CHRISTIAN MORGENSTERN
Täuschung
Menschen stehn vor einem Haus, – –
nein, nicht Menschen, – Bäume.
Menschen, folgert Otto draus,
sind drum nichts als – Träume.
Alles ist vielleicht nicht klar,
nichts vielleicht erklärlich,
und somit, was ist, wird, war,
schlimmstenfalls entbehrlich.
um 1900
Christian Morgenstern (1871–1914), der Meister der komischen, vertrackten Groteske, hat in seine Galgenlieder (1905) immer wieder subtile philosophische Miniaturen eingeschmuggelt. Zu welchen Einsichten einen die Trugbilder der Erscheinungswelt und die Unverlässlichkeit der visuell erfassten Phänomene treiben können, thematisiert sein Versuch über die Täuschung durch die Sinneswahrnehmung.
In acht Versen ist Morgenstern schon in einer nihilistischen Spirale gelandet – die freilich nicht in eine Verzweiflung mündet, sondern mit ironischer Leichtigkeit grundiert ist. Die zweite Strophe mit ihrer Betonung der „Unerklärlichkeiten“ lässt sich auch als Anmerkung zur sprachphilosophischen Debatte jener Jahre lesen. Denn Morgenstern kannte auch die durch Fritz Mauthners (1849–1923) Sprachphilosophie und Hugo von Hofmannsthals „Chandos“-Brief (1902) genährten Zweifel an der Angemessenheit der Sprachzeichen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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