BERTOLT BRECHT
Liebeslied aus einer schlechten Zeit
Wir waren miteinander nicht befreundet
Doch haben wir einander beigewohnt.
Als wir einander in den Armen lagen
Warn wir einander fremder als der Mond.
Und träfen wir uns heute auf dem Markte
Wir könnten uns um ein paar Fische schlagen:
Wir waren miteinander nicht befreundet
Als wir einander in den Armen lagen.
1954
aus: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgebe. Band 15: Gedichte 5. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1993
Die Parallelführung von Liebesbeziehungen hat Bertolt Brecht (1898-1956) zeit seines Lebens zu einer beklemmenden Meisterschaft entwickelt. Der bekennende Hedonist, der sich die Frauen nicht nur als literarische, sondern auch sexuelle Assistentinnen dienstbar zu machen wusste, eroberte gegen Ende seines Lebens die ein Vierteljahrhundert jüngere Schauspielerin Isiot Kilin (1924–1986) als letzte Geliebte. Ihr ist das um 1954 entstandene kleine „Liebeslied“ gewidmet, das primär Negationen und Ernüchterungen anbietet.
Die Entfremdung ist hier selbst in die innersten Bezirke der Intimität vorgedrungen und reduziert die Nähe zweier Liebender auf eine rein sexuelle Aktion. Die erotische Verschmelzung wird von Brecht rüde abgetan mit der sehr profanen Fügung „haben wir einander beigewohnt“. Jenseits der sexuellen Attraktionskräfte gibt es keine Verbindung von Bestand. Es gibt keine „freundschaftlichen“ Empfindungen, keine gemeinsamen Interessen, schlimmer noch: Es regiert die jederzeit aktivierbare Feindseligkeit.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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