Ilse Aichingers Gedicht „Alter Blick“

ILSE AICHINGER

Alter Blick

Ich habe mich gewöhnt an dieses Fenster
und daß der Schnee durch meine Augen fällt,
aber wer ist den Verlorenen nachgegangen
durch das offene Gartentor,
wer besiegelte, was da war,
die Regentonne,
und den Mond als Mond,
alle gefrorenen Gräser?
Wer schaukelte vor dem Morgen,
daß die Stricke krachten,
wer legt die Wachshand auf das Küchenfenster,
ließ sich im Weißen nieder
und nahm mich selber auf?

nach 1970

aus: Ilse Aichinger: Verschenkter Rat. Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1978

 

Konnotation

Die 1921 in Wien geborene Ilse Aichinger kann auf eine lange Karriere als Autorin zurückblicken. Bemerkenswert ist die Distanz und Nüchternheit mit der Aichinger ihr eigenes Schreiben betreibt: „Wenn mir zwei oder drei Sätze gelingen, dann habe ich das Gefühl, meine Existenz wäre nicht völlig absurd, als bliebe noch ein Funken Sinn übrig.“ Diese Skrupel lassen sich als Konstituens des Aichinger-Werks ausmachen, sie scheinen die zunehmende Verknappung des Stils vorauszusetzen.
Das Auge als Fenster zur Welt und Öffnung nach innen taucht hier anhand verschiedener Zeichen auf und erzeugt ein Geflecht aus Beziehungen. Dabei wirkt der einen Rückblick suggerierende Titel trügerisch. Nicht die Retrospektive durch verschiedene Öffnungen, in die Vergangenheit anzeigende Zeichen, scheint das Gedicht zu betreiben, vielmehr scheinen „Fenster“, „Auge“, „Gartentor“ und „Weiße“ einen sprachlichen Ort zu konstituieren, an dem Erfahrung sich von konkreten biographischen Details löst und zu etwas der Autorin Fremden wird.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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