HANS ARP
Gleich nach seiner Geburt kam er auf mich zu.
Er war noch ganz rot und naß der gute Kleine.
Zuerst versuchte er zitternd und erregt
an mir hinaufzuklettern
dann blickte und blickte er um sich
und erblickte schmatzend und gierig
das schwarze Licht der Welt.
Er rüttelte an mir und schrie
wie ein wildes Trunkenböldchen
Pudelnackt ohne Hut und Stock
wollte er mich fortzerren
in die ungeheuerliche lärmende Hölle
in die komfortable falsche Wirklichkeit.
1951/52
aus: Hans Arp: Gesammelte Gedichte. Bd. 1.2. Arche Verlag, Zürich 1974
Von der übermütigen Leichtigkeit und Absurdität seiner frühen Dada-Zeit hat sich der große elsässische Maler und Dichter Hans Arp (1886–1966) in seinen späten Werken ziemlich weit entfernt. Der lyrische Fabelsinn und die närrische Witz verschwanden allmählich, die früher verhüllte Melancholie trat immer stärker ins Zentrum. Arp war schon 65 Jahre alt, als sein Zyklus „Blatt um Feder um Blatt“ (1951/52) entstand, in dem auch die irritierende Begegnung mit einem Neugeborenen zu finden ist.
Da ist noch immer eine wilde Phantastik, die dafür sorgt, dass Arps Gedicht nicht mit pragmatischen und realistischen Kategorien zu fassen ist. Aber es ist eine düstere Phantasie, die hier den neugeborenen Menschen der „ungeheuerlichen lärmenden Hölle“ der Wirklichkeit aussetzt. Der neue Mensch ist „ein wildes Trunkenböldchen“, dessen künftige Regentschaft wenig Gutes ahnen lässt. Zuerst veröffentlicht wurde der Zyklus im Band Wortträume und schwarze Sterne (1953).
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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