt von Dichtern, die uns von Herrn Hiller nicht mehr präsentiert zu werden brauchen: von Else Lasker-Schüler, von Max Brod…, von René Schickele.
Ausführlich würdigt Mühsam außerdem die Gedichte von Werfel, Heym und Hardekopf. Doch schonungslos legte er die Schwächen in den Versen der übrigen Autoren dar und ging schließlich mit dem Herausgeber ins Gericht:
Sehr komisch ist nun Herr Hiller in seiner (einleitenden) Polemik. Er erwürgt nämlich mit viel Vokabelschwall die Kunst Stefan Georges, die nun, ebenso wie die der Nachgebliebenen der ,literarischen Revolution‘, von den Kondoristen endgültig überholt und an die Wand gequetscht ist. Der Aesthetizismus ist tot und der Naturalismus insgleichen… „Was alle diese treiben ist nicht Kitsch, sondern immerhin schlechte Kunst“, erklärt Kurt Hiller (einleitend) und meint damit Stefan George, die Naturalisten und die Heimatkünstler.
Hiller sah sich, was die Verehrung für Stefan George – die wirklich echt war – anlangte, gründlich mißverstanden und verwahrte sich in einem Brief an den Redakteur unter Berufung auf den Presseparagraphen gegen diese „Unterstellungen“:
Diese Behauptungen sind unwahr. Wahr ist vielmehr, daß ich, in Uebereinstimmung mit allen Mitarbeitern meines Gedichtbuchs die Kunst Stefan Georges aufs äusserste verehre und dieser Verehrung, in der Vorrede zum Kondor, unzweideutigen Ausdruck verliehen habe…
Belustigt druckte Mühsam den Brief „Herr Hiller berichtigt“ ab und schließt nicht zu Unrecht mit einem Ratschlag:
Vielleicht empfiehlt es sich, Herr Hiller, wenn Sie sich künftighin bestrebten, auch dann, wenn Sie nicht schmerzhaft gekitzelt sind, sondern sich ,nur aus Eitelkeit‘ literarisch produzieren, eine Deutlichkeit des Ausdrucks zu erzielen, wie er Ihnen in dem Briefe an mich so vortrefflich gelingt.
Privatbriefe unberechtigterweise, dennoch folgenlos in literarischen Zeitschriften zu veröffentlichen, gehörte in der Zeit des Expressionismus zu den Umgangsformen literarischer Auseinandersetzungen. So gewähren zwei Briefe Kurt Hillers an den Verleger Hermann Meister in Heidelberg, den Kollegen Weissbachs also, vom Absender ungewollte Einblicke in seine literaturpolitischen Praktiken. Meister veröffentlichte sie im Septemberheft seiner Zeitschrift Saturn, die er pikanterweise mit dem Kondorbeiträger Herbert Grossberger herausgab:
Berlin W30,
Nollendorfstrasse 34
9. / VIII. 12.
Sehr geehrter Herr!
Durch Paul Zech erfahre ich, dass Herr A. Ehrenstein es sein dürfte, der im Saturn den Kondor würdigt. Sie können (möglicherweise) nicht wissen, dass Herr A. Ehrenstein eine Gehässigkeit gegen mich produziert (seit seinem ersten Auftreten), wie sie unter Journalisten seines Niveaus selten ist. Eine, anfangs sachlich und übrigens auch persönlich vollkommen ungerechte, Gehässigkeit, die, wie ich nicht leugnen will, seit meinen jüngsten Notizen über ihn allerdings an privater Begründetheit gewonnen hat. Dies alles ist Ihnen, sehr geehrter Herr, (möglicherweise) unbekannt. Aber kraft dieser Zeilen ist es Ihnen nun bekannt geworden. Und ich darf Ihnen daher mitteilen, dass ich eine Vergebung des Kondorreferats an Herrn A. Ehrenstein als einen Affront gegen mich von jetzt an betrachten werde. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass dem Saturn glücklicherweise begabtere Rezensenten zur Verfügung stehen; also nichts weniger als eine Notlage vorliegt. So fern mir die Absicht liegt, mich in Ihre Redaktionsangelegenheiten einzumischen, so bestimmt hoffe ich, dass der Vorsatz, mich ostentativ zu beleidigen, Ihrerseits nicht existiert; und ich darf daher wohl annehmen, dass Sie das Referat jetzt einem anderen Ihrer Herren Mitarbeiter übertragen werden. Das wäre auch deshalb schon wünschenswert, weil sonst die Gefahr droht, dass ich gegen einen im Saturn erschienenen Artikel öffentlich zu Felde ziehe – : was mir, da einige meiner literarischen Freunde am Saturn mitarbeiten, unangenehm sein würde.
