CHRISTINE LAVANT
ICH LERNE das A und das O.
Und am Mondkelch verbiegt sich der Rand,
meine Fußsohlen atmen im Sand,
im Kornfeld verneigt sich das Stroh.
Was ich schaue, verschiebt mir die Welt
um dreimal drei Schmerzen zurück,
deinem Namen entfällt jetzt ein Stück,
das dem O seinen Umgang verstellt.
Dies richtet den Mond wieder ein,
vorbei geht der Kelch und der Trank
und das Korn steht im Wickengerank
viel steiler und glänzt wie Gebein.
Meine Sohlen ersticken im Sand
und die Handflächen falten sich zu,
an der Wurzel von meinem Verstand
nagt ein fremdes gefräßiges Du.
1950er Jahre
aus: Christine Lavant: Spindel im Mond. Otto Müller Verlag, 6. Aufl., Salzburg 2006
Das Leben der österreichischen Dichterin Christine Lavant (1915–1973) stand unter der Vormundschaft des Schmerzes. Seit ihrer frühen Kindheit litt sie unter Lungentuberkulose und Skrofulose, Schmerzdelirien und Depressionen zermürbten die tiefgläubige Poetin so sehr, dass sie ihr Hiob-Gefühl in flucherfüllte „Lästergebete“ oder rauschhafte Natur- und Mond-Lyrik umsetzte. Ihrer negativen Theologie verdanken wir ergreifende Gedichte.
Das poetische Durchbuchstabieren der Welt kommt ohne die Anrufung der zwei stärksten Mächte nicht aus: Der abwesende „Gott“ ist im Laut „O“ noch gegenwärtig, die Wahrnehmung der Natur ist ansonsten vom Schmerz geprägt, der das absolute Maß ist beim Beobachten der Welt. Das in den 1950er Jahren entstandene Gedicht ist grundiert von biblischer Motivik: Der Kelch, der „vorbei geht“, ist ebenso dem innersten Kern der Erzählung von Jesus Christus entnommen wie die sich zum Gebet faltenden Hände.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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