JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
März
Es ist ein Schnee gefallen,
Denn es ist noch nicht Zeit,
Dass von den Blümlein allen,
Dass von den Blümlein allen
Wir werden hoch erfreut.
Der Sonnenblick betrüget
Mit mildem, falschem Schein,
Die Schwalbe selber lüget,
Die Schwalbe selber lüget,
Warum? Sie kommt allein.
Sollt ich mich einzeln freuen,
Wenn auch der Frühling nah?
Doch kommen wir zu zweien,
Doch kommen wir zu zweien,
Gleich ist der Sommer da.
1817
Der Vorfrühling, der sich in diesem Gedicht Goethes (1749–1832) ankündigt, ist eine trügerische, ja tückische Erscheinung. Als der fast siebzigjährige Dichter 1817 an die Niederschrift seines Gedichts geht, liegt eine Zeit des Schreckens hinter ihm. So kann sich die freudige Erwartung, die mit der Ankunft des Frühlings verbunden ist, nicht einstellen.
Goethes Lebensgefährtin Christiane Vulpius, mit der er seit 1788 zusammenlebte und die er erst 1806 geheiratet hatte, war im Juni 1816 gestorben. In seinem hoffnungsfrohen Gedicht „Frühling übers Jahr“ hatte er in ihrem letzten Lebensjahr den Farben und der Blumenpracht der erwachenden Natur noch gehuldigt. So idyllisierend nun ein Wort wie „Blümlein“ auch daherkommt: ein anmutiges März-Gedicht kann Goethe in diesem Lebensaugenblick 1817 nicht mehr schreiben. Die Sonne wird als Betrügerin angeklagt, ein Vogel sogar als Lügner denunziert. Die Zeiten, da „zu zweien“ der Sommer erwartet werden konnte, sind unwiderruflich vorbei.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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