Ich möchte hinzufügen, dass ich Vergebung des Referats an die Herren Stoessinger oder Kurtz ebenfalls als persönliche Beleidigung auffassen müsste; (Herr Stoessinger ist von meinem Freunde Blass, Herr Kurtz von mir heftig angegriffen worden).
In vorzüglicher Hochachtung
ergebenst:
Kurt Hiller
Berlin W 30,
Nollendorfstrasse 34,
12. / VIII. 12.
Sehr geehrter Herr!
Zu meiner Freude erfahre ich von Herrn Doktor Kronfeld, dass eine Absicht, Herrn Ehrenstein mit der Kondorbesprechung zu betrauen, Ihrerseits nie bestanden hat; dass Paul Zech mich also falsch orientiert hat. Ich nehme daher die, wiewohl bloss hypothetische, Schärfe meines letzten Schreibens mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück.
(Aber „belletristische Sächelchen“ werde ich doch nie herstellen können!)
Hochachtungsvoll
ergebenst:
Dr. Kurt Hiller
Der 22ährige Hermann Meister, der selbst die Absicht gehabt hatte, die Kondor-Kritik zu schreiben, was nunmehr unterblieb, fügte genüßlich einige Sottisen gegen Hiller an, die dieser in der Aktion „In eigener Sache“ zu widerlegen suchte:
Der Verleger einer bunten Zeitung Unter-Badens rempelt mich an. Ich sei Freibeuter, Erpresser und sonst noch was.
Man könnte erwartet haben, daß der Jurist Dr. Kurt Hiller mit einer Strafanzeige geantwortet hätte. Mitnichten. Der Moralist Hiller hatte sogar Verständnis: „Privatbriefe ohne Einwilligung des Absenders zu veröffentlichen, mag in manchen Fällen nicht unanständig sein“, schreibt er. Doch empörend für ihn war, daß Hermann Meister den „Privatbrief, den der Sender anstandshalber widerrufen hat, dennoch nachträglich“ veröffentlichte:
Das würde ich mit einem außergewöhnlich scharfen ethischen Unwerturteil belegen.
Doch für Hiller zählte nur, daß er zum Gesprächsthema wurde. Entwaffnend ist deshalb der Schluß, den er aus der Saturn-Publikation zog:
Ich habe nichts gegen befangene Richter. Falsches über meine Sache pflegt meiner Sache zu nützen; Gehässiges gegen meine Person, sofern es nicht allzu dumm ist, wirkt glossogen, – nützt daher letzten Endes auch meiner Sache.
Nicht Hermann Meister – der übrigens mit einer Glosse Hillers Erwiderung beantwortete –, wohl aber dem Wiener Lyriker und Erzähler Albert Ehrenstein, der soeben mit seinem Tubutsch berühmt geworden war, gelang es, die Kondor-Polemik so weit zu treiben, daß sich Hillers Freunde gezwungen sahen, eine öffentliche Ehrenerklärung für den Geschmähten abzugeben. Gewiß war es von Hiller wieder einmal unvorsichtig gewesen, die Abneigung gegen Ehrenstein, die durch den veröffentlichten Privatbrief bekannt war, dadurch zu verstärken, daß er zur Eröffnung des ersten Abends seines literarischen Kabaretts Gnu am 31. Oktober 1912 den Tubutsch-Dichter auf seine flapsige Art anpöbelte. Die „Anmerkungen“ Albert Ehrensteins allerdings, die Herwarth Walden im Novemberheft des Sturm abdruckte, waren so verletzend, daß es selbst dem hartgesottenen Kurt Hiller die Sprache verschlug. Er, der in seiner Polemik in den Ausdrücken nicht zimperlich war, der sich für andere leidenschaftlich und aus ehrlicher Überzeugung einsetzte, auch wenn es seiner eigenen Eitelkeit schmeichelte, sah sich auf unflätigste Weise verletzt. Nur einige Sätze mögen zeigen, wohin literarischer Haß führen konnte:
Ich hasse billige Exotismen – besonders wenn sie kopiert sind. Ein Fichtenbaum träumte von einer Palme. Hierauf sehnte sich der Esel Ku. H. so heftig nach einem Gnu, daß diesem Wunschtraum ein Lesekränzchen entsprang. Später verwandelte sich der Esel in einen Tölpel, der von einem Kondor träumte. Das Resultat war das Manifest eines Paniaken. Wenn ein gewisser Aktionär schon so weit wäre, sich für ein Schwein zu halten, würde er sich noch immer einen Tapir nennen.
