HERMANN HESSE
Weil ich dich liebe
Weil ich dich liebe, bin ich des Nachts
So wild und flüsternd zu dir gekommen,
Und daß du mich nimmer vergessen kannst,
Hab ich deine Seele mit mir genommen.
Sie ist nun bei mir und gehört mir ganz
Im Guten und auch im Bösen;
Von meiner wilden, brennenden Liebe
kann dich kein Engel erlösen.
1930er Jahre
aus: Hermann Hesse: Die Gedichte. 1892–1962. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1977
Die Liebe als Passion verwirklicht nicht immer die absolute Hingabe des Ich an ein Du. Eine altruistische Balance zwischen den von der Liebe Ergriffenen gibt es eher selten. Sie ist viel häufiger eine egoistische Besitzergreifung, die sich selbst das Recht auf den Raub der Seele des Anderen attestiert. In Hermann Hesses (1877–1962) Gedicht vollzieht der Liebende trotz bester Absichten diesen Raub, der das Objekt der Liebe in einen Status ewiger Abhängigkeit bringen soll. Dieses viel zitierte Hesse-Gedicht propagiert geradezu die Vereinnahmung des Du.
Der „wilde“ Liebende Hesses glaubt sich legitimiert zur Aneignung der Geliebten – und sei es um den Preis der ewigen Unerlöstheit des Du. Trotz der eher prekären Botschaften dieses Gedichts nimmt es im Ranking der Lyrik- und Hesse-Liebhaber einen vorderen Platz ein. Denn die poetischen Topoi und metaphorischen Standards der Liebe werden hier so raffiniert gebündelt, dass man über das zugrunde liegende Evangelium des Egoismus großzügig hinwegsieht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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