AUGUST STRAMM
Sehnen
Die Hände strecken
Starre bebt
Erde wächst an Erde
Dein Nahen fernt
Der Schritt ertrinkt
Das Stehen jagt vorüber
Ein Blick
Hat
Ist!
Wahnnichtig
Icht!
nach 1910
Seine Domäne war der atemlose, durch Imperative, Verkürzungen und Wortballungen gehetzte Vers. Das lyrische Pathos des Expressionisten August Stramm (1874–1915) nährte sich von den literarischen Direktiven des italienischen Futuristen Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944), der die „Befreiung des Wortes“ („parole in libertà“) von der Zerstörung der Syntax und der Auflösung der vertrauten Grammatik erhoffte.
Stramms Gedichte betreiben die Aufhebung der Syntax oder ihre Neubildung in reduzierten Formen um jeden Preis. Dieses Verfahren der staccatohaften Komprimierung der Wörter und Sätze geht einher mit der Verflüssigung der Wortklassen. Intransitive werden in transitive Verben verwandelt, die kurzen Verse jagen durch Paradoxien und münden – wie in dieser vermutlich nach 1910 entstandenen verzweifelten Liebesminiatur – in Negationen des eigenen Ich: „Wahnnichtig / Icht!“
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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