Einen subalternen Interpunktionär, Schöpfer etlicher Einleitungen und anderer minderwertiger I-punkte, der ,literarisch‘ davon lebt, daß er die Einleitungen zu den Dichtungen anderer schreibt, nicht geben, sondern nur herausgeben kann – nenne ich einen Kritikastraten. Wenn sich aus einer Wanze, Blattwanze eine Lantze entwickelt, die im Lantzieren und Abtreiben von Besprechungen den Rekord hält, so nenne sich das – ,Weltverbesserich‘.
Einer nannte sich ,Hiller‘. Das klingt wie ein impertinenter Komparativ von Hille, Peter Hille – ist aber ein außerordentlich unregelmäßig gebildeter Superlativ von Kot. Denn außer Hiller schreibt niemand in Deutschland-Oesterreich elendere Gedichte als Hiller.
So geht es im Text noch deftiger weiter. Es spach für die Solidarität der Schriftsteller Ernst Blass, Franz Blei, Arthur Drey, Ferdinand Hardekopf, Wilhelm Herzog, John Hoexter, Herbert Ihering, Heinrich Eduard Jacob, Friedrich Koffka, Arthur Kronfeld, Alfred Lichtenstein, Robert Musil, Franz Pfemfert, Erich Unger und Alfred Wolfenstein, daß sie eine „Erklärung“ erzwangen, die Herwarth Walden in seinem Sturm abdrucken mußte (was ihn nicht hinderte, neue Anwürfe Ehrensteins hinzuzusetzen):
Wir wollen, daß man unseren Widerwillen teile gegen so häßliche, schlecht geformte und gar nicht dokumentierte Beleidigungen. Der Schriftsteller Kurt HiIIer, dessen Tapferkeit, dessen enthusiastische Geistigkeit unseres Schutzes nicht bedarf –, möge wissen, daß wir kameradschaftlich auf seiner Seite stehen.
Selbstverständlich war den Beteiligten bewußt, daß sich Kurt Hiller, verliebt in seinen eigenwilligen Stil, in der Spontaneität seiner Einfälle, der Unvorsichtigkeit seiner Formulierungen und dem Unkonventionellen seiner Behauptungen allzu oft Blößen gab. Doch das machte ihn auch wiederum liebenswert, denn er focht mit den Waffen des Wortes. Er hielt sich für kampferprobt in der Arena einer neuentdeckten, höchst lebendigen Literaturszene. Deshalb stellte sich auch Alexandra Ramm, die Frau Franz Pfemferts, schützend vor ihren Mitarbeiter gegen die Anwürfe des Saturn und der „Bücherei Maiandros“, in der Alfred Richard Meyer seine Rechte an den Kondor-Autoren anmeldete und Kurt Hiller als Usurpator empfand.
Im Laufe des Herbstes 1912 ebbte die Polemik ab. In den Tageszeitungen erschienen in dieser Zeit auch einige verständnisvolle Kritiken, so von Kurt Erich Meurer, dessen Lyrikbände später im Saturn-Verlag Hermann Meisters erschienen. Er bekannte, daß für ihn der Kondor „als Offenbarung eines vielfach neuwertigen lyrischen Gestaltens… zum Erlebnis wurde“. Er fährt fort:
Der Kondor ist eine von Kurt Hiller herausgegebene Anthologie junger Dichter, die energisch bemüht sind, den Sinn der Zeit mit einer Indifferenz allem bislang Verpönten und scheinbar künstlerisch nicht Möglichen gegenüber in ihren Strofen aufzuzeigen.
Emil Faktor, der Berliner Journalist und Schriftsteller, hatte ebenfalls Verständnis für die Absicht des Kondors:
Mit Kriegsmusik und Manifesten setzt der aufrührerische Kurt Hiller den Aufmarsch von vierzehn Lyrikern in Szene… Das faule Kompromißlertum mancher Lyriksammlung macht das Auftreten Hillers sympathisch, obwohl seine Tendenzen frischer sind als die getroffene Auswahl. Es sind nicht lauter radikale und neue Verse in dem Buche, wie das gedankenkräftige Vorwort verspricht. Allerdings wird Wort gehalten mit der wohlbegründeten Abneigung gegen kühles Wortpriestertum, gegen metaphysische Verschwollenheit und tintigen Schollendampf.
