Hans Magnus Enzensbergers Gedicht „Die Zerknirschung“

HANS MAGNUS ENZENSBERGER

Die Zerknirschung

Schlimm genug, was wir uns alles geleistet haben:
versäumt, Tante Olga im Altersheim zu besuchen,
unkeusche Gedanken gehegt, Steine geworfen,
Konjunktiv eins und zwei verwechselt,
Neger Neger genannt, Zeche geprellt,
Maikäfer in Zigarrenkisten gesperrt,
Freunde angeschmiert, Frauen verlassen –

ganz abgesehen von den wirklich unverzeihlichen Sachen,
die zu gestehen jedoch zu weit führen würde.

Daß es einst von uns heißen würde,
Gott dem Allmächtigen habe es gefallen,
uns zu sich heimzurufen,

wäre vielleicht übertrieben.

2009

aus: Hans Magnus Enzensberger: Rebus. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2009

 

Konnotation

Die Lieblingsrolle des Dichters Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) war immer die des gelenkigen Skeptikers, der aus seiner politischen Unberechenbarkeit ästhetische Funken zu schlagen weiß. Sein Lebensprogramm stand auf einem Zettel, der in einem Zimmer des Suhrkamp-Lektorats hing: „Geduld und Ironie sind unsere stärksten Waffen.“ Als seine linken Freunde 1968 ernst machen wollten mit der Revolution, gab er den Luftikus und entwischte als „Fliegender Robert“ allen Ansprüchen des erhitzten Weltgeists. Poetische Retrospektiven geraten ihm seither zu ironischen Schuldbekenntnissen.
Enzensbergers Ich schlüpft in die Rolle eines Beicht- und Bußfertigen, der aber nur eine Liste mit lässlichen, ja harmlosen „Sünden“ als Grund seiner „Zerknirschung“ vorlegt. Stilistische Fehler und kindliche Grausamkeiten werden dabei mit moralischen Vergehen gleichgesetzt. Der Lebensbilanz wird jedes Pathos entzogen. Die durch und durch ironische Confessio kennt nur eine Gewissheit: dass das Ich mit einer Absolution im christlichen Sinne nicht rechnen kann.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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