HANS CARL ARTMANN
VOR SEINER HÜTT IM LAUBWALD STEHT
der anachoret;
die sonn berührt den horizont,
die wetterfront,
will schon zu bett.
es tiriliert der vögel schar
ganz wunderbar,
der kläusner hängt den baß dazu,
auf ich und du,
mit haut und haar.
wohl dem, der so den tag verbringt,
wenns ihm gelingt,
und parallel mit fink und star,
sein credo singt.
1975
aus: Hans Carl Artmann: Sämtliche Gedichte. Hrsg. von Klaus Reichert. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2003
Der große Wiener Verwandlungskünstler, Sprachnomade und Wörtersammler H.C. Artmann (1921–2000) hat in seinem Opus Magnum Aus meiner Botanisiertrommel (1975) die unterschiedlichsten Tonlagen und Sprechrollen durchprobiert. Er agiert als Erforscher exotischer Regionen, spricht als Barockdichter und irischer Barde in Personalunion, als Wiener Vorstadtpoet und polternder Husar. In einem seiner „Lieder“ nach der Art Heinrich Heines (1797–1856) werden die Sprachregister gemischt – das mystisch-Religiöse mit der Schlichtheit des Volkslieds.
Artmann ist es aber nicht unbedingt an einer Synthesis von hohen und niedrigen Stilformen (von „stilus sublimis“ und „stilus humilis“) gelegen, sondern an der Ironisierung und Aushebelung jedweder Emphase. So erscheint hier der mystische Mönch, der Anachoret, in einem eher banalen Kerntext. Was in diesem Gedicht eine religiöse Aura besitzt, verfällt gleich der Komik.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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