In Würzburg schrieb Rad Willy Straub, ebenfalls später ein Autor des Saturn-Verlages, für die Bayerische Landeszeitung:
Radikalismus!
Daran erkennen wir die neue Generation!
Jetzt eben hat sie sich manifestiert in einem Buche, das trotz des kurzen Zeitraumes seit seinem Erscheinen bereits die literarische Welt in zwei sich aufs heftigste bekämpfende Heerlager geteilt hat… In dem leidenschaftlichen Glauben, daß der Naturalismus mitten im Werke steckengeblieben sei, knüpfen sie dort an, wo jenem der Mut ausging. Mit einer Rücksichtslosigkeit, deren nur die Jugend fähig ist, nennen diese neuen Naturalisten das Kind beim richtigen Namen. Daß sie dabei unlyrisch werden, kümmert sie nicht. Das alte Gebäude zu zertrümmern gilt es, und da ist jedes Mittel willkommen.
Von dem richtigen Instinkte ausgehend, daß die Lyrik der Gegenwart an den ungeheuren Kämpfen und Problemen der Zeit vorübergehe, daß aus der Lyrik der Gegenwart nicht der Schrei der zerrissenen Seele des 20. Jahrhunderts herauszuhören sei, daß sie nicht der Spiegel der Kultur eines Jahrhunderts sei, das mit der Vervollkommnung der Technik zum Zeitalter der dämonischen Titanen sich entwickelt hat: in der richtigen Erkenntnis, die nur dem Naiven, dem Künstler zum Bewußtsein kommt, bemächtigen sich diese Neuen skrupellos aller jener Stoffe, die uns unsere Zeit als diejenige erleben lassen, die sie ist.
Und damit ist auch gleichzeitig das Wesentliche der neuen Richtung, die keine ,Richtung‘ sein will, angedeutet… Selten ist ein Versbuch in dem Maße zum Spiegel seiner Zeit geworden wie der Kondor. Und hierin wie in der Aufrüttelung der Massen mag sein Hauptwert liegen.
So wie hier der Kondor in die Gesamtentwicklung der Lyrik eingeordnet wurde, verstand es auch der frühexpressionistische Lyriker Ernst Stadler in Straßburg, das vielgeschmähte Buch zu würdigen:
Die lyrische Anthologie Der Kondor, die Kurt Hiller herausgegeben hat, ist ein Buch, das man – trotz mancherlei Einwänden – loben sollte. Es zeigt Einsicht und Instinkt für das Neuwertige, Keimkräftige innerhalb der deutschen Gegenwartslyrik, stellt sich mit seiner Polemik scharf und deutlich auf den rechten Fleck (mag auch der Ton der überflüssig provozierenden Vorrede manchmal fehlgreifen) und gibt alles in allem, trotz seiner zuweilen wenig glücklichen Zusammenstellung, ein gutes Bild von dem, was die heutige lyrische Generation Neues zu sagen hat. Man sollte dies Buch übrigens schon darum loben, weil eine dumme und verantwortungslose Tageskritik seine Gewagtheiten zum billigen Vorwand genommen hat, ihren dünnen Witz spielen zu lassen und ihre absolute Kunstfremdheit jedem Einsichtigen wieder einmal zu dokumentieren.
In diesem Sinne wurde der Kondor als Dokument einer neuen literarischen Richtung, die sich bald als Expressionismus verstand, hoffähig. Im Orplid, der sympathischen Bücherzeitschrift des Axel Juncker-Verlags, wurde der Kondor zu Weihnachten 1912 empfohlen:
Das Buch ist zwar nicht vergessen, aber wir wollen auch nicht, daß es jemals geschieht. Dichterschulen hin – Schulen her – es gibt nur zwei Arten von Lyrik, gute und schlechte: dies ist gute. Wer mehr davon will, kaufe die Bücher von Ernst Blass, Max Brod, Georg Heym, Franz Werfel.
Und im gleichen Sinne stimmte der Zwiebelfisch ein:
Dieser schöne, von Drugulin gedruckte Band… wird vielleicht später einmal gesucht sein wie jetzt die ersten Nummern der Blätter für Kunst.
