GÜNTER KUNERT
Diagnose
Bei dir bin ich ein Weißnichtwer.
Die Spiegel täuschen und es lügt
die eigne Stimme. Was mich betrügt,
ist gar mein Selbst, von Inhalt leer.
Bin süchtig nach der Sicherheit
verleibter Stunden, nach gewohnter Hand,
nach einem Vatermutterliebesland,
nach einem Dasein ohne Zeit,
nach etwas Glück aus reinem Leid.
2003/2004
aus: Günter Kunert: Ohne Botschaft. zu Klampen Verlag, Springe 2005
„Machen Sie sich bitte um Kunert gar keinen Kopp“, hat seine Dichterkollegin Sarah Kirsch (Jg. 1935) über ihn gesagt, „wenn seine Exkurse und Alexandriner auch so gänzlich hoffnungslos scheinen, führt er ein geselliges Leben und reist mit Marianne und den eigenen Pferden.“ In einer späten Selbsterkundung des 1929 geborenen Dichters, entstanden 2003/2004, scheint es aber gar keine verlässlichen Haltepunkte im Heillosen mehr zu geben.
Die eingeborene Skepsis des Dichters Kunert verschont auch das eigene Ich nicht. Bei der selbstkritischen Prüfung der konstituierenden Elemente des Ich wird die eigene Identität fragwürdig: „und es lügt / die eigne Stimme.“ Das „Vatermutterliebesland“ ist Kunert erstmals 1979 abhanden gekommen, als er nach vermehrten Schikanen die DDR verließ und in die schleswig-holsteinische Provinz übersiedelte. Nach über 25 Jahren in der Bundesrepublik ist auch hier das Dasein ins Wanken geraten. Und die Sehnsucht ist bescheiden geworden: es genügen ein paar Augenblicke der Intimität – „verleibte Stunden“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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