FRANZ XAVER KROETZ
Loreley
Ich weiß nicht
was soll es bedeuten
daß ich nicht
schreiben kann
die Lieder
aus uralten Zeiten
sind klamm
es dreht sich
das Rad der Geschichte
ich dreh mich
nur um
die andern sind
immer die Klügern
nur ich
bleib dumm
ich weiß nicht
was soll es bedeuten
daß mein Weg
eine Kreuzung ist
und das Märchen
aus uralten Zeiten
mich morgen
frißt.
1990er Jahre
aus: Franz Xaver Kroetz: Heimat Welt. Gedichte eines Lebendigen, Rotbuch Verlag, Hamburg 1996
Anlässlich seines 60. Geburtstags hat der Dramatiker und Gelegenheitsdichter Franz Xaver Kroetz (geb. 1946) in einem großen Interview eine ernüchternde Bilanz seines Lebens gezogen: „Mein ganzes Leben ist ein Selbstmordverhinderungsprogramm. Wie oft stand ich vor einer schwarzen Wand und dachte: Erschieß dich oder mach sonst was! Irgendwann geht das dann wieder vorbei.“ Wer die in den 1990er Jahren entstandenen Gedichte des Autors studiert, erhält prägnantes Anschauungsmaterial für ein Selbstporträt des Dichters als ausgebranntes Subjekt.
Die poetischen Reaktionen auf Heinrich Heines (1797–1856) berühmtes „Loreley“-Gedicht aus dem Jahr 1823 sind zahlreich. Vom „Märchen aus alten Zeiten“, das von der Jungfrau mit „goldnem Geschmeide“ handelt, die auf dem „Gipfel des Berges“ verführerische Melodien singt, ist bei Kroetz nur der melancholische Zustand des lyrischen Ich übrig geblieben. Aber die Qualität des „Traurigseins“ hat sich verändert. Bei Kroetz ist es eine selbstdestruktive Trauer, die alle Schöpferkraft vernichtet.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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