III
So hatte Kurt Hiller mit der Herausgabe des Kondors und der exemplarischen Vorstellung von 14 bekannten und unbekannten Autoren am Ende sein Ziel erreicht: was vom Neuen Club und dem Neopathetischen Cabaret in Berlin ausging und in Hillers Cabaret Gnu bis zum Ausbruch des Weltkrieges ihren Fortgang nahm, was sich in den avantgardistischen Zeitschriften, dem Sturm, der Aktion seit 1910/11 vereinigte, was in München und Prag, in Wien und Heidelberg ein Echo fand, war der Aufbruch einer literarischen Generation, die in der Auflehnung gegen die Welt der Väter und im Bewußtsein der Modernität ihres Großstadtlebens in der Dichtung eine neue Form fand.
Aus der „Dichter-Sezession“, die Hiller angekündigt hatte, wurde die Phalanx der expressionistischen Literatur. Ihre Bücher erschienen in neuen und alten Verlagen. Ihre Theaterstücke eroberten die Bühnen. Ihre Texte füllten Hunderte von Zeitschriftenheften. Ihre Manifeste trugen zur politischen Auseinandersetzung am Ende der Kaiserzeit bei.
Die bereits arrivierten Kondor-Autoren wirkten an dieser literarischen Bewegung durch ihre Bücher und Beiträge mit: Else Lasker-Schüler und Max Brod, René Schiekele, Paul Zech und S. Friedlaender, der sich als Mynona maskierte, Hardekopf und Rubiner wurden zu unvergessenen Kampfgenossen einer aktivistischen Zeit. Auch die Jüngsten, die 1890 Geborenen, also Ernst Blass, Arthur Drey und Franz Werfel, eroberten sich ihren Platz in diesem Parnass. (Nur Herbert Grossberger blieb als Autor des Saturn-Verlags im Hintergrund.) Georg Heym, der von allen Rezensenten des Kondor gelobte, frühverstorbene Dichter wurde schon in diesen Jahren zu einem Mythos. Und Kurt Hiller selbst? Für ihn, den unermüdlich tätigen Schriftsteller und Politiker, Aktivisten und Pazifisten, wurde die Herausgabe des Kondor ein produktives Zwischenspiel auf seinem Lebensweg: ihm kommt, wenngleich er es selbst nicht so verstanden wissen wollte, das Verdienst zu, der expressionistischen Generation durch seine literarisch-politischen Unternehmungen zum Durchbruch verholfen zu haben. Er bot den jungen Autoren ein Forum für ihr Wirken durch die Gründung literarischer Clubs und durch die Herausgabe des Kondor.
Die Hoffnung, daß der rührige Verleger Richard Weissbach der Anthologie ein Kondor-Jahrbuch anschloß, zerschlug sich. Nicht er, sondern sein Freund Ernst Blass blieb mit dem Heidelberger Verleger in Verbindung und gab bei ihm eine der bedeutendsten Zeitschriften der Zeit, die Argonauten, heraus.
Hillers Summe seiner frühen Texte, Glossen, Aufsätze und Aphorismen erschien 1913 zweibändig bei Kurt Wolff, als eine Zeit- und Streitschrift unter dem Titel Die Weisheit der Langenweile. Hier setzte er unter anderem seinen Freunden Heym und Werfel, Blass und Hardekopf, Brod und Kerr, Denkmäler und wandte sich dann neuen Aufgaben zu. Mit der Herausgabe der Ziel-Jahrbücher rief er zum „tätigen Geist“ und zu einer „geistigen Politik“ auf. Dies wurde für den streitbaren, geistreichen, enthusiastischen und unerschütterlichen Kurt Hiller eine Lebensaufgabe. In seinen Erinnerungen Leben gegen die Zeit (1969) hat unser Herausgeber, der nach der Emigration 1955 bis zu seinem Tode 1972 in Hamburg lebte, aus der Distanz und zugleich der Nähe auch die Kondor-Episode geschildert:
Ein Jahr nach meinem Eintritt in die Kriegsflotte der Litteratur gab ich (bei Richard Weissbach in Heidelberg) den Kondor heraus, 1912 also, „eine rigorose Sammlung radikaler Strophen“. Vierzehn Mitarbeiter: Blass, Max Brod, Arthur Drey, S. Friedlaender, Herbert Großberger, Hardekopf, Heym, Hiller, Kronfeld, die Lasker-Schüler, Rubiner, Schickele, Werfel und Paul Zech. Großberger ist der einzige unter ihnen, den ich persönlich nie kennen gelernt habe und über dessen Schicksal ich nicht das geringste weiß. Ich nahm seine Gedichte damals auf, ganz einfach weil sie mir gefielen. So auch die der anderen. Ich bemühte mich bei der Zusammenstellung des Ensembles, ultraobjektiv zu sein, das heißt private Sym- und Antipathien aus dem Spiel zu lassen. Zu Brod stand ich bereits einigermaßen gespalten, zur Lasker-Schüler sowieso, und ,den Menschen‘ Schickele konnte ich nicht ausstehen. Da ihre Verse etwas taugten, und zwar, gemessen am typischen Produkt der Epoche George/Hofmannsthal/Rilke, auf neuartige Weise etwas taugten, so mußten sie hinein. Nur die Verse des van Hoddis, das ging nicht. Er würde mir gar keine gegeben haben; davon abgesehen, würde meine Einladung an ihn ein penetranter Mangel an Selbstachtung gewesen sein. Natürlich ,fehl’‘ er im Kondor.
