Friedrich Schillers Gedicht „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,…“

FRIEDRICH SCHILLER

Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,
Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen.
Bekümmert sich ums Ganze, wer nicht hat?
Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl?
Er muß dem Mächtigen, der ihn bezahlt,
um Brot und Stiefel seine Stimm’ verkaufen.
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen;
der Staat muß untergehn, früh oder spät,
wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.

1805

 

Konnotation

Eine blutige Tragödie aus der Geschichte des russischen Zarentums hat Friedrich Schiller (1759–1805) in den Mittelpunkt seines Fragment gebliebenen Dramas Demetrius oder die Bluthochzeit zu Moskau (1805) gestellt. Ein entlaufener Mönch aus Litauen wird 1601 irrtümlich als der letzte legitime Nachkomme Ivans des Schrecklichen identifiziert und nach dem Sturz des Despoten Boris Godunov auf den Zarenthron gehoben. Diesem zwielichtigen „falschen Zaren“ legt Schiller harsche Worte gegen das Prinzip der Demokratie, die Mehrheitsentscheidung, in den Mund.
Der soeben noch von der Volksbegeisterung auf den Thron gehobene Demetrius wird schon wenige Monate nach seiner Machtergreifung 1606 ermordet. Aber seine Worte gegen „die Mehrheit“ und sein insistieren auf der Herrschaft der Wenigen wiegen schwer. Die blutigen Exzesse der Französischen Revolution hatten den Freiheitsdichter mit tiefer Skepsis gegen den Demokratie-Gedanken erfüllt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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