HARALD HARTUNG
Mutter
Dein letzter Wunsch die neue Uhr
ein Wecker (für die Zeit danach)
Er fiel dir zu Boden er ging weiter
So geht die Zeit ohne dich
1990er Jahre
aus: Harald Hartung: Aktennotiz meines Engels. Gedichte 1957–2004. Wallstein Verlag, Göttingen 2004
Die Zeit ist menschlichem Zugriff nicht verfügbar. Man kann sie zwar mit entsprechenden Parametern messen und einteilen. Nach ihrem Takt können auch industrielle Produktionsweisen strukturiert werden. Aber das Zeit-Vergehen ist nicht aufhaltbar. Daher hat Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) zu Recht formuliert: „Die Zeit… ist das wichtigste aller Luxusgüter.“ Auch in der berührenden Miniatur des Dichters und Literaturkritikers Harald Hartung (geb. 1932) ist die Zeit eine knappe Ressource.
Die schöne lakonische Reminiszenz des Dichters an die eigene Mutter, deren Lebens-Zeit schwindet und deren Verrinnen auch nicht durch die Apparatur eines Zeit-Messers aufgehalten werden kann, erweitert in einer paradoxen Pointe den Zeitbegriff. Denn der Wunsch der Sterbenden nach einer Uhr evoziert ein metaphysisches Bedürfnis: Es möge doch eine „Zeit danach“ geben, eine Messgröße für das Dasein nach dem Tod, obwohl nach dem Erlöschen des Lebens alle physikalischen Zeit-Dimensionen hinfällig sind. Nur für die noch Lebenden gibt es weiter die Objektivität der verstreichenden Zeit.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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