Es fehlen auch: Paul Boldt, Walter Hasenclever, Max Herrmann-Neiße, Ernst Wilhelm Lotz und Georg Trakl. Als ich den Kondor 1911 zusammenstellte, ,gab es‘ Boldt, Hasenclever, Lotz und Trakl noch nicht, und den sehr vorzüglichen Herrmann-Neiße ,gab es‘ wohl schon, aber er hatte als Lyriker seine Kraft noch nicht entfaltet, jedenfalls nicht sichtlich. Auch Gottfried Benn fehlt im Kondor, weil es ihn erst kurze Zeit später zu ,geben‘ begann; ich würde den Autor der Morgue indessen, wäre dieser Erstling schon 1911 erschienen, gleichwohl nicht aufgenommen haben; mein Nein dazu war kräftig. (Man kann es in der Weisheit der Langenweile nachlesen.) Daß Benn’s Dichtkunst später in sehr hohe Höhen stieg, soll hier so freimütig bekannt werden wie mein langer Zorn über seine scheintiefe, schiefsinnige, ästhetenhaft-egozentrische Ablehnung des humanitären Aktivismus, in unterschiedlichen Essays. Gottfried Benn – ich weiß nicht recht, wie er zu mir stand; ich, ich war durchaus sein Feind, doch ich zog den Hut vor ihm.
Der Kondor, Mai 1912, war eine Provokation; wenn seit Jahren unser Feuilletonistenvolk gewisse viel später erschienene Anthologien als initiatorisch und bahnbrechend für Expressionismus und Verwandtes hervorhebt, so bleibt gegen solche Geschichtsfälschung nur der barsche Einspruch möglich, da ja die Vergeblichkeit des Abschlagens von Hydraköpfen schon den Mythologen des alten Hellas geläufig war. Besonders die früheste dieser Sammlungen, die Pinthische, 1920, also acht Jahre nach meiner, erwies sich nicht bloß als imitativ (wobei sie natürlich ergänzte), sondern auch als arg wertspiegelsenkerisch: sie nahm von den vierzehn Kondoranern nur sechs auf, ließ beispielsweise so eminent repräsentative Gedichtschöpfer wie Blass, Brod, Drey, Hardekopf fort und füllte ihre eignen Bogen zwar zur Hälfte fraglos mit Qualität, doch zur andern Hälfte mit teilweise schaurigem Schund; nomina sunt odiosa. Odioser noch ist, daß ein Künstler vom Range Paul Boldt’s, ein ungewöhnlich könnerischer, ungewöhnlich redlicher Bekenner wie Max Herrmann-Neiße in diesem Band genauso fehlen wie die Ernst Blass und Ferdinand Hardekopf. In historischen Betrachtungen, die mehr oder minder halbseiden-nachahmerischen Anthologien ehrfurchtsvoll preisen und den Kondor verschweigen, das ist, wie wenn bei der Schilderung einer antiken Stadtbelagerung der Trupp, der die erste Bresche in die Mauer schlug, unerwähnt bleibt, während halbbetrunkene Scharen, die dann bequem durch die Bresche drangen, als Gruppen von Heroen gefeiert werden.
Das Wiedererscheinen des Kondor in vorliegender Form ist so eine späte Wiedergutmachung. Wir sollten in der Tat nicht vergessen, daß Kurt Hiller mit seiner Anthologie eine Bresche in die Steinmauer der Vorkriegsdichtung gebrochen hat.
Paul Raabe, Nachwort
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