Georg Trakls Gedicht „In den Nachmittag geflüstert“

GEORG TRAKL

In den Nachmittag geflüstert

Sonne, herbstlich dünn und zag,
Und das Obst fällt von den Bäumen.
Stille wohnt in blauen Räumen
Einen langen Nachmittag.

Sterbeklänge von Metall;
Und ein weißes Tier bricht nieder.
Brauner Mädchen rauhe Lieder
Sind verweht im Blätterfall.

Stirne Gottes Farben träumt,
Spürt des Wahnsinns sanfte Flügel.
Schatten drehen sich am Hügel
Von Verwesung schwarz umsäumt.

Dämmerung von Ruh und Wein;
Traurige Guitarren rinnen.
Und zur milden Lampe drinnen
Kehrst du wie im Traume ein.

1912

 

Konnotation

Ein Großteil der Poesie des österreichischen Dichters und „Medikamentenakzessisten“ Georg Trakl (1887–1914) besteht aus suggestiv geformten „Sterbeklängen“. Und auch sein 1912 geschriebenes Herbstbild durchweht jene hypnotische Todes-Melodie, die auf einer eigentümlichen Farbenmystik und omnipräsenten Schreckensvisionen beruht.
Der „Farbentraum“ des Dichters führt in innere Bezirke, in halluzinatorische Phantasmagorien. Aus der Stille eines Herbsttags steigen plötzlich rätselhafte Figuren hervor: ein „braunes Mädchen“, ein „weißes Tier“ und schließlich die „Stirne Gottes“. Die letzte Strophe hat etwas Beschwichtigendes: Der drohende „Wahnsinn“ wird offenbar von einem häuslichen Idyll abgewehrt. Aber „Ruh und Wein“ und eine „milde Lampe“ vermochten die allumfassende Traurigkeit des Dichters und Drogenessers Georg Trakl nicht zu verscheuchen. Am 3. November 1914 stirbt er an einer Überdosis Kokain.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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