HANS THILL
Die Mütze
Auf meinem Bauch’ trocknet die Wäsche eines italienischen Hotels,
zwei Finger nähen Handpuppen in Hongkong, die Nase
arbeitet als Briefbeschwerer bei den Vereinten Nationen.
Meine Ohren habe ich an eine Kellerei vermietet,
selten dringt ein Schrei herauf, zwei Augen sind auf Spätschicht,
mein Arsch spielt den Mörder in der Vierten
Internationale.
Ein Ellbogen ist Mitglied zahlreicher Bürgerinitiativen.
Die Wirbelsäule wohnt im Naturkundemuseum. Auf dem Kopf
sitzt eine Mütze, die heißt Thill.
1985
aus: Hans Thill: Gelächter. Sirenen. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 1985
„Immer n bisschen extrem / son Poem“: Ausgehend von dieser Sentenz des französischen Sprachanarchisten Raymond Queneau hat der 1954 geborene Lyriker Hans Thill seine Poetik der Überraschung immer weiter verfeinert. Seine frühen Gedichte sind noch sehr beeinflusst von den Sprachgesten und Kapriolen des französischen Surrealismus. Hier präsentiert sich ein Dichter, der mit seinen originellen Bildfindungen sich selbst und seinen Lesern zuruft: Bitte „schön unregelmäßig schreiben“!
Von welchen Ambivalenzen und Widersprüchen dieser Dichter belagert wird, erhellt ein 1985 erstmals publiziertes Gedicht, das die Aufgaben eines Subjekts an viele unterschiedliche Körperglieder delegiert. Am Ende ist es dann eine profane Kopfbedeckung, die den Platz des ich einnimmt. Dass „Ich ein anderer ist“ – diesen Glaubenssatz der lyrischen Moderne haben nur wenige Dichter so ironisch elegant und so beiläufig bebildert wie Hans Thill.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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